II. Arabien und der Islam
Arabien am Vorabend des Islam
Die Arabische Halbinsel hat vor dem Auftreten des Propheten Mohammed keine umfassende politische Ordnung gekannt; die alten südarabischen Reiche beschränkten sich auf die Südwestecke der Halbinsel. Kennzeichnend für das gesamte Gebiet war die tribale Gesellschaftsordnung: Nicht nur die wandernden Verbände der Viehzüchter gliederten sich nach Stämmen, Unterstämmen und Sippen, sondern auch die sesshaften Städter und Bauern waren tribal organisiert. So bestand die Bevölkerung der Stadt Mekka aus den Mitgliedern des Stammes Quraisch, der sich wiederum in ein Dutzend Sippen – darunter die mächtigen Machzûm und ‛Abd Schams sowie die weniger einflussreichen Hâschim – gliederte. Die benachbarte Stadt Tâ’if gehörte dem Stamm Thaqîf, während die Oase Yathrib (das spätere Medina) von fünf arabischen Stämmen bewohnt wurde. Wohl schon in vorislamischer Zeit hatte man die Stämme der Arabischen Halbinsel in ein genealogisches Schema eingeordnet, das auf der Annahme der Abstammung aller Stämme von gemeinsamen Ahnen beruhte; als Stammvater der Südaraber galt Qahtân, als der der Nordaraber ‛Adnân. Diese Unterscheidung spiegelt einen tiefen Gegensatz zwischen beiden Gruppen wider, der sich bis weit in die islamische Zeit hinein auswirken sollte. Später – zu einem uns unbekannten Zeitpunkt – hat man die beiden Genealogien in einem dem Alten Testament entlehnten Stammbaum zusammengeführt: Qahtân wurde mit dem biblischen Joktan, einem Enkel von Noahs Sohn Sem (Genesis 10,25), gleichgesetzt, während ‛Adnân als Nachkomme von Ismael, dem verstoßenen Sohn Abrahams und der Hagar (Genesis 16,15), eingeordnet wurde. Die Südaraber galten als (oder hielten sich für) die eigentlichen, reinen «arabischen» Araber, die ‛âriba, während die Nordaraber als musta‛riba, «Arabisierte», qualifiziert wurden.
Die Stämme sprachen ihre eigenen Dialekte, doch hatten die Dichter bereits eine einheitliche Hochsprache geschaffen, die offenbar überall verstanden wurde. Zum Austausch und zur Angleichung trugen die Jahrmärkte bei, die in einem festen Turnus rund um die Arabische Halbinsel stattfanden und deren friedlicher Verlauf durch Perioden allgemein verbindlicher Waffenruhe gesichert war. Wichtige Treffpunkte waren auch die Heiligtümer verschiedener Götter und Göttinnen, z.B. die Ka‛ba, ein würfelförmiges Tempelgebäude in Mekka, das dem Gott Hubal geweiht war, sowie mehrere Kultstätten nordöstlich von Mekka, die bis heute – wenn auch ihrer heidnischen Idole beraubt – Schauplätze des islamischen Pilgerrituals (haddsch) sind.
Die arabische Götterwelt ist uns durch Anspielungen im Koran sowie vor allem durch das «Götzenbuch» des irakischen Autors Ibn al-Kalbî (737–821) in Umrissen bekannt. Danach verfügten bestimmte Stämme über die Heiligtümer bestimmter Götter oder Göttinnen, die allerdings auch von Angehörigen anderer Stämme verehrt werden konnten. Die Gottheiten erscheinen als Steine oder als Bäume, deren Rauschen als Orakel gedeutet wurde, wohl auch gelegentlich als primitive Statuen aus Holz oder Stein; bestimmte Sippen waren mit der Pflege der Heiligtümer betraut. Der Hauptgott der Quraisch von Mekka, Hubal, scheint auch unter dem Namen Allâh (kontrahiert aus al-ilâh, «die Gottheit») verehrt worden zu sein; er gab in der Ka‛ba Orakel durch das Werfen von Lospfeilen. Ihm stand eine «Göttin», Allât, zur Seite, deren heiliger Bezirk nahe der Stadt Tâ’if lag; die Schicksalsgöttin Manât war in einem schwarzen Stein verkörpert an der Straße von Mekka nach Medina, während al-‛Uzza, der Planet Venus, in drei Bäumen in Nachla östlich von Mekka verehrt wurde. Die Riten, die mit der Verehrung des Gottes der Ka‛ba und der in und um Mekka gelegenen anderen Heiligtümer verbunden waren, sind also vorislamischen Ursprungs. Sie wurden später von Mohammed – aus ihren heidnischen Zusammenhängen gelöst – beibehalten aus Pietät gegenüber dem Propheten Abraham, Hagar und deren Sohn Ismael, die schon in vorislamischer Zeit als ihre monotheistischen Stifter galten.
Pilgerfahrten und Jahrmärkte sowie die Sprache der wandernden Dichter schufen erste überregionale Bindungen zwischen den über die Halbinsel verstreuten Stämmen. Dazu kam die Verbindung nach außen durch den Handel, der im Wesentlichen immer noch über die Weihrauchstraße – vom Jemen nach Syrien, d.h. vom Indischen Ozean zum Mittelmeer – lief. Mekka lag zwar nicht unmittelbar an der Route, nahm aber an dem Handel eifrig teil. Die Quraisch lebten vom Handel; noch der Koran erwähnt die alljährlich von ihnen ausgerüstete Winter- und Sommerkarawane (Sure 106, 2), und nach der islamischen Überlieferung soll Mohammed selbst als junger Mann nach Syrien gereist sein.
Von Norden wie von Süden sind das Judentum und das Christentum in vorislamischer Zeit nach Westarabien gelangt; das römisch-byzantinische Syrien, dessen östliche Regionen schon seit der Antike arabisiert waren, war christlich; der Jemen hatte nach einer jüdischen Dynastie die Herrschaft christlicher abessinischer Statthalter erlebt. In Nadschrân gab es eine starke christliche Gemeinde mit einem Bischof an der Spitze, in Yathrib (Medina) waren drei der fünf arabischen Stämme, die die Oase bewohnten, jüdischen Glaubens. Über die Ausbreitung des Juden- und des Christentums in diese Gegenden wissen wir so gut wie nichts; umso deutlicher sind jedoch die Spuren, die die Berührung mit den beiden monotheistischen Religionen im Islam hinterlassen hat. Der Koran ist voller Geschichten von Noah und Mose, von den Erzvätern Abraham, Isaak, Jakob und Joseph, den Königen David und Salomon oder dem Propheten Jonas, während vom Christentum nur wenige Spuren zu finden sind. In Mekka selbst scheint es weder eine jüdische noch eine christliche Gemeinde gegeben zu haben; allerdings berichten die islamischen Quellen von dem Phänomen der Hanifen, einer Art von monotheistischen Gottsuchern ohne Bindung an eine der beiden älteren Religionen, denen die verblasste Welt der altarabischen Götter nicht mehr genügte. Der Prophet Mohammed erschien also in einer Umgebung, die auf seine Botschaft keineswegs ganz unvorbereitet war.
Der Prophet Mohammed
Der Islam gehört zweifellos zu den konstituierenden Elementen des Arabertums, zumindest in frühislamischer Zeit, als die Begriffe Araber und Muslim weitgehend deckungsgleich sind. Mehrfach lässt der Koran Gott sagen: «Dies sind die Verse der deutlichen Schrift. Wir haben sie als einen arabischen Koran herabgesandt» (Sure 12, 1f.; ähnlich 41, 1 und 43, 1). Zunächst ist also nur der arabischsprechende Teil der Menschheit der Adressat dieser besonderen göttlichen Offenbarung, die in anderer Form, durch andere Propheten und in anderen Sprachen bereits anderen Völkern zuteil geworden war; der Koran «ist eine Schrift, die bestätigt in arabischer Sprache» die Sendung früherer Propheten, etwa des Mose (Sure 46, 12). Das Bewusstsein einer universalen Sendung und Geltung der koranischen Offenbarung scheint sich erst später entwickelt zu haben.
Geboren um 570 als Angehöriger des Clans Hâschim des Stammes Quraisch in Mekka, hat der früh verwaiste Mohammed seinen Lebensunterhalt wie viele Mekkaner zunächst als Händler verdient; als Teilhaber und Treuhänder der reichen Witwe Chadîdscha soll er eine Karawane nach Syrien begleitet und dort Geschäfte betrieben haben, worauf ihn die etwas ältere Chadîdscha heiratete. Nach einem Berufungserlebnis trat der etwa Vierzigjährige um 610 als Prophet (arabisch nabî, wie hebräisch nebi) eines monotheistischen Glaubens auf, der sich mit seiner Androhung eines bevorstehenden Jüngsten Gerichts vehement gegen die altarabische polytheistische Religion wandte. In Mekka konnte der Prophet nur eine kleine Schar von Anhängern um sich sammeln; die führenden Clans des Stammes Quraisch, die wohl um ihre einflussreiche Stellung und ihre Einkünfte aus den Wallfahrten zur Ka‛ba und den anderen Heiligtümern der Umgebung von Mekka fürchteten, standen ihm und seiner Botschaft feindlich gegenüber, drangsalierten seine Anhänger und bedrohten ihn selbst. So kam es im Jahre 622 zur Auswanderung (hidschra) des Propheten und seiner Anhänger, die sich selbst «(Gott-)Ergebene» (muslimûn) und ihren Glauben «Ergebung» (islâm) – nämlich in Gottes Willen – nannten, in das 350 Kilometer nordwestlich von Mekka gelegene Yathrib (später al-Madîna), dessen zwei nichtjüdische Stämme zuvor mit Mohammed ein Abkommen geschlossen hatten.
In Yathrib/Medina wurde der Prophet von einem verfolgten Außenseiter zum mächtigen Führer einer immer größer werdenden neuen Gemeinschaft, deren Zusammenhalt nun – statt der bisher unter den arabischen Stämmen geltenden Verwandtschaftsbeziehungen und gelegentlichen Schwurgemeinschaften – durch das Bekenntnis zu dem einen Gott und durch die...