Milesische Naturphilosophen
THALES
(* um 640 v. Chr. Milet, † um 560 Milet [?]),
ANAXIMANDROS
(* um 610 v. Chr. Milet, † 546 Milet [?]),
ANAXIMENES
(* um 580 v. Chr. Milet, † um 520 Milet [?])
THALES, ANAXIMANDROS und ANAXIMENES sind die ältesten sogenannten vorsokratischen griechischen Naturphilosophen; sie stammen alle aus Milet an der kleinasiatischen Westküste (Ionien), einer griechischen Kolonie mit ausgeprägter Handelsvermittlung zwischen dem Orient und dem griechischen Mutterland, die ihrerseits zahlreiche Kolonien gründete (unter anderen Mitte des 7. Jahrhunderts den Stapelplatz Naukratis im Nildelta, das seit König Amasis als einzige griechische Handelniederlassung in Ägypten zugelassen war), so dass mit der Handelsware auch das Wissen der die griechische Welt umgebenden Kulturen hier zusammenfloss und ob seiner Widersprüchlichkeit zu neuartigen Erklärungen regelrecht aufrief. Im siebten und sechsten Jahrhundert, seiner Blütezeit, war Milet als Handels- und Kulturmetropole die bedeutendste Polis Griechenlands und Keimzelle auch des naturphilosophischen Denkens, das sich hier innerhalb einer geistigen städtischen Elite entwickeln konnte, die erst die ›Literatur‹ als Kommunikationsmittel über Distanzen hinweg neben dem informativen Vortrag von hexametrischen Lehrgedichten durch Wanderrhapsoden (so etwa der Dichtungen von HESIODOS und EMPEDOKLES VON AKRAGAS) schuf.
Aus dem Leben der drei Protagonisten ist fast nichts bekannt, allein für THALES lässt sich aus seinen Angaben eine Ägyptenreise erschließen, von der er in seiner Schrift, offenbar einem ›Periplous‹, über aus Griechenland Bekanntem Widersprüchliches berichtete: Nilschwelle im Sommer, wenn in Griechenland die Flüsse trocken fallen (als von den gleichzeitig in Griechenland wehenden Nordwinden verursachter Rückstau des Wassers erklärt), Pyramiden (Verfahren der Höhenmessung aus der Schattenlänge) usw. Aufgrund des von einem Kundigen vorhersehbaren Ertrags soll er eine Olivenernte aufgekauft und so ein großes Vermögen erworben haben. Mit Hilfe babylonischer, empirisch gewonnener Finsternisperioden sagte er die Sonnenfinsternis vom 28. Mai für das Jahr 585 voraus. Während sein Werk bis auf einige gesondert überlieferte markante Sätze schon ARISTOTELES nicht mehr bekannt war, blieb die in hohem Alter verfasste Schrift des ANAXIMANDROS mit dem wahrscheinlichen Titel ›Über die Natur‹ bis ins 2. vorchristliche Jahrhundert erhalten, so dass sich aus den antiken Berichten ein gutes Bild von diesem frühen Prosawerk der abendländischen Geistesgeschichte ergibt. Es stellt eine alle Bereiche der Natur umfassende Synthese griechischen Ordnungsdenkens, wie es auf kosmogonischer Ebene die ›Theogonie‹ des HESIODOS (7. vorchristliches Jahrhundert) repräsentiert, und orientalisch-babylonischer Kosmogonie und Naturkunde dar und sollte Wesen und Zielsetzungen wissenschaftlicher Naturbetrachtung der Klassischen Antike bestimmen. Die theogonische Kosmogonie des HESIODOS, die den Kosmos durch eine Abfolge von Göttergenerationen (als Naturhypostasen) entstehen lässt, wird darin weitgehend entmythologisiert und entgöttert, wenn auch die Göttlichkeit des Kosmos erhalten bleibt.
Als Urstoff und Urprinzip alles Seienden nimmt ANAXIMANDROS im Anschluss an das göttliche ›Chaos‹ bei HESIODOS, in das hinein der ›Kosmos‹ geboren worden sei (und das sich deshalb jetzt außerhalb der von Himmel und Unterwelt gebildeten, die Erdscheibe als Großkreis enthaltenden Kugel befinde), ein quantitativ und qualitativ noch nicht Bestimmtes, das ›Apeiron‹, an, dem auch dieselben göttlichen Attribute der Unsterblichkeit und Alterslosigkeit wie den Göttern HESIODOS’ zuerkannt werden. Es soll aufgrund eines ewig bewegenden Zeugungsprinzips aus sich das Warme und Kalte, das Trockene und Feuchte als qualitativ bestimmte gegensätzliche Ausscheidungen ›gebären‹, die sich dann als Wasser und Feuer in Schichten um die wohl wie bei HESIODOS spontan nach und in dem Apeiron entstandene, jetzt jedoch frei schwebende feste Erdscheibe legen sollen – Wasser innen, Feuer außen. Die Gegensätze hätten sodann aufeinander einzuwirken begonnen: Das Feuer verdunstete das die ganze Erde bedeckende Wasser allmählich – die Erde erhalte trockene Stellen, die Meere würden immer kleiner und salziger –, und dieses lege sich als feuchter, undurchdringlicher Nebel unter das Feuer und »wie die Rinde um einen Baum« um dieses herum, so dass sich große mit Feuer gefüllte kreisförmige nebelige Schläuche ergäben, die sich wie Räder um die Erde als Achsnabe drehten. Die Erdscheibe, deren Höhe einem Drittel ihres Durchmessers entspreche, schwebe frei in der Mitte, weil ein hinreichender Grund fehle, warum sie sich eher zur einen als zu einer anderen Seite bewegen solle. Sonne und Mond bestünden aus je einem solchen radförmigen Schlauch von der Dicke eines Erddurchmessers, und was uns als Sonne und Mond erscheine, sei das aus einem runden Loch in den Schläuchen »wie von einem Blasebalg« zur Erde hin geblasene innere Feuer. Der innere Durchmesser der Schläuche betrage für die Sonne 3×9, also 27, und für den Mond 2×9, also 18 Erddurchmesser. Innerhalb von ihnen befinde sich die vermutlich wie bei ANAXIMENES ›eisartig‹ (kristallen) gedachte Himmelshohlkugel mit einem Durchmesser von 1x9 Erddurchmessern, durch die das äußere Feuer als Fixsterne durchschimmere – die Planeten werden bei ANAXIMANDROS noch nicht berücksichtigt.
Dieses sei jedoch nur der gegenwärtige Zustand des Kosmos; denn ähnlich wie das vom Feuer besiegte Wasser seinerseits das Feuer besiege, entstünden alle Dinge dadurch, dass sie sich durch ein Überschreiten ihrer Grenzen an die Stelle eines anderen setzten und aus diesem entstünden, sich also im Sinne der griechischen ›Hybris‹ schuldig machten. Die ihre Schuld wieder ausgleichende Sühne bestehe darin, dass ihnen dasselbe Schicksal zuteil werde. So entstünden in ständigem Wechsel die Dinge wie Sommer/Winter, Tag/Nacht, Geburt/Tod usw. Auch das Austrocknen und Überschwemmen der Erde erfolge abwechselnd nach solchen Perioden, so dass es viele Welten nacheinander gebe und die gegenwärtige zu bestehen aufhöre, wenn alle Feuchtigkeit der Erde entzogen sei. In den Prozess des Verdunstens des Wassers und des Trockenwerdens der Erde bezog ANAXIMANDROS dann konsequent alle atmosphärischen Erscheinungen und Lebensprozesse mit ein, und auch die maritimen Fossilien und Muschelschalen in gegenwärtig vom Meer abgeschlossenen Höhen finden im Sinken des Meeresspiegels eine Erklärung (THALES hatte sie umgekehrt mit dem Aufsteigen der mit einem Schiff, das entladen wird, verglichenen Erdscheibe erklärt). Jenes Schuld-und-Sühne-Prinzip, das schon HESIODOS als Grund für die Machtfolge der einzelnen Göttergenerationen angeführt hatte, kann durch die Übertragung auf alles Geschehen in der Natur als erstes Erkennen einer Art von Naturgesetzlichkeit aufgefasst werden, und die von ihm im Sinne der gleichzeitigen geometrischen Kunst eingeführte geometrische Formung des Kosmos und der Erde, deren angenommenen Verhältnismaße es ANAXIMANDROS ermöglichten, einen ersten Himmelsglobus und eine erste Erdkarte zu konstruieren, war eine der Voraussetzungen für die spätere griechische Wissenschaft von der Natur. Mit Hilfe von Schattenmessungen mit dem von den Babyloniern übernommenen Gnomon gelang ihm zudem erstmals eine Bestimmung der Mittagshöhe der Sonne zur Zeit der Sonnenwenden und damit der Schiefe der Ekliptik als der Rotationsebene der Gestirnsschläuche. Auch die Sonnen- (und Mond-)wenden erklärte er meteorologisch: die Zusammenpressung der Luft beim zur Drehrichtung senkrechten Hin- und Herbewegen der Gestirnsschläuche bewirke im Rhythmus des Jahres eine ausgleichende Gegenbewegung. Für die nachfolgende Astronomie war die Zusammensetzung der erscheinenden Bewegung der Gestirne (Sonne und Mond) aus zwei physikalischen Einzelbewegungen, der täglichen Rotation der Gestirnsschläuche in der Ekliptikebene um die Erde und ihrer dazu senkrechten Auf- und Abbewegung in jährlicher beziehungsweise monatlicher Periode, wegweisend gewesen. Die Grundzüge der kreisförmigen Erdkarte von ANAXIMANDROS lassen sich rekonstruieren, da sein Landsmann HEKATAIOS (* um 560/550 Milet, † um 485) sie verbesserte und Teile der Karte sich aus der Kritik erschließen lassen, die HERODOTOS (Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts aus dem kleinasiatischen Halikarnassos) daran aus besserer Anschauung üben konnte. Die durch Mittelmeer, Schwarzes Meer und Phasis in Europa und Asien halbierte, vom Okeanos umflossene Erdscheibe (deren Südhälfte später durch den Nil nochmals in Afrika und Asien unterteilt werden sollte) setzt sich danach aus geometrischen Figuren zusammen, die durch Flüsse, Küsten, Gebirge und anderes als natürliche Grenzen gebildet werden. Diese ›ionische‹ Erdkarte (T-Karte) blieb bis ERATOSTHENES maßgeblich und wurde auch im christlichen Mittelalter noch verwendet, wobei man allerdings das antike heilige Zentrum Delphi durch...