Furor Teutonicus
Was die Kimbern, Teutonen und Ambronen veranlaßt hatte, etwa um 115 v.Chr. ihre Wohnsitze in Jütland und auf den nordfriesischen Inseln (Amrum) aufzugeben, ist nicht ganz klar. Heutige Klimaforscher registrieren für diese Zeit eine feuchtkalte Abkühlungsphase, die mit Ernteeinbußen und Krankheiten einhergegangen sein könnte,[23] wohingegen der um Christi Geburt lebende griechische Geograph und Historiker Strabo kurz und bündig und überaus typisch für das antike Barbarenbild die Freude am Beutemachen und Herumschweifen als Grund annahm.[24]
Der Heereszug von geschätzten 300000 Menschen[25] wälzte sich mit Mann, Roß, Frauen, Kindern, Vieh und zahllosen Wagen durch Mitteleuropa und stieß in Noricum (Österreich) erstmals auf römische Truppen. Ein reichlich plumper Überrumpelungsangriff des kommandierenden Konsuls schlug unter großen Verlusten fehl und die Römer konnten froh sein, daß sich der Auswanderertreck nicht gen Süden nach Italien, sondern donauaufwärts nach Westen in Bewegung setzte. Der nächste Zusammenstoß erfolgte am 6. Oktober 105 v.Chr. in Südfrankreich bei Arausio (Orange). Diesmal hatte man sogar zwei römische Heere aufgeboten, doch da die beiden Befehlshaber in ihrer Arroganz sich über die einzuschlagende Strategie nicht einigen konnten, erlitten die Römer wiederum eine verheerende Niederlage. Die Zahl von 100000 Toten in den zeitgenössischen Quellen ist zwar nicht wörtlich zu nehmen, macht aber das Ausmaß der Verluste deutlich.
Nach ihrem Sieg gerieten die Kimbern und Teutonen in eine den Römern völlig unverständliche Raserei und zerstörten und töteten alles, was ihnen im Kampf in die Hände gefallen war. Die Krieger zerfetzten kostbare Kleider, warfen Silber und Gold in die Rhône, zerbrachen Waffen und Rüstungen, ertränkten die Pferde. Gefangenen wurde keine Gnade gewährt, sondern man erhängte sie in den Bäumen oder übergab sie Priesterinnen, die ihnen über riesigen Kesseln die Kehle durchschnitten, »um aus dem hervorströmenden Blut wahr zu sagen.«[26]
Erst später begriffen die Römer, daß es sich um ein germanisches Opferritual handelte, die Feinde ihre gesamte Beute, einschließlich Mensch und Tier, aus Dank den Göttern weihten.[27] Das machte ihnen den Vorgang nicht sympathischer, sondern unterstrich nur noch mehr das Abstoßende dieses Barbarentums, die »sinnlose Vergeudung von Menschen und Gütern.«[28]
Die Götter der Germanen schienen dennoch für die Römer etwas übrig zu haben. Obwohl ihnen der Weg offen stand, marschierten die Feinde zunächst nicht nach Italien, sondern teilten sich und griffen in zwei Heerhaufen Nordspanien und Nordgallien an. So blieben Rom drei Jahre, um eine durchgreifende Heeresreform durchzuführen, neue Truppen aufzustellen und sie ihrem besten Mann anzuvertrauen: Gaius Marius. Der machte mit hartem Training, einer neuen Befehlsstruktur und verbesserter Taktik aus den Legionen ein Instrument des Krieges, das all das in sich vereinigte, was den Germanen fehlte: die Fähigkeit zum Formationskampf, Eingreifreserven, Disziplin, Ausdauer und vorzügliche Bewaffnung. Marius ging kein Risiko ein und bereitete sein Heer sorgfältig auf die Entscheidung vor. Rom hatte nur noch dieses eine.
Als er im Jahre 102 v.Chr. nach Südfrankreich aufbrach, um den Gegner zu stellen, erwarteten ihn nur die Teutonen und Ambronen. Die Kimbern hatten sich von ihnen getrennt, waren wieder nach Norden an die Donau gezogen, um dann, die Alpen im weiten Bogen umgehend, vom Klagenfurter Becken nach Italien einzufallen.[29] Mit den Römern würden ihre Stammesgenossen leicht fertigwerden. Nach drei großen und etlichen kleinen Niederlagen nahmen sie die Legionen nicht mehr sonderlich ernst. Um so weniger, als Marius die ihm angebotene Schlacht verweigerte und sich, in den Augen der Germanen »feige«, in seinem Lager verschanzte. Also ließen die Teutonen ihn, wo er war, und zogen einfach in Richtung Seealpen weiter. So groß war ihr Heer, daß es sechs Tage brauchte, um die römischen Schanzen zu passieren. Die Germanen taten es provozierenderweise in Rufweite und fragten spöttisch, ob die Legionäre ihren Frauen in Rom etwas zu bestellen hätten. Ungerührt folgte Marius ihnen nach, bis er bei Aquae Sextiae (Aix-en-Provence) das Schlachtfeld gefunden hatte, das ihm zusagte. Dann setzte er in zweitägiger blutiger Schlacht sein taktisches Konzept um. Hielt Truppen in Reserve, die den wankenden Verbänden zu Hilfe kamen oder sie ablösten. Besetzte die Höhen, um den Feind sich müde stürmen zu lassen, und krönte das Ganze mit einem Angriff aus dem Hinterhalt. Dem hatten die Germanen nur ihre Kampflust und ihre Masse entgegenzusetzen. Die eine erschöpfte sich, wie die andere sich verminderte. Der Sieg war so vollständig, die Zahl der getöteten Feinde so hoch, daß die Bewohner der nahe gelegenen Stadt Massilia (Marseille) ihre Weingärten mit den Knochen der Gefallenen einhegten. Später reiften auf dem Schlachtfeld »durch die Verwesung der Leichen Ernten von überreicher Fülle heran.«[30]
Kimbernschlacht, Reliefdarstellung auf einem römischen Sarkophag
Ein Jahr später traf das gleiche Schicksal bei Vercellae (Vercelli) in Oberitalien die Kimbern. Die Zehntausende, die überlebten, endeten auf den Sklavenmärkten, was, verglichen mit den germanischen Sitten, eindeutig die humanere Praxis darstellte. Was aber den Römern im Gedächtnis haftete, war die Bedrohung durch einen Menschentyp, dessen Wildheit und Aggressivität keine Grenzen kannte, der weder sich selbst noch seinen Gegner schonte und dessen unkontrollierte Kampfeswut eher an ein Raubtier als an ein menschliches Wesen erinnerte.
Das zeigte sich schon bei ihrem Anblick, wenn sie ohne Rüstung, mit nacktem Oberkörper und rotgefärbten Haaren in den Kampf zogen. Wenn sie die Schilde aneinander schlugen und im Takt ihren Stammesnamen schrien. Selbst wenn sie wehklagten, wie es die Ambronen in der Nacht nach der Niederlage taten, »klang es nicht wie menschliches Weinen und Stöhnen, sondern wie tierisches Heulen und Brüllen, untermischt mit Drohungen und schrillen Klagerufen.«[31] In der Schlacht waren sie undiszipliniert, unfähig, sich zurückzuhalten, tapfer, aber ohne Überblick. Mit Ketten verbanden sie sich, um nicht getrennt zu werden. Prahlsüchtig waren sie und überaus stolz auf ihre Kraft und ihren Mut. Die Römer verachteten sie als Weichlinge, schützten sie sich doch mit Rüstungen und verschanzten sich hinter Wällen. Die Kimbern entblößten sich lieber, wenn es schneite, damit ihre Kleider nicht naß wurden, und machten sich einen Spaß daraus, »durch Eis und Schnee auf die Bergeshöhen zu klettern, sich auf ihre breiten Schilde zu setzen, und – unbekümmert um die schroffen Wände und klaffenden Schründe – in die Tiefe hinunter zu sausen.«[32] Wie die schrecklichen Giganten der Vorzeit wirkten sie, wenn sie nicht mit Werkzeug, sondern mit roher Kraft Bäume samt der Wurzel ausrissen, ohne Katapulte Felsbrocken schleuderten und Hügel nicht mit Ingenieurskunst, sondern mit bloßen Händen abtrugen. Doch kaum wurde es heiß, wie am 30. Juli bei Vercellae, und die Sonne blendete, war es um sie geschehen: »Frost und Kälte zu ertragen, war den Kimbern ein Leichtes, die Hitze aber lähmte sie völlig, sie keuchten, der Schweiß strömte ihnen herab und sie mußten sich zum Schutz vor der Sonne die Schilde vors Gesicht halten.«[33]
Fürchterlicher in ihrer Todesverachtung als die germanischen Männer waren nur ihre Frauen. Bei Aquae Sextiae stürzten sich die Teutoninnen mit Äxten und Schwertern gleichermaßen auf ihre flüchtenden Stammesgenossen wie auf die angreifenden Legionäre: »Sie warfen sich mitten ins Kampfgetümmel, rissen den Römern mit bloßen Händen die Schilde weg und packten ihre Schwerter, ließen sich verwunden und in Stücke hauen, bis zum Tode unbesiegt in ihrem Mut.« Noch radikaler wehrten sich die kimbrischen Frauen gegen die drohende Gefangenschaft: »In schwarzen Gewändern standen sie auf den Wagen und töteten die Fliehenden, mochte es auch der Gatte, der Bruder oder der Vater sein. Mit eigenen Händen erwürgten sie ihre kleinen Kinder, schleuderten sie unter die Räder und die Hufe der Zugtiere und brachten sich dann selber um.«[34] Dies taten schließlich auch die Frauen, die Marius darum baten, er möge sie den Priesterinnen der Göttin Vesta schenken, die ewige Jungfräulichkeit geschworen hatten und darum ein Leben in Keuschheit führten. Als der Feldherr ablehnte, begingen sie gemeinsam Selbstmord und erhängten sich.[35]
Konnte es mit solchen Völkern jemals Frieden geben? Waren sie in ihrer Primitivität überhaupt in der Lage, den Wert von Verträgen zu erkennen, geschweige denn sie einzuhalten? Waren sie – modern ausgedrückt – überhaupt integrationsfähig in die Welt der Mittelmeervölker oder war ihre Vernichtung und Versklavung die einzige Alternative?
Es gab Zeichen der Hoffnung. Die »humanitas«, die zivilisatorische Verfeinerung des Lebens, ging offenbar selbst an den harten Kimbernkriegern nicht spurlos vorbei. Ein Beobachter schrieb: »Wenn die Cimbern einmal Halt machten, büßten sie viel von ihrem Kampfgeist ein und wurden dadurch schlaffer und träger an Leib und Seele. Das kam davon, daß sie anstelle ihres bisherigen Lebens unter freiem Himmel in festen Häusern wohnten und statt der früheren Kalt- nun Warmbäder nahmen. Vorher gewohnt, rohes Fleisch zu...