PHYTOTHERAPIE TRADITIONELL UND MODERN
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Wer die Natur und die Kraft der Pflanzen versteht, weiß um das harmonische Zusammenspiel und kann es für das menschliche Wohlbefinden und die Gesundheit einsetzen. Dieses Wissen reicht bis weit in die Ursprünge der Menschheit zurück und wurde zuerst mündlich durch Heiler, Magier und Schamanen überliefert. »Heilkräuter sind von den Göttern an einsamer heiliger Stätte geschaffen, aus dem Blut Unschuldiger gesprossen, von Vögeln herangetragen«, beschrieb Jacob Grimm in seiner Deutschen Mythologie dieses magische Denken. Viele Generationen später, in den Schriften antiker Dichter, Philosophen und Gelehrter orientierte man sich nicht mehr am Mythos, sondern suchte nach den natürlichen Zusammenhängen. Bereits Hippokrates (etwa 450–370 v. Chr.) und seine Schüler waren dieser Naturphilosophie verbunden, und noch Jahrhunderte später betonte Galen, dass Hippokrates von einem Arzt nicht nur umfassende Kenntnisse in Anatomie und Diätetik verlange, sondern dass dieser auch die Vorgeschichte und den Verlauf der Krankheit kennen müsse. Der hippokratische Arzt, so Galen, sei Philosoph und »bildet sich auch in der Wissenschaft aus, um alle verschiedenen Krankheiten und die passenden Heilmittel für jeden Fall kennenzulernen«. Dioskurides (1. Jahrhundert n. Chr.) sammelte auf seinen vielen Reisen als Militärarzt Pflanzen und bearbeitete sie wissenschaftlich. Sein Werk Über die Heilmittel ist mit etwa 600 Pflanzen das erste ausführliche Heilpflanzenbuch, und seine Lehre bildete etwa 1 Jahrtausend die Grundlage der westlichen Medizin.
Verdienste der Klöster
Im europäischen Mittelalter kümmerten sich zunächst vor allem Nonnen und Mönche des Benediktinerordens um Pflanzenzucht, Heilpflanzenanbau und Krankenpflege, denn der Ordensgründer Benedikt von Nursia (480–547) hatte die Sorge für die Seele mit der Sorge für den Körper verbunden. Seine berühmte Forderung »ora et labora« hatte gewissermaßen die Klostertüren geöffnet: Das kontemplative Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit sollte durch tätige Nächstenliebe ergänzt werden. Und weil Pflanzen eben die wichtigsten Heilmittel waren, konnte sich die Pflanzenheilkunde weiterentwickeln.
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Den Benediktinern verdanken wir auch unsere Kenntnisse der griechischen und spätantiken Medizin. Ebenso wie die arabischen und persischen Wissenschaftler sorgten sie dafür, dass die medizinischen Schriften »heidnischer« Autoren nicht verloren gingen oder gar vernichtet wurden. Diese Gefahr bestand schon ab dem frühen Mittelalter, weil sich in der Heilkunde der Gegensatz zwischen hohem Klerus und Mönchtum immer weiter vertiefte. Bischöfe wollten Kranke nicht behandelt sehen, denn Leiden war, so die Kirche, von Gott gesandt und musste folglich erduldet werden: Bischof Gregor von Tours (538‒594) forderte gar die Abschaffung der Medizin. Linderung von Schmerzen, gar die Heilung der Krankheit stand für die Kirchenfürsten nicht zur Diskussion. Allenfalls Wunderheilungen etwa an Gräbern von Heiligen wurden akzeptiert.
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Klösterliche Ärztinnen und Ärzte dagegen verteidigten zunehmend ihre wissenschaftlich fundierte Behandlung kranker Menschen mit Arzneimitteln. In den Schriften Hildegard von Bingens (1098–1179) nehmen Heilpflanzen eine Schlüsselstellung ein; viele Kräuter der Klostergärten, die Hildegard in der Therapie empfahl, spielen noch heute eine wichtige Rolle in der Naturheilkunde: So entspricht zum Beispiel die Anwendung von Melisse als sanfte Seelenmassage auch der heutigen Indikation.
Schon das sogenannte Lorscher Arzneibuch, entstanden vermutlich im 8. Jahrhundert n. Chr., enthält über 500 Rezepte mit mehr als 200 Pflanzen, allerdings nicht annähernd vergleichbar mit der Phytotherapie, wie wir sie heute kennen. Basierend auf der antiken Lehre der Körpersäfte, deren harmonisches Verhältnis im kranken Organismus gestört ist, sollten Arzneien vor allem ausleiten und abführen, Stauungen auflösen und zu viel Feuchtigkeit austrocknen.
Erbe der Antike
Diese Viersäftelehre wird Hippokrates zugeschrieben, doch inwieweit er sie tatsächlich ausgearbeitet hat, wissen wir nicht. In der damaligen Zeit gab es auch Zwei- und Dreisäftelehren. Als Lehre formuliert hat sie schließlich Galen: Im Organismus unterschied man vier Säfte (humores), nämlich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, denen wiederum die vier Elemente mit ihren jeweiligen Qualitäten zugeordnet waren. Aus dem Vorherrschen eines Saftes ergab sich das Temperament eines Menschen; im 19. und 20. Jahrhundert sprach man dann von Konstitutionstypen, die sich angeblich auch in der äußeren Erscheinung zeigten.
Im Temperament des Sanguinikers herrscht das Blut (sanguis) vor, das Grundelement ist die Luft mit der Elementarqualität warm und feucht. Der Phlegmatiker ist beherrscht vom Schleim (phlegma) mit dem Element Wasser und der Qualität kalt und feucht. Im Choleriker herrscht die gelbe Galle (cholé) vor mit dem Element Feuer und der Qualität warm und trocken. Der Melancholiker schließlich wird von der schwarzen Galle (melancholé) bestimmt mit dem Element Erde und der Qualität kalt und trocken. Die ersten drei Körpersäfte lassen sich leicht zuordnen, doch was Hippokrates mit der »schwarzen Galle« meinte, wissen wir nicht, denn dieser »Saft« lässt sich mit keiner der Substanzen in Verbindung bringen, die in unserem Körper vorkommen. Maßgeblich für die Heilkraft einer Pflanze waren die vier sogenannten Qualitäten warm, kalt, trocken und feucht. Die Vier ist seit der Antike von großer Symbolkraft: Die Genesis nennt vier Ströme, die vom Garten Eden ausgingen, die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft bestimmen die Natur sowie deren Gesetze, und die vier Jahreszeiten strukturieren den natürlichen Zeitablauf.
»Es ist immer besser, wenn man die Arznei aus der Küche und nicht aus der Apotheke bekommt und nutzt.«
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Die Wissenschaft von der Ernährung
Die Viersäftelehre ging auch in die Ernährungslehre ein, wie sie Mediziner und prominente Köche der frühen Neuzeit propagierten. Der Arzt Walther Hermann Ryff veröffentlichte 1545 in Frankfurt am Main ein Kochbuch für Kranke, in dem Kochen und Therapie miteinander verbunden sind. Der erste namentlich bekannte Küchenchef Deutschlands, der seine Kreationen für ein breiteres Publikum aufgeschrieben hat, war Marx (Marcus) Rumpolt – seine biographischen Daten sind nicht überliefert. Er arbeitete für verschiedene Adelshäuser, vermutlich sogar am Hof Kaiser Maximilians II., und war schließlich Leibkoch des Mainzer Kurfürsten und späteren Erzbischofs Daniel Brendel von Homburg (1523–1582). In seinem New Kochbuch von 1581 formulierte Rumpolt seine Aufgabe recht drastisch: Zweifellos sei unter allen Künsten die Kochkunst nicht die geringste, denn weder Reiche noch Arme könnten darauf verzichten, ohne Schaden an ihrer Gesundheit zu nehmen. Ein schlechter Koch könne »Fürsten und Herren, auch anderen einfachen Leuten ihr Leben und ihre Gesundheit rauben und an ihnen zum Mörder werden«. Rumpolt beschrieb auch, wie man Mahlzeiten so zubereitet, dass es Kranke nicht davor ekelt.
Frantz de Rontzier, Leibkoch des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel, betonte in seinem Kunstbuch von mancherley Essen (1598), dass selbst Ärzte die Heilung durch entsprechende Nahrung anerkennen, und stellte fest: »Es ist immer besser, wenn man die Arznei aus der Küche und nicht aus der Apotheke bekommt und nutzt.« Ein guter Koch also musste, ebenso wie ein fähiger Leibarzt, das »Temperament« seiner Klienten kennen und berücksichtigen.
Wirkung bis heute
Die Säftelehre war von so durchschlagendem Erfolg, dass wir noch heute ganz genau wissen, was mit cholerischem Wutausbruch, melancholischem Trübsinn und phlegmatischem Durchhänger gemeint ist. Nur der allseits ausgeglichene, vielleicht sogar ein wenig langweilige Sanguiniker ist uns nicht mehr so geläufig.
Für das Wohlbefinden des Menschen sorgte das Gleichgewicht der Säfte plus jeweiliger Primärqualität, und krank wurde der Mensch, wenn ein Saft mit der entsprechenden Qualität dominierte. Das ist uns heute noch vertraut, vor allem durch Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und Ayurveda: Ein fieberheißer Körper verträgt keinen Tee mit dem »heißen« Gewürz Ingwer, »kühle« Gurke mit Joghurt mögen wir im Sommer, und »kühle« Zwetschgen vertragen sich ausgezeichnet mit dem »heißen« Gewürz Zimt.
Für den Arzt wie für den Koch kam es also darauf an, die gesunde Balance zu erhalten und wiederherzustellen. Deshalb mussten sie die Primärqualität der Lebensmittel kennen, diese entsprechend kombinieren und gegebenenfalls meiden. So sollte man Speisen für Choleriker nicht mit Majoran oder Thymian würzen, weil diese Kräuter als heiß und trocken galten. Melancholiker sollten auf Hirschbraten verzichten, denn Hirschfleisch schrieb man die Qualität kalt und trocken zu. Essen konnte also ungesund sein, weil es dem Temperament widersprach und den Organismus in die falsche Richtung lenkte.
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Zur Qualität der tierischen und pflanzlichen Lebensmittel, zu Gewürzen, Kräutern und Getränken gab es eine umfangreiche Literatur, verfasst von Medizinern, Naturwissenschaftlern und Historikern. Die...