3. Von der Locus–Einstellung zum Master Space – Zur Geschichte und Entwicklung der filmischen Raumdarstellung
Filmische Raumdarstellung – im Alltagsverständnis scheinen damit Orte gemeint zu sein, an denen die Handlung eines Films situiert ist. Ausgehend von der Annahme, das technische Bild vermittle eine Abbildung der Wirklichkeit, haben auch erfahrene Zuschauer den Eindruck, ein originalgetreues Bild der vorfilmischen Umgebung zu erhalten. Tatsächlich aber wird der filmische Raum erst bei der Rezeption vom Zuschauer entworfen; sehr wahrscheinlich entstehen dabei so viele Raumhypothesen[57] wie Zuschauer im Publikum sitzen. Damit sich die verschiedenen Raumhypothesen in den Köpfen trotzdem ähnlich, kontinuierlich und unzweifelhaft entwickeln können, sind im Lauf der Filmgeschichte eine Vielzahl an Methoden der Raumkonstruktion entstanden, die sich später zu Darstellungskonventionen weiterentwickelt haben. Filmische Raumdarstellung meint also die Gesamtheit dieser Techniken und Strategien, deren Entwicklung im folgenden Abschnitt beschrieben werden soll.
3.1 Die Raummechanismen der starren Bildmedien
Seit der Antike beschäftigen sich die Bildmedien mit der Frage, wie aus einem zweidimensionalen Netzhautbild eine dreidimensionale Raumvorstellung abgeleitet werden kann. Einige depth cues[58] hat der Film von Malerei und Fotografie übernommen. Zum Beispiel müssen sich Gestalt und Umriss der Objekte deutlich vom Hintergrund der Szene abheben. Sein Wissen über die Wirklichkeit ermöglicht dem Rezipienten, das Erkannte zu interpretieren und unbekannte Objekte durch ihre relative Größe in den Zusammenhang einzuordnen. Die Abbildung von Architektur schafft einen Rahmen für die Raumwahrnehmung, reduziert die Komplexität und macht schnelle Orientierung möglich. So findet sich der Betrachter in einer Säulenhalle schneller zurecht als in einem wild wuchernden Wald.
Der prägendste Raummechanismus, den der Film von den älteren Bildmedien übernommen hat, ist der zentralperspektivische Code. Die ersten Bildräume finden sich an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert auf Tafelbildern und Fresken. Durch eine perspektivische Anordnung wurden der bloßen Aufsicht Seitenwände hinzugefügt, die so einen szenischen Raum konstruieren, in dem die Figuren in Beziehung zueinander treten und Bezugspunkt für andere sind.[59] Diese zunächst linearperspektivische Darstellung wurde in der italienischen Renaissance (14. bis 17. Jahrhundert) von dem Architekten Filippo Brunelleschi und Malern wie Leonardo da Vinci, Raffael und Michelangelo zur Fluchtlinienkonstruktion weiterentwickelt. Über die Fluchtlinien treten die Größenverschiebungen und Objektabdeckungen untereinander in einen regelhaften Zusammenhang. Die Anordnung der Objekte im Bild wird mathematisch prognostizierbar und kann erlernt werden. Mit den gleichen geometrischen Regeln definiert auch der audiovisuelle Bildkader den Ort, von dem aus das Geschehen aufgenommen wurde. Dabei hat der frühe Film im Gegensatz zu Malerei und Photografie den starren Blickwinkel und die Zeitstruktur der Perspektive[60] mit weiteren Raummechanismen modifiziert.
3.2 Die Raummechanismen des frühen Films
Die Phase des frühen Films wird zwischen 1895 und 1907 angesetzt. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat die Dynamisierung des Raumes als Besonderheit des neuen Mediums beobachtet.[61] Dieser Eindruck der Dynamisierung entsteht zunächst durch die Bewegung der Objekte innerhalb des gezeigten Raumausschnitts. Die Umrisslinien, die sie vom Raum trennen, verändern sich, die Gegenstände gewinnen an Kontur. Durch die Geschwindigkeit der Bewegung wird die relative Lage eines Objekts im Raum erschließbar. Im Vordergrund bewegen sich die Objekte schneller, im Hintergrund langsamer. Allein dieser Effekt der ungewohnten Räumlichkeit und Tiefe vermochte das Publikum des frühen Films zu erschrecken. So verließen viele Zuschauer bei der Premiere des Films der Brüder Lumière Arrivée d´un train au gare (1895) fluchtartig ihren Platz, da sie fürchteten, von dem auf der Leinwand herannahenden Zug überfahren zu werden. Zu dieser Zeit war der Film eine Jahrmarktsattraktion oder Teil einer Nummernrevue. Den Vorführern war daran gelegen, die aufregende Wirkung der neuen Technik zu verstärken. „Oft wurde mit einem Standbild begonnen, um die Dramatik beim Wechsel in die Bewegung zu erhöhen.“[62]
Mit Verbesserung der Bildqualität wurde auch die Schärfe eines Objektes zum Indiz für dessen räumliche Lage. Da die Kamera nur eine Zone scharf abbilden kann, wird so immer ein Verhältnis zu den anderen Bildebenen etabliert. Hierin besteht eine Verwandtschaft zum natürlichen Sehen. So sorgt zum Beispiel das Temperaturflimmern der Atmosphäre bei großem Abstand für Unschärfe.
Ebenso können Lichtcodes als Raumindizien fungieren. Eine gemeinsame Lichtquelle bezieht verschiedene Gegenstände aufeinander, Jalousien rastern Räume und Gesichter, glänzende Stoffe und Schatten modifizieren die Plastizität und Körperlichkeit der Figuren und „generieren einen eigenen Typ von Bewegung, der geeignet ist, das Bild rein optisch aufzuladen.“[63]
Die Raumästhetik des frühen Films war keiner Erzähllogik unterworfen, sie war unabgeschlossenes und selbstbezügliches Spektakel. Der Rezipient war nicht nur dem Leinwandgeschehen zugewandt, sondern in Interaktion mit anderen Zuschauern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befürchtete man eine gesellschaftliche Destabilisierung durch das Aufeinandertreffen bisher getrennter sozialer Schichten und das ungestörte Nebeneinander von Mann und Frau im dunklen Kinosaal. Erst mit Einführung abgestufter Preissegmente und einer neuen Kinoästhetik verlor das Kino die moralische Bedrohlichkeit einer Jahrmarktsattraktion.[64]
3.3 Die Raummechanismen der ersten narrativen Filme
Aus den Prinzipien der Literatur und des Theaters entstand eine neue bürgerliche Filmästhetik, um mehr Zuschauer zu gewinnen. Mit einer Rahmenhandlung versehen, wurde die Attraktion in eine Geschichte überführt. Das Szenenbild ähnelte zunächst der Theaterbühne, mit einem zum Zuschauer hin geöffneten Bühnenraum, in dem alle Aktionen gleichzeitig für die Kamera sichtbar waren. Dieses Raumschema wird als Locus–Einstellung bezeichnet. „Loci sind Räume in denen Szenen spielen, dramatische Einheiten von Raum, Zeit und Handlung“[65] Zur Konstruktion der Raumtotale wurde die Kamera im rechten Winkel zur Bühne positioniert, dem kanonischen Kamerastandort[66]. Die kanonische Kamerahöhe ist die Kopfhöhe der Darsteller. Handlungsraum und Kameraraum bleiben dabei strikt voneinander getrennt, was nicht nur Starre und Bewegungslosigkeit sondern auch einen Informationsüberschuss der Raumtotalen zur Folge hat. Eine Fokussierung auf Einzelheiten oder eine Beschleunigung des Geschehens ist so schwer zu erreichen.
So mussten auch die ersten Filme mit unheimlichen oder phantastischen Sujets auf einfache Methoden zurückgreifen, um den gewünschten Effekt beim Publikum zu erreichen. Zwischen 1913 und 1933 entstanden die sogenannten Gothic Horror Filme, deren Stoffe auf Schauerromane und Volksmärchen zurückgehen. Hier waren vor allem Dekors, Licht und Stimmung von Bedeutung: Alte Häuser, Spinnweben und schlechte Lichtverhältnisse erzeugten die geeignete Atmosphäre für Filme wie Frankenstein (J. Searle Dawley, 1910) und Der Golem. Diese Umstände rückten den Film automatisch in die Nähe der Kunst. Das Cabinet des Dr. Caligari gilt als Meisterwerk des Expressionismus. Der Film erzählt eine Geschichte aus der Perspektive eines psychisch Kranken. Schein und Sein sind nicht auseinander zu halten. Die innere Realität des Protagonisten wird von dem expressionistischen Bühnenbild aufgenommen. „Flächige Kulissen offenbaren eine fiebrige Unruhe. Bedrohliche Veränderungen der Perspektive geben der Architektur ein erschreckendes Leben, sie negiert die Ordnung des rechten Winkels und der geraden Linie.“[67] Das Cabinet des Dr. Caligari gilt als Meilenstein der Filmgeschichte. Der Film ist „seiner Struktur nach an der Grenze zwischen phantastischem Film und psychologischem Thriller angesiedelt,“[68] und könnte daher als Vorgänger des Angstfilms der 1960er und 1970er Jahre betrachtet werden.
3.4 Die Raummechanismen des klassischen Erzähkinos
Die Phase des klassischen Erzählkinos wird zwischen 1907 und 1960 angesetzt. Zu Anfang gab nur es nur wenige Operationen mit Raumeffekt. Die erste Innovation war der Heransprung der Kamera auf der direkten Achse. Die Entwicklung dieser Form der Nahaufnahme geht auf David Wark Griffith zurück, der mit Adventures of Dollie den ersten Thriller der Filmgeschichte schuf. Er nutzte das Suspense-Potential der Nahaufnahme, um z.B. Gefühle und Hilflosigkeit des Protagonisten zu betonen oder die Größe der Gefahr zu verdeutlichen. Griffith hatte erkannt, dass Suspense und Schock durch Raummechanismen ausgelöst werden können. Zwischen 1908 und 1912 hat er zahlreiche Suspense–Techniken ausprobiert. „Die Entwicklung des Thrillers bedeutete die Erfindung filmischer Methoden, das Bild von einer in Gefahr geratenen, unschuldigen Person und ihrem Verfolger so...