I.
Europa ist nicht die Erfindung moderner Politiker. Es entstand auch nicht 1952 mit den Römischen Verträgen. Europa besteht als politische Größe seit mehr als tausend Jahren. Es unterscheidet sich allerdings von jenem alten, vom klassischen Europa in der antiken Welt vor zwei-, vor dreitausend Jahren, das man gern als seine Grundlage bezeichnet, benannt nach der Jungfrau, die der Stier von Asien nach Kreta entführte. Doch die antike Mythologie ist letztlich kein hinreichender Beitrag zur neueren europäischen Selbstdefinition.
Eine solche Selbstdefinition hat zwei Schwierigkeiten: Zeus, der Stier, entführte die Jungfrau Europa nicht nach Paris und auch nicht nach London, denn der Mythos vom alten Europa spielt am Mittelmeer. Das neuere Europa jedoch entwickelte sich zum größten Teil nördlich der Alpen. Und das zweite Problem, wonach das alte und das moderne Europa nicht so gut übereinstimmen: Das neuere, das mehr als tausendjährige Europa der jüngeren Geschichte, kannte die antiken Mythen nur nebenbei. Es nannte sich in früheren Jahrhunderten nur selten danach, sondern galt lange Zeit als »die katholische Christenheit« oder »das lateinische Abendland«. Europa ist ein Begriff der Aufklärung.
Lange Zeit war Europa mehr oder minder identisch mit der katholischen Kirche, zum Unterschied von der orthodoxen, der griechischen Christenheit oder, wie Luther sagte, dem »Morgenland«. Aber eben seit Luthers Zeiten trifft diese Unterscheidung nicht mehr recht zu, weil die westliche Christenheit zum guten Teil nicht mehr katholisch war und die östliche zum guten Teil gerade damals türkisch wurde. Zudem sind da noch Probleme mit dem Osten Europas, der freilich zu allem Überfluss auch noch als Norden bezeichnet wurde, Russland. Die Ukraine und Russland waren seit der Jahrtausendwende christlich, beide waren orthodox nach ihrem Bekenntnis, aber sie waren nach ihrer Kirchensprache nicht griechisch, wie die orthodoxe Christenheit, sondern slawisch.
So hatte man im Mittelalter schon seine Probleme. Heute ist das noch schwieriger, denn man kann nicht mehr, wie noch vor tausend Jahren, von der Christenheit sprechen, wenn man insgesamt dieses Europa meint. Man nennt es oft westlich. Damit ist aber irgendein nicht näher definierter Osten ausgeschlossen. Das russische und das ukrainische Europa wird gar nicht selten einem »Westen« gegenübergestellt, der nun aber seinerseits über den Ozean greift. Gemeint ist damit nicht ganz Amerika, sondern die USA und Kanada.
Verwirrung genug! Aber unverzagt: Wir wissen nicht so recht zu sagen, wo die Ostgrenze Europas liegt, ob und seit wann es ein europäisches Russland gibt und ein asiatisches, ob andererseits die Vereinigten Staaten und Kanada am Ende nicht doch europäisch sind. Wir können zudem Europa nicht mehr mit dem Christentum gleichsetzen, unter anderem auch deshalb, weil das Christentum über die ganze Welt verbreitet ist. Dennoch ist Europa eine historische Einheit, die innerhalb ihres Bereichs mehr Selbstbezüge kennt als Fremdbezüge.
Es ist geprägt von der Tradition einer jahrhundertelangen Begegnung der Mittelmeerwelt mit den noch viel älteren orientalischen Hochkulturen, die schließlich vor zweitausend Jahren im römischen Imperium politische Gestalt annahmen. Und bei allen möglichen Veränderungen im Lauf von mehr als tausend Jahren hat Europa bestimmte Charakterzüge ausgeprägt, wie ein Mensch auch im Lauf seines Lebens, hat besondere Fähigkeiten entwickelt, gewisse Gewohnheiten angenommen, hat seine Kultur gefunden. Diese Kultur verheißt eine rational intendierte Lebensbewältigung mit ihren eigenen Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, mit ihrer Ordnung, Planung und Hoffnung, mit dem technischen Fortschrittsoptimismus und der klassischen Humanitätsidee, mit ihrem gebrochenen, aber noch immer lebendigen Christentum. Dazu noch mit einem Schuss Kulturpessimismus, wie ihn die Historiker seit je aus Hochschätzung vor dem antiken Erbe vermittelt haben.
Wenn man sich einmal über diese Voraussetzungen verständigt hat, dann lässt sich dieses mehr als tausendjährige Europa nicht nur halbwegs als räumliche, sondern auch als historische Gemeinschaft mit unserer modernen europäischen Wirklichkeit übereinbringen. Überdies kann man es auch kennzeichnen durch seine besondere Dynamik auf allen Lebensgebieten, die man außerhalb Europas nur mehr einem anderen Kontinent ablesen kann, dem amerikanischen, aber auch das erst, seit dort Europäer leben.
Europa ist demnach vornehmlich der Raum für die Entfaltung eines in der Weltgeschichte einmalig dynamischen historischen Prozesses. Er war nach innen gerichtet, das heißt, es ereigneten sich die maßgebenden Neuerungen auf allen Gebieten jahrhundertelang innerhalb dieses Europas, es griff lange Zeit nicht aus und wurde nur kurzfristig von außen angegriffen. Vor vierzehn-, fünfzehnhundert Jahren, zu Zeiten einer immer wieder einmal so bezeichneten »Spätantike«, begann sich dieses neuere Europa nördlich der Alpen abzuzeichnen und war erfüllt von einem gewissen Nachklang der antiken Welt, der Mittelmeerwelt, soweit sie nördlich der Alpen bekannt geworden war. Die Kirche leistete dabei bekanntlich je länger je mehr Entwicklungshilfe. Außerhalb der Grenzen des römischen Imperiums, östlich und nördlich jener Hunderte von Kilometern langen römischen Befestigung aus Palisaden und Wachtürmen, die unter dem Namen »der römische Limes« in die Geschichtsbücher einging, östlich des Rheins also und nördlich der Donau, war Barbarenland, Wald, Sumpf, Heide, kleine Bevölkerungsinseln mit urbarem Boden. Da lebten, bei ständigen Verschiebungen, kleine Völkerschaften mit ihren Häuptlingen, die man später als Stämme bezeichnete oder mit den Sammelbegriffen »Germanen«, »Slawen« und »Magyaren« bedachte. Es gab Grenzkämpfe, Einbruchsversuche und Abwehrkämpfe. Es gab erfolgreiche und vergebliche Attacken über den Limes. Es gab friedlichen Handel, meist Sklavenhandel zwischen Osteuropa und dem Mittelmeer, besonders dem östlichen, wo sich um die Hauptstadt Byzanz, auch Konstantinopel genannt, die östliche Hälfte des römischen Kaiserreiches von ehedem mit seiner Militärorganisation und Verwaltung besser erhalten hatte als im Westen, aber auch sie in steter Verteidigungsbereitschaft gegen den barbarischen Norden hier und den arabischen Süden dort.
Seit zwölfhundert Jahren formten und wirkten neue Kräfte im mittleren und westlichen Europa. Dort hatten die Menschen das Christentum von römischen, irischen, angelsächsischen Missionaren angenommen, eine Mission, die bei den Häuptlingen begann und von oben nach unten lief, wie übrigens alle Missionen in der Weltgeschichte. Besonders begabte, ehrgeizige wie brutale, listenreiche Potentaten verbanden die kleinen Herrschaftsverbände zu größeren, schufen Großreiche und unterwarfen auch das östliche Mitteleuropa dem römisch-katholischen Christentum. Die Kirche legitimierte ihre Herrschaft und unterstützte sie gegen heidnische Reaktionen. Zur selben Zeit etwa zogen auch missionierende Mönche aus dem griechisch-orthodoxen Bereich der Christenheit nach Norden und Westen und gewannen die Herrscher von Kiew und auf dem Balkan für die christliche Lehre, unter ihrem Patriarchen, der in Konstantinopel saß.
Die beiden größten kirchlichen Organisationen, die sich auf die Nachfolge Christi beriefen, mit ihren Zentren in Rom und in Konstantinopel, schickten sich an, Europa dem Christentum zu erschließen. Vor ungefähr tausend Jahren hatten sie ihr Ziel im Großen und Ganzen erreicht.
Im Jahr 1054 trennten sie sich aber aus Glaubensgründen nach längeren Diskussionen um die rechte Selbstdarstellung. Die östliche, die sich »orthodox« nannte, »rechtgläubig«, mit ihrem Patriarchen in Konstantinopel, zog andere Folgen aus der Deutung der göttlichen Dreieinigkeit als die westliche mit ihrem Papst in Rom. Ein »filioque«, bezogen auf die Schöpferkraft des Gottessohnes vor aller Zeit, trennt die beiden größten christlichen Glaubensgemeinschaften seit fast tausend Jahren.