1 »Es gibt so viele Klippen«: Die Ärztin-Patientin-Beziehung1 in der Gynäkologie
Jutta Begenau
1.1 Einleitung
Diese Feststellung »Es gibt so viele Klippen« kommt von einer Frauenärztin, als sie gebeten wird, sich zur Bedeutung von Intimität in der gynäkologischen Praxis zu äußern. Was sie unter einer Klippe versteht, versucht sie am Beispiel einer Kinderwunschpatientin, die zu ihr in die Praxis mit dem Befund »sekundäre Sterilität« kommt, verständlich zu machen:
»Da überlege ich: Frage ich sie jetzt danach? […] Sie waren ja schon einmal schwanger, wie ist denn diese Schwangerschaft verlaufen? ›Ach, da war ich ganz jung, da habe ich einen Abbruch gehabt.‹ Oder: ›Das ist vermutlich die Strafe, dass ich jetzt durch die vielen Behandlungen nicht schwanger werde.‹ War’s richtig, spricht man das an? Macht man wieder ein schlechtes Gewissen? Ist das unangenehm für die Patientin? Muss sie das noch einmal verarbeiten? Oder geht man darüber hinweg. Das sind auch immer diffizile Dinge.«
Der Begriff der Klippe wird von ihr als Metapher für problematische Situationen, für Konfliktfelder, in denen sich Frauenärztinnen und Patientinnen bewegen, verwendet. Dabei vermag der von ihr gewählte Ausschnitt ihres Erfahrungsraumes zu verdeutlichen, was sie damit meint, wenn sie von »so vielen« Klippen spricht. Er macht sichtbar, dass schon eine einfache Frage nach dem Verlauf einer vorangegangenen Schwangerschaft klippenreich sein kann. Dann etwa, wenn damit bei der Patientin alte Konflikte aktualisiert werden. Wichtig scheint auch die mit dem Zitat verbundene Aussage, dass in der Gynäkologie die Beziehung zwischen Frauenärztin und Patientin nicht selten mit einer problematischen Situation eröffnet wird. Zudem legt das Zitat nahe, Klippen auch im Zusammenhang mit dem ärztlichen Selbstverständnis zu diskutieren. Denn unsicher wird die Frauenärztin ja nur deshalb, weil sie sich in ihre Patientin einfühlt, sich auf deren Seite begibt, oder anders gesagt, es für selbstverständlich hält im »Modus von Respekt und Verständnis« zu handeln.
Thema des folgenden Kapitels sind solche und andere für die Gynäkologie typischen Situationen und potenziellen Konfliktfelder. Zuvor aber soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch für die Ärztin-Patientin-Beziehung in der Gynäkologie vier soziologische Tatsachen gelten. Auch hier begegnen sich Ärztin und Patientin erstens in einer prinzipiellen Asymmetrie. Das heißt, dass auch in der gynäkologischen Sprechstunde die Ärztin das Problem definiert, den weiteren diagnostischen und therapeutischen Weg bestimmt und das Geschehen kontrolliert. Die Patientin dagegen ist die Laiin. Sie ist die Passive, die Verletzliche. Sie folgt in der Regel den Entscheidungen der Ärztin.
Beide haben aber auch Gemeinsamkeiten, beispielsweise diejenige, möglichst schnell Gewissheit zu erhalten. Aber Gewissheit worüber? Diese Frage führt zu einer zweiten sozialen Charakteristik, nämlich der, dass zwischen beiden eine prinzipielle Perspektivendivergenz besteht (vgl. Klusmann et al. 1998). Für Patientinnen steht ihr Leben im Zentrum. Sie beurteilen ärztliche Entscheidungen daran, wie gut diese ihnen helfen, ihren Alltag, ihr Leben wieder zu bewältigen. Währenddessen handeln Gynäkologinnen aus der Arbeitsperspektive und an einem Behandlungsauftrag orientiert. Sie sehen täglich viele Frauen mit ähnlicher Symptomatik und vergleichbaren gesundheitlichen Fragestellungen. Entsprechend routiniert ist ihr Blick auf vor allem regelwidrige Symptome gerichtet. Evident sind für sie ihre Entscheidungen dann, wenn sie ärztlichen Standards entsprechen. Wegen dieser Perspektivendifferenz, meint Uexküll (1990, S. 1280), sei es in der Begegnung zwischen Ärztin und Patientin zunächst wichtig, eine gemeinsame Wirklichkeit aufzubauen. Gadamer hält fest, dass es »zu dem Bestand solchen Abstandes gehört, dass Arzt und Patient einen gemeinsamen Boden gewinnen, auf dem sie sich verstehen, und es ist das Gespräch, das allein solches zu leisten vermag« (Gadamer 1993, S. 160).
Aber wo kommuniziert wird, kommt eine dritte soziale Gegebenheit, »ein System von Praktiken, Konventionen und Verfahrensregeln ins Spiel, das als Mittel fungiert, den Verlauf der Mitteilungen zu regeln und zu organisieren« (Goffman 1986, S. 40). So tasten sich, wie es scheint, Ärztinnen – wie auch das obige Zitat nahelegt – im Gespräch eher bedachtsam vor, wenn sie intendieren, die Perspektive der Patientinnen mit einzubeziehen. Und steht die Wahrung von Distanz und Respekt vor der Andersheit der Patientin im Vordergrund, werden Ärztinnen dies auch dann tun, wenn es für den weiteren Behandlungsverlauf eigentlich wichtig ist, möglichst schnell Informationen einzuholen.
Viertens ist aus soziologischer Sicht auf die Intersubjektivität der Begegnung hinzuweisen. Das heißt, Ärztin wie Patientin schreiben sich – wie auch im Eingangszitat geschehen – aufgrund ihrer Erfahrungen mit sich selbst und mittels der äußeren Zeichen der jeweils anderen bestimmte Eigenschaften zu. Man könnte auch sagen: sie typisieren und orientieren daran ihr Handeln. Voraussetzung dafür ist nach Schütz, dass beide davon ausgehen, dass die ihr Gegenübersitzende – genau wie sie selbst – Prozesse deutet und interpretiert, dass sie – wie sie selbst – sinnhaft handelt und dieses Handeln an ihrem Relevanzsystem entlang orientiert2, was nicht die Annahme impliziert, die Sinngehalte und Typisierungen wären kongruent.
Auch mit diesen soziologischen Charakteristika werden – wenn man so will – Klippen benannt. Sie liegen allerdings auf einer fundamentaleren Ebene und sind hierarchisch so aufeinander bezogen, dass es letztlich immer die Ärztin ist, die darüber entscheidet, wie das Gespräch und die Begegnung verläuft.
In diesem Kapitel wird davon ausgegangen, dass die Ärztin-Patientin-Beziehung in der Gynäkologie, deren asymmetrische Formung, die verschiedenen Wirklichkeiten beider Akteure oder auch die dort gängigen Praktiken sowohl durch die Tatsache, dass hier nur Frauen behandelt werden als auch durch Besonderheiten in den medizinischen Fragestellungen geprägt werden. Diesem Themenbereich wendet sich der zweite Teil zu. Wenn es um die Behandlungsgruppe der Frauen geht, kann auf die Altersproblematik – und hier leider auch auf die in der Gynäkologie besonders problematische Gruppe der jungen Mädchen – nur am Rande eingegangen werden. Es wird weiter davon ausgegangen, dass für die Begegnung in der Gynäkologie das dort übliche diagnostische Procedere von ausschlaggebender Bedeutung ist. Dieser Frage wird im dritten Teil, verbundenen mit einem Exkurs zum Thema Intimität und Scham, nachgegangen.
Um hinter den Themen liegende soziale Inhalte und Implikationen herauszuarbeiten, werden theoretische Anleihen vor allem bei Alfred Schütz (1994) und Erving Goffman (1967, 1984) aufgenommen. Mit Schütz kann der Blick zum einen auf die subjektiven Sichtweisen von Frauenärztinnen und Patientinnen, auf Bewusstseinsvorgänge: Orientierungen, Aufmerksamkeiten, Wahrnehmungen, die ihr Handeln und Verhalten lenken, gerichtet werden. Zum anderen wird es mit Schütz möglich, den Einfluss der Lebenswelt – der biografischen Erfahrungen oder lebensweltlicher Denkschemata in Bezug auf die Beziehung zwischen Ärztin und Patientin – zu diskutieren.
Mit Goffman, dem zweiten hier wichtigen Theoretiker, kann der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja, welche spezifischen Interaktionsstrategien, welche Rituale und Regeln in der Gynäkologie als Mittel fungieren, die dort zu verhandelnden Themen und zu umschiffenden Klippen zu managen.
Neben solchen theoretischen Rückbindungen werden in den Aufsatz Ergebnisse der Frauengesundheitsforschung aber auch eigene Forschungsergebnisse und Erfahrungen3 einfließen. Exemplarisch zitiert werden zwei interviewte Frauenärztinnen und zwar als Positivbeispiele im Sinne eines Handelns im »Modus von Respekt und Vertrauen«. Zu Wort kommen auch Patientinnen aus unterschiedlichen eigenen Forschungssettings.
1.2 Ausgewählte Kontexte – potenziell verunsichernde Handlungsrahmen
Siegrist (2005) stellt zutreffend fest, dass Forschungen über den »Einfluss von Behandlungskontexten auf klinische Entscheidungen erst am Anfang« (Siegrist 2005, S. 268) stehen. Für unseren Zusammenhang wichtig an dem Gesagten ist die damit verbundene Anerkennung, dass auch die Beziehung zwischen Ärztin und Patientin so kontextualisiert ist. Auf zwei für die Gynäkologie spezifische Kontexte soll im Folgenden eingegangen werden.
1.2.1 Besonderheiten in den medizinischen Fragestellungen
Eine Besonderheit des Behandlungsauftrages von Frauenärztinnen in Deutschland ist darin zu sehen, dass sie nicht nur Beschwerden oder Erkrankungen behandeln, sondern auch für Gesundheitsfragen zuständig sind. Dies ist für Frauenärztinnen selbstverständlich, aber ein im Hinblick auf die Spezifik ihres Arbeitsfeldes auch hervorhebenswertes Spezifikum. So fällt die Antwortet einer der interviewten Gynäkologinnen auf die Frage, was denn das Besondere an der Gynäkologie sei, wie folgt aus:
»Das Besondere in der Gynäkologie ist primär, dass es viele Bereiche gibt, die gar nicht krankhaft sind, sondern zu den physiologischen Veränderungen gehören. Im Frauenleben gibt es ja viele Phasen der Veränderung: Pubertät, Geschlechtsreife, dann der Übergang in die Wechseljahre und Senium.«
In welchem Umfang etwa die Verhütungsberatung oder »normale« physiologische...