1. Solide: Architektur und Wohnen
Die Lunge ist ein seltsames Konstrukt. Spielen Sie doch mal für einen Moment Schöpfer. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am Zeichentisch Ihres Konstruktionsbüros, und der Abnahmetermin für die Lunge ist in dieser Woche. Sie denken nach. Wie bekommt man dieses Organ nur halbwegs stabil im Brustkorb platziert? Sie grübeln. Die Statik ist kompliziert, kein Vergleich zu den anderen Organen. Das Gehirn? Liegt wie eine Auster in der Schale faul und unbeweglich da und hat irgendwo unten durch das Schädelloch ein paar Wurzeln ins Rückenmark geschlagen. Oder Leber und Eingeweide? Mehr oder weniger wahllos in Bauchhöhle und Becken gestopft, Deckel (Zwerchfell) oben drauf und Bauchwand vorne. Nieren? Rechts und links von innen an die Bauchhinterwand getackert, Harnleiter dran, fertig. Muskeln? Haben einen Ansatz (am Knochen), ein Ende (auch am Knochen) und dazwischen stabilisiert sie der gleiche Knochen.
Aber die Lunge? Sieht von außen aus wie die misslungenen Geschwister der Leber: drei Lappen rechts, zwei Lappen links. Hat man vergessen, die bei der Geburt zu trennen? Und innen: alles voller Knorpel. Ungenießbar, zum Verzehr nicht geeignet, wie vergällter Alkohol. Und dann hängt da noch etwas dran. Aus der Mitte entspringt ein flexibles, knorpeliges, 15 Zentimeter langes Rohr. Ist das eine Gänsegurgel? Oder ein Duschschlauch aus Fleisch? Wie bringen Sie dieses schwabbelige, asymmetrische, knochenlose Organ so in Form, dass es ausreichend stabil ist, um nicht in sich zusammenzufallen, und gleichzeitig so beweglich bleibt, dass es bei jedem Atemzug – 15-, 20-, 30- oder sogar 60-mal in der Minute –, bei jedem Ein- und Ausdehnen des Brustkorbs seine Funktion erfüllen kann?
Sie spielen ein paar Optionen durch. Hinstellen: Brustkorb oben öffnen, Organ rein und einfach unten auf dem Zwerchfell abstellen. Keine gute Idee – das Organ fällt als formlose Masse in sich zusammen. Die unteren Lungenteile werden von den oberen zusammengequetscht und weder optimal durchblutet noch belüftet. Wie wäre es mit »An-der-Gurgel-Aufhängen«, was in der Tat praktisch zu sein scheint, wozu hat man schließlich den Schlauch? Also Luftröhre am Ende mit den Halsorganen verbinden und die Lunge wie einen alten Schinken aus der Nationalgalerie daran baumeln lassen. Blöd nur, dass nun bei jeder Einatmung, jedes Mal, wenn das Zwerchfell die Lunge nach unten zieht, die Zunge in den Hals rutscht – wie bei einer alten Türglocke mit Seilzug: Dingdong, ist jemand zu Hause? Wie wäre es dann mit Ankleben oder Anschweißen von innen an die Brustwand? Zugegeben, so verteilt sich das Eigengewicht der Lunge wesentlich besser. Das Zwerchfell unten wird druckentlastet, auf die Halsorgane oben wirkt weniger Zugkraft. Allerdings würde die Lunge nun aufgrund der festen Verbindung mit der Brustwand bei jeder Ausdehnung des Brustkorbs an ihrer Oberfläche einreißen und »Luftlecks« bekommen. Kurz, keine dieser drei Lösungen ist perfekt.
Ganz anders dagegen die Lösung, die Mutter Natur zu bieten hat. Geht nicht, gibt es hier nicht! Der natürliche Bauplan sorgt mit einer Kombination verschiedener Mechanismen für eine gleichmäßige Verteilung der Druck- und Zugkräfte der Lunge im Brustkorb. Dieser Plan ermöglicht zudem durch eine einzigartige »Saugvorrichtung« eine sowohl feste, als auch mobile, gleitende Verbindung von Lungenoberfläche und innerer Brustwand. So bekommt die Lunge von innen ein stabiles Fundament, während von außen der Brustkorb eine Rüstung formt, die selbst mit roher Gewalt nur schwer zu durchdringen ist. Ein faszinierendes Heim, das zu einer ausführlichen Besichtigung einlädt. Ein Heim, in dem gearbeitet und geruht wird. Wo Erregung und Entspannung sich in einem Augenblick abwechseln. Wo aufgeräumt, entsorgt, erneuert und umgebaut wird. Wo Verfall ist, gegen den keine Reparatur hilft. Wo gekämpft, getötet und neu geboren wird. Wo Hoffnung ist und leider allzu oft auch Scheitern. Wo es, wie in einer Familie, eine übergreifende Gemeinschaft gibt, und doch Zwietracht, Eifersüchteleien, Neid, Konkurrenz und Abneigung herrschen können. Wo es schwarze Schafe und irre Großtanten gibt. Ein Heim, in dem es immer zieht, weil die Tür stets offen ist. Treten Sie also ein. Staunen Sie, und wundern Sie sich. Und, wenn Sie möchten, verlieben Sie sich ein bisschen in dieses Haus.
»Können Sie etwas sehen?« – »Ja, wunderbare Dinge!«: Der menschliche Atemtrakt von vorne bis hinten
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – für die Atemwege muss jedoch zunächst die Frage geklärt werden, wo genau dieser Anfang liegt. Wo beginnt der Atemtrakt? Wenn Sie jetzt antworten: »Am Mund«, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Die meisten Menschen würden dasselbe antworten – und dennoch falschliegen. Denn auch wenn wir ihn häufig zum Atmen, Küssen oder Rauchen missbrauchen, gehört der Mund anatomisch zum Verdauungstrakt. Er gleicht in seinem mikroskopischen Aufbau also eher dem Darm als den Bronchien, und er dient in erster Linie der Nahrungsaufnahme, nicht der Atmung.
Der Atemtrakt hingegen beginnt mit der Nase, die zahlreiche funktionelle und anatomische Gemeinsamkeiten mit den Bronchien hat. Der »liebe Gott« hat es so gewollt, dass wir vornehmlich durch die Nase atmen und nicht durch den Mund. Und er hat gute Gründe dafür gehabt, die im Kapitel »Vergiss mein nicht: Was unsere Nase mit der Lunge zu tun hat« erläutert werden.
Der Anfang wäre also geklärt. Wie geht es von da aus weiter? Dazu wollen wir einfach ein Sauerstoffmolekül auf seiner Reise durch die menschlichen Atemwege begleiten – von vorne bis hinten.
Die Nase markiert den Beginn des oberen Atemtraktes. Unser Molekül auf Pilgerfahrt beginnt seine Reise an den Nasenlöchern, passiert den Nasenvorhof und die hügeligen Verwerfungen der drei Nasenmuscheln und gelangt dann über die hintere Nasenhöhle in den Nasen-Rachen-Raum.
Hier gilt es, die Orientierung zu behalten, da sich im Rachen die »Schluckstraße« des Verdauungstraktes mit dem Atemweg kreuzt – und letzterer hat im Zweifelsfall Vorfahrt! Wie ein Verkehrszeichen hängt die bizarre Formation des »Zäpfchens« von der oberen Rachenschleimhaut herab und weist Richtung Süden: zum unteren Rachenraum. An dieser Stelle werden von der Natur Land- und Luftwege endgültig trennt: die Speiseröhre setzt die »Schluckstraße« aus Muskeln und Schleimhaut nach unten Richtung Magen fort. Sie liegt hinten im Hals, direkt vor der Wirbelsäule. Der Kehlkopf mit der unten anschließenden Luftröhre liegt vor der Speiseröhre. So wird er bei jedem Schluckakt vom Kehldeckel, der hinten an der Zunge befestigt ist, dicht verschlossen. Das heißt: Während des Schluckens können Sie nicht gleichzeitig atmen (und vor allem nicht reden) – und umgekehrt. Diesbezügliche Versuche kontert die Natur direkt mit einem Husten- oder – im schlimmsten Szenario – Erstickungsanfall. Bei Tisch wird geschwiegen! Das ist nicht Ausdruck jahrhundertelang gepflegter protestantischer Freudlosigkeit, sondern erfüllt durchaus einen wichtigen biologischen Zweck. Ganz im Sinne Darwins: Der stille Genießer kommt durch!
Mit ein wenig Pech könnte unser Luftmolekül an dieser Stelle auch verschluckt werden – und den interessantesten Teil der Reise verpassen. Doch zum Glück biegt es korrekt nach vorne ab und erreicht zwischen den beiden – zum Kehlkopf gehörenden – Stimmbändern hindurch die Luftröhre.
Hier beginnt der untere Atemweg und der längste, verwirrendste Teil der Reise: der Weg durch die Bronchien. Die Bronchien haben einen Anfang (die Luftröhre) und mindestens 400 Millionen Enden – so viele Lungenbläschen gibt es nämlich. Sie sind die Endstation unserer Tour.
Wie erklärt sich diese unermesslich große Zahl? Auf dem Weg zu den Lungenbläschen teilen sich unsere Atemwege und werden immer kleiner, immer dünner, immer zarter. Insgesamt passiert das 23-mal – und jedes Mal muss unser Molekül sich entscheiden: rechts oder links? Es gelangt von Autobahnen auf Bundes- und Landstraßen, in einspurige Gassen, schließlich auf Feldwege und Trampelpfade. Der letzte Pfad – nach 23 Abzweigungen – ist eine Sackgasse. Es gibt in unserer Lunge etwa neun Millionen dieser Sackgassen (223), und jede verfügt über 40 Parkplätze, die wie Trauben um das Ende dieser Sackgasse herum angeordnet sind: die Lungenbläschen oder »Alveolen«. Ist das nicht traumhaft? Unser Sauerstoffmolekül geht allein auf Reisen und kann aus knapp 400 Millionen Parkplätzen wählen.
Die Aveolen sind jedoch, streng genommen, kein echter Parkplatz, jedenfalls laden sie nicht zum Verweilen ein. Sie sind eher eine Art »Mautstation« auf dem Weg der Luftmoleküle ins Blut, dem endgültigen Ziel der Reise. Hier, und nur hier – in den Sackgässchen, den Alveolen – findet nämlich der Gasaustausch von Sauerstoff und Kohlendioxid statt.
Atemwege und Bronchien (bis etwa zur 16. Teilungsgeneration) können für ihre Visitenkarten zwar reklamieren, in »leitender« Funktion tätig zu sein – allerdings sollten sie sich darauf nichts einbilden. Diese »Leitungsfunktion« erfüllt im Gesamtablauf der Atmung eher eine »zuarbeitende« Rolle: Die Bronchien führen die Luft in das Sackgassengewirr der Alveolen. Hier erst durchdringt unser Sauerstoffmolekül die zarte Schranke zwischen Luft und Blutgefäßen – das andere Transportsystem, das die Lunge durchzieht. Es klatscht sich beim Grenzübertritt mit einem entgegenkommenden Kohlendioxidmolekül ab und kuschelt sich an ein rotes Blutkörperchen. So findet es seine Vollendung: Mit dem Blutstrom gelangt es zurück...