Der Anfang
Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass ich die Möglichkeit hätte, einmal nach Ägypten zu kommen. Ägypten, das war von klein auf mein Wunschtraum. Wir hatten zu Hause zu viele Bücher im Schrank, in denen die Wunder der pharaonischen Kultur beschrieben waren. Dazu gab es noch Romane von Max Eyth, eine spekulative Abhandlung über die kosmischen Zahlen der Cheopspyramide und auch ein Buch über das Grab des Tut-ench-Amun. Schon mein Vater, den ich früh verlor, hatte diesen Traum gehabt, ihn sich aber auch nur aus dem Papier der Bücher erfüllen können. Er hatte erst kein Geld für eine solche Reise gehabt, dann kam ihm der Krieg dazwischen, und ich hatte später aus der DDR nicht dahin heraus gekonnt.
Plötzlich gab es dann unerwartet die Wende. Wie das nun einmal so ist, erst hat man keine Möglichkeit, das zu unternehmen, was man gern möchte, dann fehlt einem die Zeit dazu. Endlich nimmt man sie sich und überrollt sich dabei nicht selten selbst. Eingebunden ins Arbeitsleben ist der Urlaub etwas, was man wohl braucht, aber die Erlebnisse hinterher besinnlich auskosten, dazu fehlt wieder die Zeit. Es bleiben im nahtlos anschließenden Alltagsstress nur Erinnerungsfetzen, und falls man wirklich endlich zur Ruhe kommt, ist der Kraftaufwand, zu sich selbst zu finden oft so groß, dass es dann meist auch unterbleibt, weil die unverarbeiteten Erinnerungen schon verblasst sind. Als mich schließlich das Aus der Rente ereilt hatte, nahm ich mir vor, in Ruhe zu sichten, was sich in Jahren bei mir unsortiert in Schachteln und Schubladen angesammelt hatte und mir Regale und Kartons in der Wohnung blockierte. Da war zwar die Absicht gewesen, das alles nach kurzer Sichtung radikal von Überflüssigem zu bereinigen und das Meiste wegzuwerfen. Aber mittendrin merkte ich, dass ich dabei war, wegzuwerfen, was mein Leben ausmachte, und das sind die Erinnerungen, solange man sie noch heraufzubeschwören imstande ist, was meist nur an Hand sogenannter Erinnerungsstücke geht. Den größten Haufen dieser Dinge hat man, so auch ich, von den verschiedensten Urlaubsreisen mitgebracht. Es kam, wie es kommen musste. Statt auszusortieren und wegzuwerfen kam ich ins Sortieren und mit dem Sortieren entstand das Problem der Zuordnung. Ein Schnipsel folgte auf den anderen, eine Eintrittskarte kam zur nächsten, ein Foto zog die Suche nach dem nächsten nach sich. Ein Prospekt wurde ergänzt von einem Katalog, und auch an mitgebrachten Nippes oder Folklorestücken hingen für mich szenische Fetzen. Die Erinnerungen drängten auf Wiedererweckung, statt zum Vergessen.
Es wurde zu viel, und ich sah mich gezwungen, bei meiner Sortiererei auszuwählen. Ehe ich mich versah, hatte ich einen Wust verschiedenster unbewältigter Erinnerungen zu den vor allem mit der Familie unternommenen Urlaubsreisen beieinander, die vielleicht für mich, aber nicht für jeden von Interesse wären. Eine Sache drängte sich aber in den Vordergrund, die sich auf meine erste, wenn auch nicht weiteste, aber doch etwas weiter in die Fremde führende Reise bezog, und zwar die nach Ägypten.
Es war ein unwiderstehlicher Drang in mir, wenigstens das alles noch einmal alles nicht nur für mich, sondern auch für daran Interessierte nachzuvollziehen, wie das gleich nach der Wende war, und weil ich mir auch gerade einen neuen Lap-Top zugelegt hatte, bot es sich an, das auch gleich geordnet festzuhalten, zumal ich damals kein Tagebuch geführt hatte und mich auch nur mühsam anhand der nachträglich von Mitreisenden gekauften Fotos durch den Reiseverlauf zu hangeln vermochte, weil mir damals in Ägypten die Kamera nach einigen Tagen kaputt gegangen war, was ich erst ziemlich spät bemerkt hatte. Zwanzig Aufnahmen übereinander sehen als fertiges Bild zwar interessant aus. Vielleicht hat das sogar einen künstlerischen Wert in seiner Verdichtung auf das absolute optische Minimum. Man kann aber nichts darauf erkennen. Wer also Bilder in diesem Text vermissen sollte, dem kann ich nur raten, sich einen der vielen Bildbände über Ägypten zu kaufen. Da findet er mehr gute Aufnahmen zu den von mir beschriebenen Dingen, als ich sie ihm je liefern könnte.
Dieser Bericht ist auch keine Aufzählung oder ein Nachweis für den Besuch bestimmter Sehenswürdigkeiten, sondern er soll Ihnen ergänzend bringen, was Sie in keinem Reiseführer finden, das, was man sieht, wenn man es zu verstehen versucht.
Es wurde ein Bericht aus einem nahen und wenn man dort ist, doch so fernem Land, keine abenteuerliche Forschungsreise, aber doch abenteuerlich genug. Sie brachte mir den Beweis, dass wir uns keineswegs beschaulich zurücklehnen können und sagen, wir hätten alles gesehen, man hätte uns alles erzählt und die große weite Welt sei eigentlich nur etwas sehr breit gestreutes, was man im Fernsehen viel gemütlicher, informativer, gedrängter und umfassender auch haben könne. Vielleicht verlocke ich doch jemanden dazu, sich ebenfalls der Unmittelbarkeit einer nicht voll nach Drehbuch ablaufenden Reise und ihren Überraschungen auszusetzen. Ganz so spektakulär wie das mir passiert ist, braucht es ja nicht zu sein. Selbst Pauschalreisen können spektakulär verlaufen, ohne dass man darauf gefasst wäre.
Ich bin ein Bewohner der neuen Bundesländer. In Sachsen geboren, von den Amerikanern erobert, dann den Russen überlassen, anschließend von der DDR übernommen und bin nach der Wende 1990 dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland mit beigetreten worden. Dass mit mir das wie Millionen anderen auch passiert ist, dafür kann ich nichts.
Was sich in mir in den ganzen Jahren herausgebildet hatte, würde ich selbst als Fernweh bezeichnen und zwar nach den Weltgegenden, die mir verschlossen waren. Herumgekommen bin ich eigentlich nur in der DDR und mal in der CSSR. Es zog mich nicht in die Weiten Russlands oder wohin man sonst reisen durfte. Mit der Wende und der darauffolgenden Wiedervereinigung bestand plötzlich die Möglichkeit, das nachzuholen. Westeuropa, der Nahe Osten und Nordafrika, Stätten uralten Kulturgutes unserer westlichen Zivilisation waren nun unkompliziert bereisbar. Es zog mich weder nach Amerika, noch nach Australien. Auch die Südsee wäre mir auf Dauer zu langweilig.
Die Wende hatte aber auch eine Seite, die nicht vorhersehbare neue Erfordernisse mit sich brachte, die dem etwas entgegen standen. Um reisen zu können, braucht es außer Geld, was die meisten nicht hatten, vor allem Zeit. Die Notwendigkeit des Gelderwerbs zwecks Erhaltung der Existenz war vorrangig. Zuerst brach im Osten die Wirtschaft zusammen und jeder sah deshalb zu, wo und wie er sich damit einrichten könnte, ohne mit in den Strudel der Ereignisse weiter hineingerissen zu werden, als nötig.
Die Zeit verging. Das Jahr 1992 näherte sich schon seinem Ende, und es wurde September, ohne dass sich für mich in der ganzen Zeit die Möglichkeit ergeben hätte, mehr als nur kurz mal einige Tage Urlaub zu nehmen, weil im Zuge der Nachwehen der Wende sich der wirtschaftliche Aufschwung immer noch nicht einstellen wollte, der Betrieb, bei dem ich angestellt war, eine kleine Druckerei im westsächsischen Raum, immer weiter abbaute, erst produktionsmäßig, dann personell, und ganz langsam, aber sicher Schulden anzusammeln begann. Es wurden uns nicht mehr so oft Rechnungen bezahlt, und wir konnten deshalb auch nur noch die wichtigsten bezahlen. Eine verhängnisvolle finanzielle Schraube kam in Gang und drehte sich immer schneller einem Konkurs entgegen, wogegen es sich zu wehren galt. Da war keine Zeit für Urlaub.
Endlich verramschte uns die Treuhand, nachdem sie sich lange dagegen gewehrt hatte, uns an uns selbst zu verkaufen, mal schnell für die übliche D-Mark, und übergab uns dem altbundesdeutschen Erwerber, der dafür aber auch die Schulden mit übernahm. Jetzt wurde der Rest des Personals gesichtet, umstrukturiert und die Arbeit anders unter den Anwesenden verteilt. Was vom „Humankapital“ nicht gleich weiter zu gebrauchen war, wurde nicht übernommen und durfte gehen.
Wir taten von nun an das gleiche wie vorher, es war aber anders organisiert. Wenn erst noch etwas DDR-mäßiges in unserem Laden geherrscht hatte, mit festgelegten Arbeitszeiten, bezahlten Überstunden, freiem Sonntag, schriftlichen Arbeitsunterlagen und so, dann wehte nun ein schärferer Wind. Die Produktionsorganisation wurde auf computergestützte Datenverarbeitung umgestellt und wo vorher sechs oder auch sieben Leute an ihren Schreibtischen gesessen hatten, gab es ab sofort nur noch einen, der mit Hilfe eines Computers das gleiche Arbeitspensum zu erledigen hatte.
Gearbeitet wurde, wenn Arbeit da war, und so lange, bis sie fertig war. Der Kalender diente nur noch zum Zählen der Tage. Arbeitsanweisungen nur noch auf Zuruf und mit Verfallsdatum zwischen zehn Minuten und einer Viertelstunde. Tag und Nacht wurden zu genauso unbedeutenden Worten wie Sonnabend und Sonntag. Die Arbeitszeit betrug am Tag vierundzwanzig Stunden, und wenn das nicht langte, dann hängte man eben noch eine Stunde dran.
Wer das ihm aufgehalste Arbeitspensum nicht schaffte, wurde angehalten, etwas schneller arbeiten, denn für Bummelei beim Arbeiten konnte man keine Überstundenbezahlung erwarten, als Angestellter prinzipiell...