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E-Book

Lebensprobleme

Vorträge und Aufsätze

AutorAlfred Adler
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
ReiheAlfred Adler, Werkausgabe (Taschenbuchausgabe) 
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783104908199
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Diese bisher nicht in deutscher Sprache erschienene Sammlung von Vorträgen, Aufsätzen und Diskussionen des Begründers der Individualpsychologie behandelt viele der typischen Themen Alfred Adlers, angefangen von der Kindererziehung über die Schulbildung zum Gemeinschaftsgefühl und zum Sinn des Lebens. Adler hatte kurz vor seinem Tode einige Wochen in Holland zugebracht, um dort Vorträge zu halten, und war mit der gleichen Absicht nach England und Schottland gereist. In Aberdeen war er am 28. Mai 1937 plötzlich auf der Straße tot zusammengebrochen. Die holländische Ausgabe dieses Buches ist aus stenographischen Aufzeichnungen der Adlerschen Vorträge und der anschließenden Diskussionen hervorgegangen. Hinzu kam ein Kapitel über sexuelle Probleme, dessen englischen Text der Übersetzer einen Tag vor dem Tode Adlers erhalten hatte. Wenngleich die Adlersche Sprache sicherlich durch die doppelte Übersetzung, vom Englischen ins Niederländische und jetzt vom Niederländischen ins Deutsche, an stilistischer und begrifflicher Eigenart verloren hat, so dürften dem Adler-Kenner die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung vertraut vorkommen. Diese deutsche Erstausgabe stellt eine Bereicherung der Adler-Edition im Fischer Taschenbuch Verlag dar.

Alfred Adler, 1870 in Wien geboren, entschied sich früh für den Arztberuf, den er dann lange Jahre in Wien ausübte. Sigmund Freud forderte ihn 1902 auf, seiner Studiengruppe beizutreten; im Laufe der gemeinsamen Arbeit entwickelte Adler aber seine eigenen Ansichten, so daß es 1911 zum Bruch zwischen den beiden kam. Adler begründete nun seine Auffassung der Individualpsychologie mit einer eigenen Schule und einer eigenen Zeitschrift. Ab 1925 reiste er häufig nach Amerika, wo er sich 1935 endgültig niederließ. Hier fand seine Psychologie große Beachtung und Anerkennung bis in die Gegenwart. Während einer Vortragsreise starb Alfred Adler 1937 in Aberdeen.

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Leseprobe

1. Einführung: Vorbereitung ist alles


Das Streben soll sich auf Ewigkeitswerte richten · »Jeder Mensch kann alles«

Als Einführung zu unserer gemeinsamen Arbeit möchte ich Ihnen eine Geschichte von einem chinesischen Schriftsteller erzählen, der vor ungefähr 3000 Jahren gelebt hat. Nur wenige Leute scheinen die Lehre aus dieser Geschichte in die Praxis umzusetzen. Ich selbst bemühe mich, es zu tun, und auch für Sie kann es von Nutzen sein, wenn Sie sich mit dem Inhalt dieses Buches beschäftigen.

Ein Holzschnitzer schuf einmal ein herrliches Bild, das zunächst von jedermann als echtes Kunstwerk bewundert wurde. Auch sein Fürst, Prinz Li, war voll des Lobes und fragte ihn nach dem Geheimnis seiner Kunst. Der Bildhauer antwortete: »Wie soll ich einfacher Mann und Euer Diener vor Euch ein Geheimnis haben können? Ich besitze kein Geheimnis, noch ist meine Kunst etwas Besonderes. Ich will Euch aber erzählen, wie mein Werk entstanden ist. Als ich mir vorgenommen hatte, ein Bild zu schnitzen, bemerkte ich, daß in mir zuviel Eitelkeit und Hochmut waren. Ich arbeitete also zwei Tage, um mich von diesen Sünden zu befreien, und glaubte dann, sie abgelegt zu haben. Aber dann entdeckte ich, daß ich von Eifersucht auf einen Berufsgenossen getrieben wurde. Ich arbeitete wieder zwei Tage und überwand meine Eifersucht. Danach bemerkte ich, daß ich zuviel nach Lob verlangte, und es kostete mich wieder zwei Tage, dieses Verlangen zu überwinden. Zum Schluß stellte ich fest, daß ich ständig daran dachte, wieviel Geld ich für dieses Bild wohl bekommen würde. Diesmal brauchte ich vier Tage, doch endlich fühlte ich mich frei und stark. Ich ging in den Wald, und als ich einen Tannenbaum erblickte, von dem ich spürte, daß er und ich zusammenpaßten, fällte ich ihn, schleppte ihn nach Haus und ging ans Werk.«

Fazit dieser Geschichte wäre also, wer eine wichtige Arbeit beginnt, sollte sich selbst dabei vergessen. Nun können wir uns natürlich nicht jeden Tag und jede Stunde unseres Lebens darauf besinnen, in welcher Geisteshaltung wir eine Arbeit oder eine Handlung verrichten sollen und welches der tiefere Sinn unserer Tätigkeit sei. Uns Pädagogen und Psychologen muß dieser Sinn aber wenigstens von Zeit zu Zeit bewußt sein. Schließlich ist unsere Arbeit eine Art »Ausbrüten«, wobei wir uns in den Lauf der Natur einmischen, also in das Werden, in das Entstehen von Zukunft. Die Menschheit würde nicht an Erziehung gedacht haben, bestünde nicht die unabweisbare Notwendigkeit, die folgende Generation auf das Leben vorzubereiten. Wir können uns nicht damit begnügen, das Kind für das Heute zu erziehen, sondern müssen uns als Richtschnur die Frage stellen: »Wie kann das Kind später in seinem Leben am besten bestehen?« Später will in diesem Fall sagen: in einer Zukunft, von der wir wenig wissen, aber von der wir uns doch wegen unserer Kinder eine Vorstellung machen und die wir selbst erschaffen müssen. Wir sollten uns ein Bild vom künftigen Menschen machen, wie wir ihn uns wünschen; natürlich nicht um unserem egoistischen Verlangen entgegenzukommen, sondern um unseren Nachkömmlingen so gut wie möglich die Anpassung an ihre Zeit zu ermöglichen.

Ich möchte Ihnen ein aufschlußreiches Beispiel von den Folgen einer unvollständigen Vorbereitung auf das Leben erzählen. In einer kleinen Stadt in Nordamerika, die sich schnell vergrößerte, lebte eine fromme Sekte, die sich nicht mit den anderen Einwohnern vermischen wollte. Wie auf einer Insel wohnend, wurden ihre Kinder ausschließlich nach den Regeln des eigenen Glaubens erzogen. In der ersten Generation dieser Sekte gab es keine Kriminellen, in der zweiten Generation jedoch auffallend viele junge Kriminelle, während es in der dritten Generation buchstäblich von Bösewichtern wimmelte. Juristen und Philanthropen zerbrachen sich den Kopf über dieses Phänomen. Die Erklärung dafür ist aber einfach, wenn man die Menschen nicht isoliert betrachtet. Schon in der zweiten Generation kamen die Kinder dieser Sekte in Berührung mit anderen Einwohnern der Stadt. Sie besuchten Schulen, mußten Handel treiben, einen Beruf ausüben usw. usw. Aufgrund ihrer klosterähnlichen Erziehung waren sie auf ihre Aufgaben nicht vorbereitet. Wann immer ein Mensch auf seine Aufgabe nicht vorbereitet ist, versagt er.

Vorbereitung ist alles! Sie ist der Kern jeder Erziehung und jeder Behandlung seelischer Erkrankungen. In den meisten Fällen kommt es zu Fehlentwicklungen, weil die Kinder für ein Leben gemeinsam mit uns nicht gerüstet sind. Sie spüren dann, daß sie versagen, werden unglücklich und enden in Trunksucht, Geistesstörung, Kriminalität oder Selbstmord. Aus den Kindern dagegen, die mit anderen zusammengehen, mit anderen gemeinsam arbeiten und die sich in einem Leben, das der Vorbereitung auf die Zukunft gewidmet ist, heimisch fühlen, werden glückliche Menschen. Der Erzieher muß nicht nur die Persönlichkeit der ihm anvertrauten Kinder, sondern auch die Probleme der Außenwelt begreifen. Er darf nicht nur individuelle Psychologie betreiben (die nicht verwechselt werden sollte mit Individualpsychologie!), sondern er muß einen klaren Blick haben für die Aufgaben des Kindes. Sowohl das Bewältigen der Schule als auch aller anderer Lebensfragen müssen dem Kind in einer Form nahegebracht werden, daß sie es als Etappen vor sich sieht, als Schritte auf dem Weg in die Zukunft mit Problemen, wie sie durch Erwachsene gelöst werden müssen. Der Lehrer kann das Interesse seiner Schüler nicht besser wecken, als wenn er ihnen zu verstehen gibt: »Was du jetzt lernst, ist eine Vorbereitung für später, wenn du erwachsen bist.« Im Anschluß an das oben Erörterte will ich Ihnen ein Beispiel erzählen. Es betrifft einen Jungen von 13 Jahren, der es noch nicht weiter als bis zur 5. Klasse gebracht hat. Die Individualpsychologie geht davon aus, daß wir von Anfang an unseren Verstand benützen, und so stellen wir sofort fest, daß dieser Junge in seiner Entwicklung verlangsamt ist. Wahrscheinlich ist er zweimal sitzengeblieben, denn seinem Alter nach gehörte er in die 7. Klasse. Er ist der schlechteste Schüler, nicht allein in seiner Klasse, sondern in der ganzen Schule. Man wußte sich in der Schule nicht mehr zu helfen. Er hatte zahlreiche Diebstähle begangen und ist wiederholt weggelaufen, so daß die Polizei ihn aufspüren und wieder nach Hause bringen mußte. Er ist auf vielerlei Weise bestraft worden, aber es hat nicht geholfen.

Strafen und Schläge sind in Schulen gebräuchlich, aber in diesem Fall haben sie genausowenig geholfen wie in den meisten anderen Fällen. Letztendlich wurde er in eine Erziehungsanstalt geschickt, als letzter Ausweg einer Familien- und Schulerziehung, die vor ihrer Aufgabe versagt hat. In seinem ganzen Leben ist der Junge nicht zur Zusammenarbeit erzogen worden, sondern um zu stehlen und zu vagabundieren.

In einer Anstalt kann man ihn wohl daran hindern, wieder auszureißen, auch kann man ihm das Stehlen erschweren, aber man kann ihn unmöglich zu freiwilliger Mitarbeit zwingen. Jede Zusammenarbeit beruht auf einem schöpferischen Akt, auf der eigenen Initiative und kann nicht von außen erzwungen werden. Höchstens in sehr leichten Fällen besteht die Möglichkeit, daß ein strenger Eingriff zur Besserung führt, und zwar nur dann, wenn dieser strafende Eingriff das Kind auf eine gute Idee bringt und es eine Möglichkeit in einer erfolgreicheren Richtung entdecken läßt, die es dann trotz der Strafe einschlägt. Es ändert also seine Haltung und beginnt den selbstentdeckten neuen Weg zu gehen.

Meistens bleiben in solchen Fällen die Resultate mangelhaft, denn es fehlt den Kindern an ausreichendem Material für ihre Lebensauffassung. Die Strafe ersetzt diesen Mangel nicht. Oft brauchen die Kinder nach ihrem Fehlschlag einige Zeit, um zur Besinnung zu kommen, anders schaffen sie es mit dem besten Willen nicht. Es ist möglich, daß es zweckmäßige Erziehungsanstalten gibt. Im allgemeinen herrscht in diesen Einrichtungen jedoch zu wenig Verständnis für die Eigenarten der Kinder, die dort untergebracht sind. Manche Statistiken zeigen, daß 70 Prozent der jugendlichen Klienten schon mehrmals in einer Erziehungsanstalt gewesen sind. Es zeigt sich also deutlich, daß es an richtiger Behandlung schwieriger Kinder fehlt und daß die bisher verfolgte Richtung nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt. Der genannte Junge kam in eine gute Einrichtung. Es gab dort einen Erzieher, der die Individualpsychologie studiert hatte und sie auch anwandte und so mehr tat, als nur Berichte zu lesen, in denen die Fehler des Kindes aufgezählt waren und in denen vielleicht von möglichem Schwachsinn die Rede war. Der Erzieher wußte, daß solche Phänomene stets das Endresultat des kindlichen Lebensstils sind. Dieses Kind mußte also eine Vorbereitung gehabt haben, die nicht für die Schule geeignet war. Der Lehrer schaute sich die Schulzeugnisse des Jungen an. In den ersten drei Jahren hat der Junge gute Noten gehabt. Erst im 4. Jahr begann das Elend. Der Lehrer zog daraus den Schluß, daß das Kind in den ersten drei Jahren einen anderen Lehrer gehabt haben muß als später. Der erste war vermutlich freundlich und gut gesonnen gewesen, und der Junge hatte mit ihm zusammengearbeitet. Er arbeitete also nur mit, wenn er genügend menschliche Wärme verspürte. Die späteren Lehrer werden weniger freundlich gewesen sein, und diesem Umstand war das Kind nicht gewachsen. Hier haben wir also, wie in so vielen Fällen, die Folge eines verwöhnenden Lebensstils.

Als nächstes erfragte der Erzieher von dem Jungen selbst, wie er zu seinen Fehltritten gekommen war. Seine Vermutungen wurden bestätigt. Der Junge erzählte:...

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