KEINE ANTWORT OHNE FRAGE – WAS WIR VOM JUDENTUM LERNEN KÖNNEN
Und wenn euch eure Kinder fragen, was das bedeutet … (2. Mose 12,26 GNB)
von Hanns Wolfsberger
Jesus ist die Antwort – aber was war noch mal die Frage?
Hand aufs Herz: Wie ist das, wenn Jugendliche uns mit schwierigen Fragen löchern? Gefällt uns das? Tun wir alles dafür, dass genau das passiert? Oder bringt uns das eher aus dem wohlüberlegten Konzept?
„Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Prinzipiell wissen wir das. Aber als haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende haben wir eben auch ein Anliegen, eine ganz bestimmte Mission. Es geht darum, unseren Glauben weiterzusagen – also die wichtigste aller Botschaften zu verkündigen – und häufig ist es einfacher, zeitsparender und irgendwie auch sicherer, die für uns richtigen und wichtigen Dinge auf jeden Fall auszusprechen. Wir arbeiten mit Leidenschaft. Und mit begrenzter Zeit. Deshalb können wir nicht immer auf die passende Frage warten, nicht ständig die Energie und Geduld aufbringen, Fragen und Anfragen auszuhalten, die vielleicht in eine ganz andere Richtung zielen oder womöglich sogar unsere Botschaft anzweifeln. Und so geschieht es: Wir platzieren gerade bei Jugendlichen sogenannte Wahrheiten. Wir antworten, wo keine Fragen waren, und übersehen leider, dass wir genau dadurch eines nicht liefern: Antworten.
Vielleicht muss das aber nicht so sein. Insbesondere die jüdische Tradition lehrt einen anderen Ansatz, wie im Umgang jüdischer Eltern mit ihren Kindern oder des Rabbis mit seinen Schülern erkennbar wird. Und auch die Bibel zeigt uns, warum das Fragen für den Menschen so entscheidend ist.
Fragen wertschätzen
Der jüdische Physiker und Nobelpreisträger Isidor Isaac Rabi erzählt: „Jedes andere Kind kam nach der Schule nach Hause und wurde gefragt: ‚Was hast du heute gelernt?’ Aber meine Mutter fragte mich stets: ‚Izzy, hast du heute eine gute Frage gestellt?’ Indem ich lernte, gute Fragen zu stellen, bin ich Wissenschaftler geworden.“1 Würde uns eine solche Wertschätzung der Fragen nicht auch in der christlichen Jugendarbeit und Verkündigung gut anstehen?
Leichter gesagt als getan. Denn Jugendliche stellen nicht automatisch gute Fragen, viele fragen überhaupt nicht von selbst. Immer mehr Mitarbeitende beklagen fehlendes Interesse, Gleichgültigkeit, eben keinen Forscherdrang bei der jüngeren Generation. Aber sie können das Fragen lernen. Und es ist unsere Aufgabe, ihnen genau das zu ermöglichen. Der frühere britische Großrabbiner Jonathan Sacks berichtet, dass in den traditionellen Talmud-Schulen des Judentums das höchste Kompliment eines Lehrers für seinen Schüler lautet: „Du fregst a gutte kasha!“ – „Was für ein guter Einwand!“2 Entscheidend ist nicht, die richtige Antwort zu kennen.
Das gilt auch für die Verkündigung des Evangeliums: Wenn Fragen und Interesse bei Jugendlichen nicht vorhanden sind, dann muss es darum gehen, ihnen beizubringen, wie sie neugierig werden, sich wundern, reflektieren, widersprechen, nachfragen. So können sie zu Partnern eines Prozesses werden – sogar in der Predigt. Sie werden von passiven Empfängern zu echten Beteiligten.
Fragen beibringen
Bereits im Judentum zur Zeit Jesu war Bildung von enormer Bedeutung. Bildung hieß für gottesfürchtige Menschen: Gott selbst und sein Wort, die Tora, muss den Kindern in Leib und Seele übergehen (vgl. das „Höre, Israel“ in 5. Mose 6,4-7). Wissen allein reicht dabei nicht. Die Heilige Schrift muss ins Herz, in die Seele, sogar in den Körper unserer Nachkommen übergehen. Bereits im Kindesalter begann man, die Bibel auswendig zu lernen. Im Jugendalter kam dann etwas Entscheidendes hinzu: die Kunst des Fragens und Antwortens. Fortan wurde geübt, nicht allein die richtige Antwort zu geben, sondern sich dem Gegenstand der Diskussion von einer anderen Seite anzunähern, also eventuell mit einer Gegenfrage zu antworten.
Unsere Kinder sind – wie ihre Eltern – daran gewöhnt, gelerntes Wissen auf Kommando exakt wiederzugeben. Auf die Frage „Was macht drei mal drei?“ antworten sie brav: „Neun.“ Ein jüdisches Kind dagegen hätte damals eher mit einer Gegenfrage reagiert, zum Beispiel: „Was ist achtzehn geteilt durch zwei?“
Übertragen wir dieses Beispiel hin zu den großen Fragen nach Gott und dem Glauben an ihn, können wir uns vielleicht vorstellen, wie spannend es sein könnte, mit Jugendlichen auf diese Art und Weise ins Gespräch zu kommen. In unseren Breitengraden hält sich berechtigterweise das Vorurteil, dass es immer nur eine einzige richtige Antwort auf Glaubens- und Bibelfragen gibt. Der folgende alte Kirchenwitz ist wohl näher an der Realität, als manche wahrhaben wollen … Ein Pfarrer fragt seine Konfirmanden: „Was ist rot-braun, hat einen buschigen Schwanz, hüpft von Baum zu Baum und liebt Nüsse?“ Gespanntes Schweigen im Raum. Irgendwann meldet sich Jonas und antwortet: „Bei jedem anderen würde ich sagen: ein Eichhörnchen. Aber wie ich den Laden hier kenne, ist das sicher wieder dieser Jesus.“
Jesus fragt
In dem zwölfjährigen Jesus im Tempel finden wir ein treffendes Beispiel für einen jüdischen Jugendlichen, welcher offensichtlich die Kunst des Fragens und Antwortens beherrschte: „… da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte“ (Lk 2,46 Lu). In dieser Geschichte hören wir auch die ersten überlieferten Worte des jungen Jesus. Seine besorgte Mutter fragte ihn, warum er dies getan habe. Jesus antwortete – mit Gegenfragen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist“ (Lk 2,49 Lu)?
Durch das ganze Leben Jesu zieht sich fortan eine Spur aus Fragen, die er seinen Gesprächspartnern stellte, anstatt ihnen fertige Antworten zu liefern. Auffällig ist: Jesus stellte sie niemals, weil er es auf die korrekte Antwort abgesehen hätte, sondern er verfolgte damit immer eine bestimmte Absicht. Seine Fragen sind Ausdruck seiner Geschicklichkeit (Mk 3,4; Lk 10,26), seiner Menschenkenntnis (Mt 16,15; Mk 12,15) und immer wieder auch seiner Freundlichkeit und Fürsorge (Joh 5,6; Joh 8,10; Joh 21,17). Darüber hinaus sind sie für uns heute ein Spiegel jüdischer Kultur, der Jesus angehörte und von der es zu lernen gilt.
Bezeichnenderweise sind auch die letzten Worte Jesu vor seinem Tod wiederum eine Frage, in diesem Fall ein Zitat des klagenden Beters aus Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mk 15,34 Lu)?
Gott fragen
Es ist dieser verzweifelte Ausruf Jesu am Kreuz, der uns zu einer weiteren – vielleicht der entscheidenden – Dimension des Fragens in der Bibel führt. In diesem Moment des Leidens fragte Jesus nicht strategisch, er verfolgte keine Taktik, nichts Schlaues, Lehrerhaftes ist mehr erkennbar. Diese verzweifelte Frage ist allein Ausdruck der tiefen, innigen und ehrlichen Beziehung zwischen Sohn und Vater. Für uns und für die Jugendlichen, die uns anvertraut sind, bedeutet das: Fragen sind nicht nur deshalb so wichtig, weil sie uns im Lernen und Verstehen wichtiger theologischer Zusammenhänge weiterbringen. Sie sind der Weg zum Gespräch mit Gott selbst.
Genau darin sind uns die Väter des Judentums (und Christentums) ein so großes Vorbild – in ihrer offenen Auseinandersetzung mit dem Schöpfer: unverhohlen, ehrlich und provozierend. So spricht Abraham ohne Scheu: „Das kannst du doch nicht tun – sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten“ (1. Mose 18,25 EÜ)? Mose argumentiert: „Mein Herr, warum behandelst du dieses Volk so schlecht? Wozu hast du mich denn gesandt“ (2. Mose 5,22 EÜ)? Jeremia beklagt: „Du bleibst im Recht, Herr, wenn ich mit dir streite; dennoch muss ich mit dir rechten. Warum haben die Frevler Erfolg, weshalb können alle Abtrünnigen sorglos sein“ (Jer 12,1 EÜ)? Und David betet frech: „Was nützt dir mein Blut, wenn ich begraben bin? Kann der Staub dich preisen, deine Treue verkünden“ (Ps 30,10 EÜ)?
Mutige Fragen an Gott, gestellt von Menschen, die ihm vertrauen. Menschen, die mit ihm hadern, ringen, ihm ihr Leid klagen, ja, auch an ihm verzweifeln und am Ende trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – zu ihm sagen können: „Auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten, Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig“ (Ps 73,26 EÜ).
Es beginnt mit der Frage
Bereits in sehr frühen Predigten des Judentums findet sich ein erstaunlicher Brauch. Die Rede begann nicht mit einer Eröffnung des Lehrers, nicht mit einem Lied oder einer Formel, sondern mit einer Frage, die ein normales Mitglied der Gemeinde...