Deutschland Einleitung
Deutschland
»Von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein« (Bert Brecht)
Deutschland ist verkehrstechnisch perfekt erschlossen. Zwischen den Städten pendeln Flugzeuge, die Autobahnen gelten als die besten der Welt und die gute Infrastruktur bindet selbst abgelegene Orte und Plätze ein. Doch ist Deutschland überall gleich? Wer von Berlin nach Düsseldorf fliegt, von Köln nach München oder von Leipzig nach Frankfurt – nur je eine Stunde – fragt sich schon manchmal: Sind das alles deutsche Städte? Zwischen Hamburg und Stuttgart etwa gibt es erhebliche Unterschiede: dialektal, mental, in der regionalen Folklore und in der Geschichte. Zwischen der stolzen Hanse-Vergangenheit des Nordens und der krachledernen Brauchtumspflege im Bayerischen liegen geistige Welten. Der Franke erlebt seine Region als so herzlichrau, bier-, wurst- und senfselig, dass er kaum Lust aufbringt, nach Usedom an der polnischen Grenze zu fahren – es sei denn er ist FKK-Fan. Der Sachse dagegen und noch mehr der Anhaltiner hat zu Hause eigentlich auch alles, was er zum guten Leben braucht, ist aber unruhig, rastlos, weltversessen und hat deshalb in Leipzig einen überdimensionierten Flughafen mit Verbindungen zu allen Kontinenten gebaut. Der Mecklenburger empfindet das oberbayerische Diandl als etwas Exotisches und der Badener gerät ins Staunen, hört er eine nordische Deern Platt snacken. Ganz zu schweigen von den Regionalküchen, die sich stark unterscheiden. Und auch in den Konfessionen sind sich die Deutschen keineswegs einig: Der nordöstliche Teil ist überwiegend protestantisch, der südwestliche katholisch. Man leistet sich jedoch konfessionelle Einsprengsel: Im lutherischen Thüringen liegt das stramm katholische Eichsfeld als Enklave, in Schwaben gibt es die meisten christlichen Sonderkirchen und Sekten.
Unvergleichlich und weltweit einzigartig – das Kölner Stadtpanorama mit dem Dom
Deutschlands Tor zur Welt: der Hamburger Hafen
Deutschland wird zwar regiert als Nationalstaat, ist aber ein lockerer Verbund verwandter Völker, ein Land des ausgeprägten Regionalismus, das sich zwar in seiner Hauptstadt eine proper ausgestattete Regierung mit einem riesigen Parlament leistet – aber wehe, Berlin redet den Hessen in die Schulpolitik rein oder will Baden-Württemberg dazu nötigen, noch mehr Subventions- und Fördergelder nach Mecklenburg-Vorpommern umzuschichten. Dann gibt es regelmäßig – sozusagen ein politischer Pawlowscher Reflex – Krach!
Erinnert an die Schiffe der Hanse: Wandschmuck im Stralsunder Hafen
Deutschland hat 16 Bundesländer und dort werden 5000 verschiedene Würste und Wurstsorten hergestellt … Es ist die Vielfalt, die das Land der Stämme auszeichnet mit den Frohgemüter aus dem Rheinland, den Grüblern von der Nordsee, den Tüftlern und Grantlern in den Ländern mit einem »Sachsen« im Namen oder den schwäbischprotestantischen Schaffern.
»Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?«, formulierte einst Goethe, der Nationaldichter aller Deutschen. Ist er das wirklich? Im überwiegenden Teil des Landes schon, an jedem Gymnasium wird der »Faust« durchgenommen. Während die Mitteldeutschen aber auf den gebürtigen Hessen und gelernten Thüringer, der am liebsten ein Italiener gewesen wäre, stolz sind, begegnen ihm die Süddeutschen skeptischer. War Goethe nicht doch zu grüblerisch und gelehrt, also fast schon norddeutsch? Wieso hat er sich in Erfurt mit Napoleon getroffen, den er sogar bewunderte? Und warum hat dieser Lustgreis sich mit über siebzig in Marienbad in eine Neunzehnjährige verguckt und sogar um ihre Hand angehalten, anstatt gemächlich zu kuren? Ja ja, der Goethe!
Leuchtend gelbe, duftende Rapsfelder in Hessen
Die Vielfalt der Menschen und Mentalitäten trifft auch auf die deutsche Landschaft zu. Wer von Warschau nach Wladiwostok mit dem Zug fährt, wozu er mindestens sieben Tage braucht, erlebt vor dem Zugfenster ausschließlich landschaftliche Monotonie. Von Mittelosteuropa bis vor die Tore Japans ist es mal flach, mal hügelig, die Städte sehen alle gleich aus, die Trabantenstädte noch gleicher, und nicht mal beim Essen gibt es besondere regionale Unterschiede. Immer Borschtsch, Pelmeni und Piroggen.
Roter Klatschmohn säumt Felder und Wegraine in Brandenburg
In Deutschland dagegen kann man in sieben Tagen eine Weltreise unternehmen. Sie führt von der sturmgezausten Nord- oder Ostsee über die in Nebel und Melancholie getauchte norddeutsche Tiefebene, durch karge Heidelandschaften oder brandenburgische Birken- und Kiefernwälder, führt an mächtigen Strömen mit idyllischen Weinbergen vorbei, durch dunkle Tannenforste und bis auf hohe Alpenberge. Und dazwischen rangeln die Städte um die Gunst der Touristen, mehr als hundert davon gibt es hierzulande; gemeint sind größere Städte mit mindestens 50 000 Einwohnern. Sie haben Gotik und Renaissance, Dome und Marktplätze, im unmittelbaren Umfeld finden sich Schlösser und meist auch etwas Ritterburgenromantik, Abteien und geschmückte Dörfer mit Höfen, Mühlen und Fachwerkhäusern. Vielfalt allerorten. Zudem kann Deutschland im Auto, per Bahn oder auf dem Fahrrad, im Boot oder zu Pferde, aber auch per pedes erkundet werden.
Es gilt erst seit einigen Jahren als hip, in Deutschland zu reisen, sich die Regionen mit ihren Attraktionen und Spezialitäten zu erschließen und von dem Land zu schwärmen. Zwei verdruckste Nachkriegsgenerationen waren dazu nicht locker genug und behaupteten immer, die Berge in Österreich seien schöner als die in Bayern, das Meer nirgendwo so türkis wie vor Rimini und auf Mallorca sei sowieso immer Sommer. Allmählich setzt sich unter den Deutschen, die weniger an der Last des Zweiten Weltkriegs tragen müssen und die es als Nation nicht mehr so oft nach Analyse und Vergebung von Fremden verlangt, die Erkenntnis durch, die einer ihrer Dichter, Johann Gottfried Herder, schon vor mehr als 200 Jahren preisgab: »Heimat ist, wo man sich nicht erklären muss.«
Typisch für die Ostseeküste: reetgedeckte Häuser
Ausländische Besucher dagegen, die immer häufiger zu uns kommen, können genau benennen, was sie an Deutschland schätzen. In seinem eigensinnigen Geschichtsbuch »Germany, oh Germany« legt der Brite Simon Winder in überraschender Klarheit dar: Wer die deutsche Geschichte nicht nur als Ouvertüre zu Hitler und dem Nazi-Größenwahn verengt, entdeckt, dass sie zu den faszinierendsten Geschichten Europas gehört. Der Autor, ein intimer Deutschlandkenner, hat ausgedehnte Sightseeing-Touren durch das Land unternommen, pompöse Scheußlichkeiten gesehen, aber auch den »allerschönsten Raum der Welt«, den Vogelsaal des Bamberger Naturkundemuseums. Er hat sich in das altdeutsche Duodez-Erbe vertieft und präsentiert seitenweise originelle, bisweilen bizarre Herrscherfiguren der deutschen Geschichte, die viele gar nicht (mehr) kennen. Erst vom dahergereisten Engländer erfahren manche Deutsche, dass es sich bei Siegfried nicht um einen Schmuddelgermanen handelt und Sachsen womöglich – wegen der Wirtschaft – ausschlaggebender für die deutsche Entwicklung war als das militärische Preußen. Aus dem Puzzle verschiedener Fürstentümer, einer entsetzlichen Kleinstaaterei mit Zöllen, Beschränkungen und blasiertem Beamtentum, ist tatsächlich ein Nationalstaat geworden, der dies aber nicht von ganzem Herzen sein will. Das längst Vollendete wird ständig unterminiert mit Zweifeln, mit Klagen, sogar leichtem Hohn – wenn das nicht witzig ist.
Im Aufwind: der Fährverkehr nach Skandinavien ab Kiel
Wallfahrtskirche Maria Gern oberhalb von Berchtesgaden
Ein Klassiker unter den deutschen Alpenblumen ist der Enzian
Eines steht fest: Deutschland ist schön. Wer im Dämmerlicht des Morgens den von der Sonne goldgesprenkelten Großen Feldberg im Taunus sieht und von seinem Gipfel aus die imposante Skyline von Frankfurt am Main (von Spöttern auch Houston bei Offenbach genannt), den ergreift ein sakrales Gefühl. Diese Empfindungen lösen auch die verschachtelten Terrassen des Kaiserstuhls nahe dem badischen Freiburg aus. Die kilometerlangen Baumparaden an Flüssen – etwa entlang der Werra nördlich von Eisenach –, die Kirschblüte im Wetteraukreis, die Kreidefelsen auf der Insel Rügen und der wunderbar von Altbauten eingefasste Marktplatz von Tübingen.
Bulle und Bär vor der Frankfurter Wertpapierbörse
Gerade bei Nacht übt die Frankfurter Skyline eine besondere Faszination aus
Leuchtturm Westerheversand, Wahrzeichen der Eiderstedt-Halbinsel
Andacht halten vor majestätischer Natur, das ist auch am Nordfriesischen Wattenmeer mit seinen Leuchtfeuern auf den Inseln angemessen, mit seinem Muschelwerk, dem Bernstein und den versunkenen Schiffen mitsamt der Seemannsgeschichte und der Piraterie. Begeisterung entwickelt sich beim Anblick der Plön in der Holsteinischen Schweiz, einer von Seen flankierten, prallgrünen Landzunge, der herzförmigen Insel Poel vor Wismar und auf den Märchenwegen von Spessart, Odenwald und Nordhessen.
Storchennest bei Neu - ruppin in Brandenburg
Der Kyffhäuser mit dem Barbarossa-Denkmal ist ein deutscher Sagenort, der Brocken im...