TEIL EINS
Vom Genfer See zum Gotthardpass
1. Genfer See
Ich starte in Paris. Die Straße nach Süden liegt vor mir, die Luft über dem Asphalt flimmert in der Hitze. Gleich hinter den Randbezirken der französischen Hauptstadt rücken die Waldgebiete der Île de France heran, nur um etwa eine Autostunde später von den Reblandschaften rund um Chablis abgelöst zu werden. Weiter im Süden von Burgund stehen oben auf den Kämmen der sanften Hügel befestigte Gehöfte, Zeugen einer seit dem Mittelalter reichen Weidewirtschaft. Der heiße Tag zieht sich auf der Autobahn dahin. Zu meiner Rechten tauchen die Weinberge von Beaujolais auf, während sich hinter der Saône zu meiner Linken die ersten Ausläufer des Jura-Gebirges erheben. Die grünen Hügel sind Vorzeichen darauf, wo ich den Sommer verbringen werde: in einem geologischen Chaos.
Der Kilometerzähler schnurrt nur so dahin, bis ich etwa eine Stunde nördlich von Lyon bin. Nach einem kurzen Übernachtungsstopp in einem verschlafenen Weindorf fahre ich am nächsten Morgen von der Nord-Süd-Autobahn ab, um mich nach Osten zu wenden, mitten hinein in die Schweiz. Richtig heiß ist es noch nicht, und so lasse ich die Scheiben herunter und genieße die morgendlich kühle Brise. Die sanften Hügel und ziegelrot bedachten Häuser der Franche-Comté, der Freigrafschaft Burgund, ziehen vorüber, und keines der öffentlichen Gebäude, auf die ich einen flüchtigen Blick erhasche, scheint ohne eine riesige Uhr auszukommen, ganz so, als ob niemand hier die Zeit vergessen wollte. Seltsam, denke ich, wo diese wunderschöne Region doch so gänzlich aus der Zeit gefallen scheint.
Schließlich erreiche ich die Grenze. Eine Frau in Schweizer Uniform verlangt von mir umgerechnet 20 Euro für eine Plakette, mit der ich für die nächsten zwölf Kalendermonate sämtliche Schweizer Autobahnen benutzen darf. Nur wenig später rollt mein Wagen durch die Straßen von Genf. Immer wieder drehen sich Köpfe nach mir um, fast durchweg männliche, sodass ich mich langsam zu fragen beginne, ob irgendetwas an meiner Erscheinung verkehrt ist. Und dann komme ich drauf: Klar, ich sitze am Steuer eines Renault Mégane Sport – noch dazu eines limitierten Sondermodells, grafitfarben mit roten Zierleisten und besonders viel Dampf unter der Haube, den ich mir für die Tour durch die Berge gemietet habe.
Träge geht der Tag in Genf an diesem brütend heißen Wochenende im Spätfrühling dahin. Draußen an der Hafeneinfahrt schießt die berühmte Fontäne gewaltige, weiß glänzende Wassermengen mehr als 100 Meter hoch in die Luft. Von der Schwerkraft besiegt, fällt der Strahl als tagheller Dunstschleier in das milchige Wasser darunter. Die Wasser der Rhone, die den Genfer See durchfließen, treten am westlichen Ende des großen, bananenförmigen Sees (des Lac Léman, wie er hier heißt) wieder hinaus, um ihre lange Reise zum Mittelmeer fortzusetzen.
Genf ist kein perfektes Postkartenidyll. Prachtvolle Bauten aus dem 19. Jahrhundert in unterschiedlichsten Farbtönen drängen sich am Ufer des Sees – wie ein von Farbenblinden erbautes Paris. Genf gibt kein geschlossenes Bild ab, kein beschaulich zusammenhängendes Ganzes, das dem Auge schmeichelt, nur unregelmäßig unterbrochene Abschnitte architektonischer Schönheit. Nichtsdestotrotz will ich genau hier meine Reise beginnen – in der langweiligsten interessanten Stadt auf dem europäischen Kontinent, die Fjodor M. Dostojewski einst als »eine langweilige, düstere, protestantische, dumme Stadt mit einem entsetzlichen Klima, doch zum Arbeiten gut geeignet« bezeichnet hat, die als Geburtshelferin der calvinistischen Reformation und Heimat des Gutmenschentums gilt, damals wie heute. Wo Völkerbund, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und das Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) ihren Hauptsitz haben. Wo vor über 200 Jahren eine ästhetische Revolution stattfand, eine Umkehr des gesellschaftlichen Denkens, die die menschliche Sicht auf die Natur veränderte. Und damit auch auf die Berge, was für unsere Zwecke weit interessanter ist. Was Genf mit seiner Plattform des World Wide Web und dem Large Hadron Collider, dem Großen Hadronen-Speicherring am Europäischen Kernforschungszentrum CERN, für die Realität der modernen Welt heute tut, haben die Künstler, Denker und Wissenschaftler am Genfer See einst für die Ästhetik getan.
Durch die flimmernd heiße Luft, die von der kopfsteingepflasterten Promenade aufsteigt, zieht die Statue einer Frau am Seeufer die Blicke auf sich. Die kaiserliche Porträtstatue in Bronze ist kantig, bezaubernd schön, obgleich ihr Schöpfer, der schottische Bildhauer Philip Jackson, sie so darstellte, als wolle sie ihre Schönheit hinter einem Fächer verbergen. Das Denkmal wurde zu Ehren der als »Sisi« bekannten Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn errichtet, die am 10. September 1898 – einem ähnlich heißen Sommertag – unweit dieser Stelle ermordet wurde. Die damals 60-jährige Kaiserin war auf dem Weg zu einem Fährschiff, um der lähmenden Hitze zu entfliehen, als sich der italienische Anarchist Luigi Lucheni auf sie stürzte und ihr eine spitze Feile mitten ins Herz stieß. Eigentlich war Lucheni nach Genf gekommen, um ein anderes Mitglied der kaiserlich-königlichen Familie zu ermorden, den Prinzen Henri Philippe Marie d’Orléans. Doch als er vor Ort erfuhr, dass sich sein Opfer gar nicht in der Stadt aufhielt, änderte er seine Pläne kurzerhand und beschloss, stattdessen die Kaiserin zu ermorden. Im Mitteleuropa von damals war Sisi eine Mischung aus Prinzessin Di und Jackie Kennedy Onassis, von vielen bewundert für ihre Schönheit und ihre ausgiebigen Reisen. Sie rauchte Zigaretten (äußerst unschicklich für eine Frau), schrieb Gedichte (äußerst suspekt bei Hofe), lernte Ungarisch (äußerst subversiv), nahm sich Liebhaber (wenn auch diskret, aber keinesfalls gutgeheißen) und reiste inkognito (skandalös für eine Angehörige der kaiserlich-königlichen Familie).
Ihre Statue steht in der Rotonde du Mont-Blanc, am Quai du Mont-Blanc, ganz in der Nähe der Stelle, wo die Rue du Mont Blanc auf den Pont du Mont-Blanc, die Mont-Blanc-Brücke, führt. Doch die Skulptur schaut nach Norden, landeinwärts, auf das vornehme, alte Grand Hôtel Beau Rivage, wo Sisi ihre letzte Nacht verbracht und ihre letzte Mahlzeit eingenommen hatte. Der Standort dieses Kunstwerks ist sinnreich gewählt: Die eitle Kaiserin dreht der berühmten Aussicht auf den See den Rücken zu, als wolle sie nicht Teil dieser glanzvollen Kulisse sein, sondern selbst im Rampenlicht stehen und ein letztes Mal rebellieren.
Und berühmt ist die Aussicht auf den Genfer See nicht von ungefähr!
Wendet man den Blick von der ermordeten Sisi ab, um über das Wasser gen Süden zu schauen, wird die spektakuläre Lage Genfs offenkundig. Die Musik dieser Stadt an diesem herrlichen See spielt im grandiosen Hinterland. Nein, nicht auf einer mittelalterlichen Höhenburg oder einem Kloster wie andernorts in Europa. Vielmehr erheben sich die Alpen oder, um fachlich korrekt zu bleiben, die Voralpen in einer kompakten Wand von Gebirgsausläufern. Zum Wasser hin fallen sie ab wie dunkelgrüne Klippen, scheinbar lückenlos, ohne durch irgendein sanftes Gefälle gebremst zu werden. Wilde Bergeshöhen, die mit dem so zivilisierten Genf einen See gemeinsam haben – ein geradezu grotesker Anblick. Doch wäre dies alles, was der Blick über das Wasser zu bieten hätte, wäre er immer noch imposant, aber nicht unvergesslich. Schon die Namen der Straßen rund um »Sisi« lassen ahnen, dass es mit diesen Bergen dort drüben weit mehr auf sich hat.
Hinter der grünen Wand, versteckt lauernd wie eine mächtige Gewitterwolke, sichtbar sogar an einem so diesigen Tag wie heute, ragen die Gipfel der Mont-Blanc-Gruppe empor, die unter ihrem Mantel aus Eis und Schnee wie ungeheure Alabastermassen erscheinen, in erhabenem Spott über die dampfige Sauna, unter der die Menschen in Genf an diesem Tag zu leiden haben. Die Berge sind weiß, aber keinesfalls unschuldig, und es gibt keinerlei Chance, sie nicht zu sehen. Von Genf nach Süden zu schauen heißt, einen prachtvollen Horizont zu erblicken. Die Berge – gleichmütig, übermächtig – scheinen den Himmel fast zu verdrängen. Es verwundert nicht, dass sie die Fantasien der Menschen seit Jahrhunderten beflügeln.
Berge waren gefürchtet. Auf ihren Gipfeln hausten einst Drachen und Menschenfresser. Sie versperrten unsanft den Weg nach Süden und damit in so wichtige Städte wie Rom, Genua, Venedig oder Mailand. Sie waren Gottes Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen. Unbezwingbar. Man war gut beraten, nicht höher als bis zu den Hochalmen hinaufzusteigen, denn weiter oben lauerte der sichere Tod. Berge waren eine befremdliche Welt, und die Menschen, die mitten darin lebten, waren inzüchtige Schwachsinnige, les crétins des Alpes, wie man auf Französisch sagt. Und als solche passten sie in ihren schaurigen Lebensraum.
»Diese verkrümmten, schlichten Gemüter mit ihrer widerlichen, abgrundhässlichen und ungehobelten Erscheinung, mit ihren obszönen Gebärden und ihrem unsinnigen Gebrabbel erwecken Ekel und Abscheu« – so drückte es einmal der Brite Edward Whymper etwas unsanft aus.
Auch das Urteil über die gebirgige Kulisse fiel meist vernichtend aus. Goethes Beschreibung der Alpen aus den 1780er-Jahren steht beispielhaft für Dutzende ähnlicher Kanonaden: »Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalteten Granitpyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein Menschenfreund sie preisen!« Genau wie...