2. Einführung
Zum Zeitpunkt der Neuausgabe dieses Buches (2003) jährt sich zum fünfzigsten Mal die bahnbrechende Entdeckung der Doppelhelix-Struktur des Erbguts, der DNA (engl. deoxyribo nucleic acid Desoxyribonucleinsäure), durch Crick und Watson.1 In diesen fünfzig Jahren sind ungeheuere Fortschritte speziell in der Molekularbiologie gemacht worden, zum allgemeinen Nutzen nachgeordneter Disziplinen wie der Medizin. Waren es vordem noch die großartigen Erkenntnisse der modernen Physik und Chemie, die unsere Sicht auf die Welt von Grund auf veränderten, so ziehen uns seither nicht minder die Forschungsergebnisse der Biologie in ihren Bann, nicht zuletzt deswegen, weil sie uns emotional mehr zu bewegen in der Lage sind als neue Einsichten z.B. bei Superstringtheorien oder parallelen Universen, so beeindruckend diese auch sind. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Physik eindeutig die führende Wissenschaft war, so ist man sich darin einig, daß in der zweiten Hälfte die Biologie ihr diesen Rang abgelaufen und diese Dominanz heute eher noch zugenommen hat. Moderne Physik und Chemie haben unser Weltbild von Grund auf verändert, die moderne Biologie und Medizin verändern jetzt unser Menschenbild.
Was ist Leben, wie ist es entstanden, wie funktioniert unser Organismus, und weiter: was ist Geist, gibt es eine Seele, wie ist unser Gehirn organisiert, was ist Bewußtsein und freier Wille – das alles sind Fragen, die unmittelbar jeden von uns berühren und deren Antworten uns nicht gleichgültig sein können, werden sie doch eher früher als später ganz fundamental unsere sozialen und ethisch-moralischen Wertvorstellungen erschüttern. Die Humanmedizin ist davon in ganz besonderer Weise betroffen, denkt man nur an die Debatten über Präimplantations-Diagnostik, Stammzellgewinnung, aktive Sterbehilfe, Gentherapie, Klonen, Schuldbegriff im Strafrecht angesichts neuerer Ergebnisse der Hirnforschung, um nur wenige aktuelle Beispiele zu nennen, die fast täglich in den Medien Schlagzeilen machen. Große Hoffnungen setzt man ferner in bahnbrechende Neuerungen bei der Bekämpfung unterschiedlicher, heute noch nicht zu kurierender Krankheiten, seien es Infektionskrankheiten, Erbkrankheiten – oder Krebs.
Die Medizin konnte von den großen Fortschritten in der Cytologie (wissenschaftliche Erforschung der Zellen) enorm profitieren und dennoch sind die dominierenden Behandlungsmethoden bei Krebs, nach allgemeinem laienhaften Verständnis ja eine bösartige Entartung von Zellen, die sogenannten Primärtherapien, also Operation, Bestrahlung und Chemotherapie. Muten diese Vorgehensweisen nicht eher „mechanistisch“ an? Der Mensch eine Maschine, die man einfach repariert? Das ähnelt dem Entfernen eines defekten Teils (Tumor) am Motor (Organismus), um das Auto (Mensch) wieder flott zu machen. Jedenfalls wird der Mensch oft wie eine Maschine behandelt, was um so absurder erscheint, als ein menschlicher – auch tierischer – Organismus, ja sogar schon ein Einzeller jede bisher vom Menschen erschaffene Apparatur einschließlich der schnellsten Computer oder der kleinsten Nanomaschinen an Komplexität, Originalität, Eleganz oder Vollkommenheit bei weitem übertrifft. Gewiß, die Evolution hatte Jahrmillionen an Zeit zur Verfügung; gemessen an solchen Maßstäben ist der Zeitaufwand, den die moderne Wissenschaft in die Forschung bisher investierte, verschwindend gering – wir stehen gerade erst am Anfang beim Verständnis der Entwicklungsschritte und der vielfältigen Ausprägungen des Lebendigen.
Die ältesten Fossilien – Cyanobakterien, Mikroorganismen mit prokaryontischem Zellaufbau, die Photosynthese ausführen, also unter Freisetzung von Sauerstoff – sind etwa 3,5 Milliarden Jahre alt. Es dauerte beinahe zwei Milliarden Jahre, bis die ersten wirklichen Zellen mit Kern – Eukaryonten – entstanden sind, von denen wir alle abstammen.2
Die Anfänge der wissenschaftlichen Revolution, eingeleitet mit der Kopernikanischen Wende, liegen nur etwa 500 Jahre zurück. Es war kein gerader Weg bis heute. Was zunächst mit der Mechanisierung des Weltbildes3 begann und mit den Namen Kopernikus, Galilei und vor allem Descartes und Newton verbunden ist, fand zunächst viele Befürworter. Descartes ging zwar noch nicht so weit, dem Menschen eine Seele abzusprechen, jedoch schon Tiere waren für ihn bloß noch Automaten. Später sollte der Cartesianismus mit Julien Offray de La Mettries L’homme machine (1749) seinen Höhepunkt erreichen. Doch traten Gegner auf den Plan, die sich mit mechanistischen Erklärungen nicht abfinden konnten. Es entwickelte sich schon frühzeitig im 17. Jahrhundert der Vitalismus, der Glaube, daß „Lebewesen über eine besondere Lebenskraft oder Lebenssubstanz verfügen, die der unbelebten Materie fehlt“.2 Man war zwar nicht in der Lage, diese Lebenskraft zu analysieren, doch man bestand entschieden auf einem grundlegenden Unterschied zwischen unbelebter Materie und lebenden Organismen. Der Vitalismus wurde schließlich überwunden durch den Darwinismus mit seinen Prinzipien von Variation und natürlicher Selektion (Charles Darwin, Entstehung der Arten, 1859) und die moderne Genetik und ihr Konzept des genetischen Programms. Leben als ein sich selbst organisierender Prozeß benötigt zur Erklärung keine besondere Lebenskraft. Die Biologie ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich zwei antagonistische Betrachtungsweisen versöhnen lassen, die beide für sich alleine genommen nicht ausreichen, das Phänomen Leben zu erklären. Gemeint sind insbesondere Reduktionismus und Holismus. Der Reduktionismus, nach dem komplexe Phänomene auch der belebten Welt auf ihre kleinsten Bestandteile reduziert werden und deren Kenntnis dann alleine schon genügen soll, um höhere Integrationsebenen jener komplexen Systeme erklären zu können, führte zwar auch in der Biologie zu großen Erfolgen (die Zelle als Einheit alles Lebendigen, die universelle molekulare Struktur der DNA usw.), konnte aber das Lebendige selbst nicht erklären, weder im Einzeller noch gar in höheren Lebensformen. Auf dem Weg zu immer kleineren Bestandteilen auf immer tieferen Ebenen schien etwas verlorenzugehen. Die holistische (ganzheitliche) Sichtweise andererseits bringt uns der Lösung der Probleme auch nicht näher. Das „Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile“ klang immer ein wenig metaphysisch. Heute weiß man, daß „in einem strukturierten System auf höheren Integrationsebenen neue Eigenschaften entstehen, die sich nicht aus der Kenntnis der Bestandteile niedrigerer Ebenen ableiten lassen“.2 Man spricht auch von emergierenden Eigenschaften bzw. von Emergenz, der nichts Metaphysisches mehr anhaftet. Ich werde später auf diesen wichtigen Gedanken zurückkommen.
Es soll hier aber keineswegs einer all zu simplen Betrachtungsweise Vorschub geleistet werden; Leben ist hochkomplex, insbesondere gibt es wohl kein komplexeres System als das lebende menschliche Gehirn mit seinen etwa einhundert Milliarden Neuronen, die einzeln tausendfach vernetzt sind. Es sei lediglich hervorgehoben, daß zumindest im Prinzip ein Verständnis des Lebendigen erreicht werden kann.
Doch zurück zum eigentlichen Thema. Die äußerst komprimierte Abschweifung in die Entwicklungsgeschichte der Biologie, der Wissenschaft vom Leben, erschien mir notwendig, um dem Leser meinen Standpunkt näherzubringen. Die vorgestellte Hypothese zur Krebsentstehung (Karzinogenese) verfolgt keinen alternativen Ansatz in dem modischen Sinne, wie das zuweilen verstanden wird: losgelöst von der Schulmedizin und jenseits wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse. Es geht nicht um Außenseitermedizin. Im Gegenteil. Ich versuche, dem Leser ein Verständnis biologisch-medizinischer Zusammenhänge zu vermitteln – wie definiert sich Gesundheit und Krankheit beim Menschen und insbesondere, mit Blick auf das so gefürchtete Leiden Krebs, wie entsteht die Krankheit, wie entstehen maligne Tumore und – wenn man die Entstehungsgeschichte verstanden hat – wie kann man dieses Verständnis umsetzen in eine Therapie, die ansonsten ganz andere Wege geht. Darüber hinaus eröffnet sich die Möglichkeit der Prävention bei all denen, die sich vielleicht gesund fühlen, deren Krebsentstehung aber nur noch nicht die späte Phase der nachweisbaren Tumorbildung erreicht hat, denn die Vorbedingungen für Krebs nach der hier erörterten Hypothese, gewissermaßen seine Wegbereiter, zeigen sich für den Arzt schon relativ früh. Wenn man zwei Prinzipien ernstnimmt – zum einen möglichst früh den Zeitpunkt des Umschlages von Gesundheit (wie unscharf diese auch immer definiert werden mag) in mögliche Krankheit erkennen und zum zweiten so wenig wie möglich korrigierend, gar zerstörend, in den Organismus eingreifen – dann rückt die Genesis einer Krankheit, hier also Krebs, sofort in den Mittelpunkt. Denn vermeiden ist allemal besser als behandeln.
Es gibt einen wichtigen Punkt, der hier hervorzuheben ist. Die Biologie (und Medizin) unterscheidet sich von den sogenannten exakten Wissenschaften wie der Physik vor allem auch...