Einstellungen gegenüber Unvollkommenheiten
Obgleich das Minderwertigkeitsgefühl und das Überlegenheitsstreben universell sind, wäre es ein Fehler, aus dieser Tatsache herauszulesen, daß alle Menschen gleich sind. Unterlegenheit und Überlegenheit sind zwar allgemeine Bedingungen, die das menschliche Verhalten beherrschen, doch neben diesen Bedingungen sehen wir Unterschiede in der Körperstärke, in der Gesundheit und der Umwelt. Aus diesem Grunde begehen verschiedene Menschen unter den gleichen gegebenen Bedingungen unterschiedliche Fehler. Bei der Untersuchung von Kindern fällt uns auf, daß es für sie keine absolut festgelegten, jeweils richtigen Reaktionsweisen gibt. Die Kinder reagieren auf ihre eigene, individuell verschiedene Weise. Sie streben zwar nach einem besseren Lebensstil, doch jedes von ihnen geht dabei auf seine ihm gemäße Weise vor, macht seine besonderen Fehler und sucht seine eigenen Wege zum Erfolg.
Untersuchen wir einige der je individuell unterschiedlichen Varianten und Eigentümlichkeiten von Verhaltensweisen. Nehmen wir beispielsweise linkshändige Kinder. Es gibt Kinder, die niemals erfahren, daß sie linkshändig sind, weil sie im Gebrauch der rechten Hand aufs sorgfältigste trainiert worden sind. Zunächst benutzen sie ihre rechte Hand ungeschickt und unangemessen, und daraufhin werden sie gescholten, getadelt und ausgelacht. Auslachen ist zweifellos ein Fehler; es sollten vielmehr beide Hände trainiert werden. Ein linkshändiges Kind kann man bereits in der Wiege erkennen, und zwar daran, daß es die linke Hand mehr bewegt als die rechte. In seinem späteren Leben fühlt es sich durch die Unvollkommenheit seiner rechten Hand behindert und belastet. Auf der anderen Seite entwickelt es häufig auch ein größeres Interesse an seiner rechten Hand und seinem rechten Arm, ein Interesse, das sich beispielsweise im Zeichnen, Schreiben und so weiter äußert. Es ist überhaupt keine Überraschung, wenn sich herausstellt, daß ein solches Kind in seinem späteren Leben geschickter ist als ein normales Kind. Es ist sozusagen früher erwacht, weil es Interesse aufbringen mußte, und somit hat seine Unvollkommenheit dazu geführt, daß es gründlicher trainierte. Dies ist für die Entfaltung artistischer Talente und Fähigkeiten häufig von großem Vorteil. Ein Kind in einer solchen Position ist gewöhnlich von Ehrgeiz erfüllt und bemüht sich angestrengt darum, seine Grenzen zu überschreiten. Gelegentlich jedoch, wenn der Kampf zu schwierig wird, kann das Kind Neid und Eifersucht auf andere entwickeln und folglich ein stärkeres Minderwertigkeitsgefühl erwerben, das schwieriger zu überwinden ist, als es normalerweise der Fall ist. Durch ständiges sich Bemühen und Anstrengen kann aus ihm ein kämpfendes Kind oder auch ein kämpfender Erwachsener werden, der ständig von der fixen Idee verfolgt wird, er dürfe nicht ungeschickt und unzulänglich sein. Solch ein Mensch steht unter stärkerer Belastung als andere.
Kinder bemühen sich, machen Fehler und entwickeln sich in verschiedene Richtungen, je nach dem Leitbild, das sie in den ersten vier oder fünf Jahren ihres Lebens aufgebaut haben. Jedes hat ein anderes Ziel. Ein Kind möchte Maler werden, während ein anderes sich vielleicht aus diesem Leben hinauswünscht, weil es nicht in es hineinpaßt. Möglicherweise wissen wir, wie es seine Mängel überwinden kann, aber es weiß dies nicht, und allzuoft werden ihm die Fakten nicht richtig mitgeteilt.
Viele Kinder haben unvollkommene Augen, Ohren, Lungen oder Mägen, und wir stellen in der Regel fest, daß ihr Interesse in Richtung ihrer Unvollkommenheit angeregt wird. Ein eigenartiges Beispiel dafür zeigt sich im Fall eines Mannes, der immer nur dann Asthma-Anfälle erlitt, wenn er am Abend vom Büro nach Haus zurückgekehrt war. Der Mann war 45 Jahre alt, verheiratet und hatte eine gute berufliche Position inne. Auf die Frage, warum seine Anfälle immer dann auftraten, wenn er abends heimgekehrt war, erklärte er: »Sehen Sie, meine Frau ist sehr oberflächlich, und ich bin ein Idealist, also gehen unsere Meinungen auseinander. Wenn ich nach Haus komme, möchte ich mich ausruhen, mich daran erfreuen, daß ich daheim bin, doch meine Frau möchte Besuche machen, und so klagt sie dann darüber, daß sie zu Hause bleiben muß. Dann gerate ich in Wut und glaube, ich müßte ersticken.«
Warum glaubte dieser Mann, er müsse ersticken? Warum hat er sich nicht übergeben? Tatsache ist, daß er nur seinem Leitbild treu geblieben ist. Es hat den Anschein, daß er als Kind aufgrund irgendeiner Körperschwäche bandagiert werden mußte und daß dieses feste Umwickeln seine Atmung beeinträchtigte, was bei ihm ein Gefühl größten Unbehagens ausgelöst hat. Er hatte jedoch ein Kindermädchen, das ihn gern mochte und sich an sein Bett setzte, um ihn zu trösten. All ihr Interesse galt ihm und nicht ihr selbst. Folglich gewann er den Eindruck, er werde von nun an immer aufgeheitert und getröstet. Als er vier Jahre alt war, verließ sein Kindermädchen einmal das Haus, um an einer Hochzeit teilzunehmen, und er begleitete sie unter bitterlichen Tränen zum Bahnhof. Nachdem das Kindermädchen das Haus verlassen hatte, erklärte er seiner Mutter: »Die Welt hat mir nichts mehr zu bieten, nun da sie fortgegangen ist.«
Wir erkennen also, daß es um ihn im Mannesalter ähnlich bestellt war wie in den Jahren der Prägung seines Leitbildes, das heißt, er sehnte sich nach einem idealen Menschen, der ihn ständig erheitern und trösten sollte und allein für ihn da wäre. Seine Schwierigkeit lag nicht darin, daß er zu wenig Luft bekam, sondern in der Tatsache, daß er nicht ständig erheitert und getröstet wurde. Natürlich ist es nicht leicht, einen Menschen zu finden, der einen ständig aufheitert. Der Patient verspürte stets den Wunsch, die Situation ganz zu beherrschen, und bis zu einem gewissen Grade half es ihm, wenn er Erfolg hatte. So gab etwa seine Frau den Wunsch auf, ins Theater zu gehen oder Geselligkeit zu suchen, wenn er Erstickungsanfälle bekam. In solchem Falle hatte er sein »Überlegenheitsziel« erreicht.
In seinem bewußten Leben war der Mann stets geradlinig und korrekt, doch in seinem Innern herrschte der Wunsch vor, zu erobern und zu beherrschen. So wollte er seine Frau zu einem, wie er es nannte, idealistischen Menschen machen, dem das Materielle gleichgültig wäre. In einem solchen Mann dürfen wir Motive vermuten, die sich von den von außen sichtbaren unterscheiden.
Wir beobachten häufig, daß Kinder mit Augenfehlern sich mehr für das Sichtbare interessieren. In diesem Bereich entwickeln sie in der Regel auffällige Fähigkeiten. Wie man weiß, hat GUSTAV FREYTAG, der große Schriftsteller, viel geleistet, obwohl er schwache, astigmatische Augen hatte. Dichter und Maler haben häufig Last mit ihren Augen. Doch gerade dadurch wird nicht selten das Interesse gesteigert. FREYTAG meinte über sich: »Da meine Augen anders waren als die anderer Menschen, war ich augenscheinlich gezwungen, meine Phantasie einzusetzen und sie zu üben. Ich weiß nicht, ob mir das dabei geholfen hat, ein großer Schriftsteller zu werden, doch auf jeden Fall hat sich als Folge meiner Augenschwäche ergeben, daß ich in der Phantasie besser sehen kann als andere in der Wirklichkeit.«
Betrachten wir die Persönlichkeit genialer Menschen, entdecken wir häufig Augenfehler oder andere Beeinträchtigungen. In den Sagen aller Völker und Epochen hatten selbst Götter bisweilen körperliche Mängel wie Blindheit auf einem oder auf beiden Augen. Die Tatsache, daß es geniale Menschen gibt, die trotz beinahe vollständiger Blindheit in der Lage sind, besser als andere unterschiedliche Linien, Schatten und Farben zu erkennen, zeigt uns, was man bei behinderten Kindern ausrichten könnte, wenn man nur ihre Schwierigkeiten richtig verstünde.
Manche Menschen sind mehr am Essen interessiert als andere. Aufgrund dessen sprechen sie immer darüber, was sie essen können und was nicht. Gewöhnlich haben solche Menschen in ihrer Kindheit in puncto Essen schwere Zeiten durchgemacht und verständlicherweise ein stärkeres Interesse daran entwickelt als andere. Wahrscheinlich hat eine überbesorgte Mutter ihnen ständig gepredigt, was sie essen könnten und was nicht. Solche Menschen müssen die Unzulänglichkeiten ihres Magens durch Training zu überwinden suchen und haben ein vitales Interesse an der Frage, was sie zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend zu essen bekommen. Als Folge ihres ständigen Nachdenkens über das Essen eignen sie sich zuweilen Kochkünste an oder werden Sachverständige in Diätfragen.
Bisweilen jedoch veranlaßt eine Magen- oder Darmschwäche die Betroffenen dazu, nach einem Essenersatz Ausschau zu halten. Gelegentlich besteht ein solcher Ersatz in Geld; solche Menschen werden womöglich Geizhälse oder das große Geld scheffelnde Bankiers. Häufig strengen sie sich übermäßig stark an, Geld zu horten, und zu diesem Zweck trainieren sie Tag und Nacht. Sie hören nie auf, an ihre Geschäfte zu denken, eine Tatsache, die ihnen bisweilen große Vorteile gegenüber anderen Menschen auf ähnlichen Lebenswegen gibt. Es ist aufschlußreich zu bemerken, daß wir häufig von reichen Männern hören, die an Magenbeschwerden leiden.
An diesem Punkt wollen wir uns an die häufig zitierte Verbindung zwischen Körper und Geist erinnern. Eine gegebene Beeinträchtigung führt nicht immer zu dem gleichen Ergebnis. Zwischen körperlichem Mangel und fehlerhaftem Lebensstil besteht kein notwendiger Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Im Falle körperlichen Mangels können wir häufig eine gute Behandlung in Form richtiger Ernährung verschreiben und auf diese Weise die mißliche körperliche Situation abmildern. Doch Ursache der nachteiligen Ergebnisse ist nicht...