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E-Book

Die Bedeutung in der Musik und die Musik in der Bedeutung

AutorMatja? Barbo
VerlagHollitzer Wissenschaftsverlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl134 Seiten
ISBN9783990124178
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Wenn wir Musik hören, werden wir auch immer mit einem Paradoxon konfrontiert: Musik wirkt auf uns einerseits wie eine unmittelbare Sprache der Klänge, tiefgründig und emotional, andererseits gibt es musikalische Ausdrucksformen, die uns zunächst verschlossen bleiben und einer eingehenderen Auseinandersetzung bedürfen. Es geht also immer genauso um irrationale Ungreifbarkeit, sinnliche Freude und klangliche Glückseligkeit, wie um vernunftmäßige Fassbarkeit und rationale Bestimmbarkeit von Musik. Matja? Barbo widmet sich dem Kreislauf dieser rezeptorischen Gegensätze und kommt einem faszinierenden Widerspruch auf die Spur, ohen sich die Illusion zu machen, ihn auflösen zu können.

Matja? Barbo ist ordentlicher Professor und Leiter des Instituts für Musikwissenschaft an der Universität Ljubljana. Er war über zehn Jahre lang Chefredakteur der internationalen Musikwissenschaftszeitschrift Muzikolo?ki zbornik/Musicological Annual und ist als Redakteur für mehrere wissenschaftliche und fachspezifische Periodika tätig. Sein Forschungsschwerpunkt sind Fragestellungen zur Musik des 18. Jahrhunderts bis heute. Veröffentlichung zahlreicher Bücher, Fachartikel, populärwissenschaftlicher Texte und Übersetzungen auf dem Gebiet der Musikwissenschaft.

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Leseprobe

2. MUSIK ALS OBJEKT


2.1. GREIFBARKEIT DER MUSIK


Einer der größten historischen „Mängel“ der Musik, wegen dem sie ständiger Kritik ausgesetzt war, ist ihre Ungreifbarkeit, ihre ontologische Unfassbarkeit und somit auch ihre scheinbare Nutzlosigkeit. Die mittelalterliche Glorifizierung der schönen und nützlichen Arbeit (opus pulchrum et utile) – d. h. das Schöne muss mit dem Guten bzw. Nützlichen einhergehen und seine utilitaristische Funktion ist ihre Conditio sine qua non – hat in großem Maße auch die Musik negativ beeinträchtigt. Im Unterschied zu einer schönen Vase, in die man Blumen geben und somit das Heim verschönern konnte, oder zu Fresken als Armenbibel (biblia pauperum), die mit ihren theologischen Botschaften die in der Kirche versammelten Gläubigen ansprach, blieb die Musik ein nicht zu erhaschendes klangliches Flimmern der Luft ohne jedwede materielle Substanz, ungreifbar und unfassbar, das so schnell verschwindet, wie es vor den Zuhörern erschienen ist. Vor verhängnisvollen Urteilen wurde sie einerseits durch den Konnex mit der Zahlenlehre bewahrt, der zufolge sie durch ihre harmonische Ordnung legitimiert wurde. Und doch war diese ihre spekulative Ausrichtung auf das Zählen manchmal unempfindlich für den tatsächlichen Tonreichtum und übersah den sinnlichen Genuss der sich rhythmisch bewegenden Klangwelten. Aus diesem Grund kam ihr andererseits der Sinn zu Hilfe, den sie durch den von außen hinzugefügten Inhalt erhielt – d. h. vor allem Text oder ein inhaltlicher Kontext, in dem sie auftrat. In diesem Zusammenhang konnte sie beispielsweise einen in Worten verborgenen Ausdruck bestärken und ihm neue Macht verleihen. Trotz seiner fast schon peniblen Trennung der Geister gestattete Augustinus von Hippo der Musik den Eintritt in die Kirche gerade wegen ihrer außerordentlichen Macht in der Vertiefung des Ausdrucksinhalts von religiösen Texten, obwohl er dazu tendierte, sie wegen ihrer zu starken Sinnlichkeit zu verbannen (2003).

Die Sehnsucht nach einer materiellen Substanz der Musik beschäftigte die Wissenschaft von jeher. Von unumstrittener Bedeutung war der Moment der Bewusstmachung von Musik als abgeschlossenes und abgerundetes musikalisches Werk, d. h. als geschlossenes Objekt, das man beobachten und letztendlich auch beanspruchen kann (Goehr, 1992). Von fundamentaler Bedeutung war die Erfindung der Notation, die der Musik nunmehr eine eigene Substanzialität gewährleistete, unabhängig von ihrem Schöpfer bzw. Interpreten. Als Guido von Arezzo Papst Johannes XIX. die revolutionäre Neuheit der Aufzeichnung von Musik in ein Notensystem vorstellte, errichtete er der musikalischen Unsterblichkeit ein einzigartiges Denkmal, vergleichbar mit der eingemeißelten Inschrift auf dieser Marmorplatte.

Abb. 7: Gedenktafel für den Mönch Guido, angebracht an seinem Geburtshaus in Arezzo (Quelle: wikimedia.org)

Es folgte eine logische Erkenntnis des eigenständigen ontologischen Status der Musik, den Johannes Tinctoris in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit der Definition von Musik als opus absolutum bestimmt, wobei er bereits von dem fest verankerten Bewusstsein über Musik – materialisiert in ihrer Notation, losgelöst sowohl von Schöpfer als auch Interpret – ausgehen konnte. Etwa ein Jahrhundert später gab Nicolaus Listenius der erwähnten Verankerung eine passende Bezeichnung und machte sie terminologisch fest. Das war die Geburtsstunde des Bewusstseins über die Geschlossenheit und Abgerundetheit der Musik im Sinne eines vollständigen Musikwerks, das ein eigenständiges Leben führt, unabhängig von seinem Schöpfer, unabhängig auch von jedweder konkreten Aufführung zu einem gewissen Zeitpunkt, sogar unabhängig davon, ob das Werk schon jemals erklungen sein mochte.

Somit schärfte das niedergeschriebene Werk aber auch das Bewusstsein für seinen Schöpfer. Die Geburtsstunde des Musikwerks stellt indirekt auch die Geburtsstunde des Komponisten dar. Davor war die Rolle des Urhebers von eher geringer Bedeutung. Der Komponist war üblicherweise auch der erste Interpret seiner Musik, und mit der ersten Aufführung spielte er keine Rolle mehr. Die Musik war nur im Bewusstsein der Zuhörer und jener Interpreten lebendig, die sie in weiterer Folge wieder aufleben ließen und sie gleichzeitig mit jedem Mal mitgestaltend überarbeiteten. Jeder Musiker (sogar wenn es sich um den Urheber handelte) merkte sich die ursprüngliche Idee nämlich nur teilweise, außerdem verlangte jede neue Aufführung andere Betonungen, tendierte zu Innovationen und Veränderungen. Vielmehr als Originalität wurde durch die Geschichte die musikalische Überzeugungskraft im Moment der Aufführung geschätzt: „Nicht neu um jeden Preis, sondern gut“ lautete das Prinzip, das es zu befolgen galt. Es erinnerte an die Maxime theoretischer Traktate, in denen nicht nach Neuerungen, sondern durch ausschweifende Nennungen alter Autoritäten (nicht wegen ihrer Namen, sondern wegen der Tiefe ihrer Erzählungen) und im Einklang mit deren Denken nach Wegen zur Wahrheit gesucht wurde.

Derlei kann man noch heute in der Volkskunst beobachten, die von Mund zu Mund und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Auch hier verblasst die Erinnerung an den Initiator dieses Prozesses schon früh, schließlich handelt es sich bei der Weitergabe um einen endlosen Prozess, bei dem die konkrete Aufführung nur ein kleiner Teil einer größeren Handlung und die Anpassung an die Aufführungsumstände ein notwendiger Bestandteil der Interpretation ist.

Der Prozess der Objektivation löste nach Guido von Arezzo somit zum ersten Mal das Bewusstsein über die Bedeutung einer subjektiven kreativen Erfindungskraft aus, die hinter einem konkreten Musikwerk steht. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, dass man aus der Zeit davor praktisch keine richtigen Musikschaffenden kennt und dass Komponistennamen erst mit der Notre-Dame-Schule auftauchen, als sich das Aufzeichnen von Musik etabliert, die Musik von einem Prozess zu einem Werk wird und damit einhergehend auch der erste Schöpfer eines fest gestalteten und unveränderbaren Opus ins Bewusstsein der Musiker tritt.

Das Musikwerk als phänomenologisch eigenständige und unabhängige Entität trug wesentlich zu zahlreichen historischen Veränderungen bei. So ermöglichte sie beispielsweise die Vereinheitlichung der westlichen Liturgie, wonach schon die karolingischen Reformen gestrebt hatten. Sie öffnete einer umfangreicheren und vor allem komplexeren Ordnung der Musikwelt Tür und Tor, und dies führte schrittweise zuerst zur Polyphonie und später zu allen entwickelten musikalischen Strukturen, reinen Formen harmonischer und rhythmischer Räume, zu himmlischen Weiten verschiedenen Flechtens und Trennens von Linien, ihren Imitationen, Spiegelungen, Inversionen, Augmentationen und Diminutionen, des Zusammenfügens und Zerreißens, von Fugatos und Kanons, Ricercari und Passacaglien. Gewissermaßen sind alle aus der Musikgeschichte bekannten komplizierten Kompositionsprozesse eine Folge dieser Neuerung. Man könnte sagen, dass eine derartige Wahrnehmung von Musik als eigenständiges phänomenologisch abgerundetes System in der Folge auch Raum für Tonalitätsbestimmungen, für die Entstehung von Dur und Moll schafft und letzten Endes auch für ihr Verschwinden in der atonalen Masse von verschiedenartigen Verbindungen sorgt.

Zur immer deutlicheren Vorherrschaft der musikalischen Bedeutung im Sinne eines opus perfectum et absolutum trug auch die neuzeitliche Fixierung auf die Vernunft bei, die Verherrlichung ihrer Fähigkeiten in der Beherrschung von Kosmos, Natur und nicht zuletzt Musik. Aus diesem Grund ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese Entwicklung ihren Höhepunkt zur Zeit der größten Verehrung des Musikgenies als Schöpfer einer einmaligen, einzigartigen und unwiederholbaren Musikform erlebt. Diese entsteht im Aufeinandertreffen mit dem bis dahin vorherrschenden Verstehen von Musik als sich verändernder Prozess, in dem alles einem ständigen Wandel unterworfen ist. Dahlhaus unterstreicht den erwähnten Antagonismus mit dem Paar Rossini – Beethoven, wobei er einen Typus des Komponisten darstellt, dessen Werke sich in der Funktion einer möglichst überzeugenden konkreten musikalischen Aufführung befinden (1980). Dieser können sie sich in der konkreten Produktion natürlich anpassen, der Interpret hat dabei (relativ) freie Hand. Der Rossini’sche Kompositionstypus ist somit zumindest grundsätzlich offen für jede Interpretation. Auf der anderen Seite bedeuten Beethovens Werke unveränderbare Denkmäler, deren Interpretation immer nur die Funktion einer Erklärung des unantastbaren Werks innehat. Beethovens Kompositionen sind das Resultat eines unbegreiflichen Musikgenies, das mithilfe von zahlreichen Interpretationen nur nach und nach zu verstehen ist, weswegen der Interpret keinen Strich seiner Aufzeichnung zu verändern hat.

Die Partitur stellt in diesem Sinne eine fest ausgearbeitete Form dar, deren Inhalt sich nur dem aufmerksamen Leser offenbart. Ihre inhaltliche Verständlichkeit und damit ästhetische Überzeugungskraft geht von ihr selbst aus, von der materialisierten Ganzheit, der verbalisierten bzw. vertonten einheitlichen Geschlossenheit ihrer Erzählung. Die geschlossene Abgerundetheit der musikalischen Erzählung gewährleistet folglich eine materialisierte Objektivation der Musik.

Bei Beethoven wird dies in der Tendenz der zyklischen Abrundung umfangreicher Musikstrukturen sichtbar, die sowohl im inhaltlichen als auch formalen Sinn einheitlich sein sollen. Das gilt im Grunde auf allen Ebenen der Materialisierung von musikalischer...

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