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Die Benes-Dekrete

Zwischen tschechischer Identität und deutscher Begehrlichkeit

AutorBeppo Beyerl
VerlagPromedia Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783853718421
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Mit insgesamt 143 Dekreten kämpfte der erste tschechoslowakische Präsident Edvard Bene? vom englischen Exil aus gegen das NS-Besatzungsunrecht. Er schuf damit die verfassungsmäßige Grundlage für eine neue, vorerst bürgerliche Republik. Fünf dieser Dekrete legitimierten auch die Vertreibung und Enteignung der deutschen Bevölkerung aus Böhmen, Mähren und der Slowakei. Angriffe auf diese fünf Dekrete zielen - nach der antikommunistischen Restitution der Jahre 1990 bis 1995 - auf eine Wiedergutmachung für die 2,5 bis 3 Millionen vertriebenen Sudeten- und Karpatendeutschen. Beppo Beyerl analysiert historische Ursachen und Verantwortung, zeigt Verfehlungen auf beiden Seiten und kritisiert sowohl die den Bene?-Dekreten zugrunde liegende These einer ethnischen Kollektivschuld als auch die von den sudetendeutschen Landsmannschaften betriebenen Revanchismusgelüste. Er bricht das jahrzehntelange Schweigen der Linken.

Beppo Beyerl, geboren 1955 in Wien, Studium der Slawistik, lebt als freier Autor in Wien und Vitis (Niederösterreich). Er schreibt Reportagen in Wiener Tageszeitungen über Tschechien, Polen und Russland.

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Leseprobe

DIE SITUATION DER SUDETENDEUTSCHEN


ZAHLEN


Wie allgemein bekannt, umfasste die 1918 neu gegründete Tschechoslowakische Republik an ihrer Nord-, West- sowie Südgrenze Gebiete mit einem großen Anteil an deutschsprachiger Bevölkerung. Weiters gab es in Böhmen und Mähren die deutschen Sprachinseln in Brünn/Brno und in Iglau/Jihlava. Nach dem Gebirgszug der Sudeten, der die damalige Tschechoslowakei von Polen trennte, nannte man etwa ab 1920 alle Deutsch sprechenden Bewohner der tschechischen Randbezirke, also auch die Bewohner der südlichen Randbezirke Krumau/Český Krumlov, Kaplitz/Kaplice und Neuhaus/Jindřichův Hradec, mit einem Sammelbegriff: die „Sudetendeutschen“.

Weiters dürfte allgemein bekannt sein, dass auf dem Territorium der ersten Tschechoslowakischen Republik – abgesehen von den Sudetendeutschen – auch im slowakischen Teil Deutsch sprechende Gruppen lebten, die als „Karpatendeutsche“ bezeichnet wurden.

Weniger bekannt hingegen ist die Tatsache, dass ein Sudetendeutscher aus Jägerndorf/Krnov mit seinem Landsmann etwa aus Znaim/Znojmo außer der Verwendung der deutschen Sprache keine Gemeinsamkeiten aufwies. Jägerndorf/Krnov gehört zu Schlesien, Znaim/Znojmo zu Südmähren. Ein Bewohner von Jägerndorf/Krnov verfügte über eine völlig andere Geschichte, Kultur und Identität als der Bürger aus Znaim/Znojmo. Der Begriff „sudetendeutsch“ ist demnach eine Konstruktion ohne geschichtliche Legitimität, entstanden im Volkstumskampf der frühen 1920er Jahre.

Zudem kann man in diesem Zusammenhang nicht von einem geschlossenen rein deutschen Siedlungsgebiet sprechen. Nehmen wir die Volkszählung der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder vom 31. Dezember 1910 als Grundlage. Um eine etwaige Nationalitätenzugehörigkeit zu bestimmen, wurde damals die „Umgangssprache“ als Kriterium erhoben, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Zweifelsfall – etwa bei Doppelsprachigkeit – die Personen unter dem damals herrschenden Germanisierungsdruck eher für die Amtssprache „Deutsch“ als für „Tschechisch“ votierten, das von vielen Deutschen als „Dienstbotensprache“ verachtet wurde.

In den böhmischen Grenzbezirken votierten 46,6% für „Deutsch“ und 53,4% für „Tschechisch“. Für die mährischen Grenzbezirke lauten die Zahlen 37,2% für „Deutsch“ und 59,2% für „Tschechisch“. Natürlich gab es Regionen mit absoluter Präferenz für „Deutsch“, etwa den Bezirk Kaplitz/Kaplice mit 94,7%, aber ebenso mit tschechischer Präferenz, etwa Budweis/České Budějovice (79,2%) oder Wittingau/Třeboň (94,1%).

1921, genau elf Jahre später, fanden die ersten Zählungen in der neuen Tschechoslowakischen Republik statt. Dabei wurde nicht mehr die Sprache, sondern das nationale Bekenntnis erhoben, wobei auf Grund des Tschechisierungsdrucks die Gemischtsprachigen wahrscheinlich eher für „tschechisch“ votierten. Zudem konnten viele Juden, die 1910 „deutsch“ angaben, sich 1921 zur „jüdischen Nationalität“ bekennen.

In Zahlen: In den böhmischen Grenzbezirken votierten 39,4% für „deutsch“ und 60,8% für „tschechisch“. In den mährischen Grenzbezirken lauten die Zahlen 27,6% für „deutsch“ und 71,5% für „tschechisch“. Ziemlich ausgeglichene Resultate erbrachten die Zählungen in Iglau/Jihlava sowie in Znaim/Znojmo. In Kaplitz/Kaplice führten die Deutschen mit 90,2%, in Budweis/České Budějovice die Tschechen mit 89%.1

Insgesamt lebten auf dem Territorium der Tschechoslowakei etwa 3,3 Millionen Deutschsprechende: Sudetendeutsche, Karpatendeutsche und die Bewohner der Sprachinseln. Die Zahl der Sudetendeutschen kann man mit 2 bis 2,3 Millionen ansetzen.

Trotzdem kann man nicht von rein deutschen Siedlungsgebieten sprechen. Um ethnisch bereinigte Gebiete herzustellen, mussten 1938 erst einmal die Tschechen aus den Gebieten der Sudetendeutschen vertrieben werden.

UNTERDRÜCKUNG DER SUDETENDEUTSCHEN BEVÖLKERUNG?


Am 28. Oktober 1918 wurde vom Národní Výbor, dem Nationalausschuss, die neue Tschechoslowakische Republik proklamiert. Nun beklagten die insgesamt etwa 3,3 Millionen Deutschen, dass die Siegermächte es zwar den Tschechen und Slowaken ermöglichten, gemäß den Thesen des US-amerikanischen Präsidenten Wilson den Nationenverbund – oder den Völkerkerker – der Monarchie zu verlassen und einen eigenen Staat zu gründen. Hingegen wurde es der deutschsprachigen Minderheit nicht gestattet, ihrerseits aus dem neuen Vielvölkerstaat der Tschechoslowakei auszuscheiden und gemäß denselben Prinzipien desselben Präsidenten selbst das Recht auf nationale Selbstbestimmung wahrzunehmen.

Laut der neuen tschechoslowakischen Verfassung gab es nur ein Staatsvolk, das „tschechoslowakische“. Der Text der Verfassung unterschied dabei nicht einmal zwischen Tschechen und Slowaken, die übrigens zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in einem gemeinsamen slawischen Staat lebten. Die neue Republik war demnach der Nationalstaat der „Tschechoslowaken“, die Deutschsprachigen galten weder als staatstragende noch als staatsbildende Nation. Sie erhielten die juristisch deutlich schlechtere Position einer „nationalen Minderheit“.

Dessen ungeachtet gab es unter den „Deutschen“ eine große Gruppe, die sich zur Tschechoslowakei bekannte und sich aktiv an Aufbau und Verwaltung des neuen Staates beteiligen wollte: die „Aktivisten“. Bei den Wahlen von 1925 votierte immerhin die Mehrheit der Sudetendeutschen für die sudetendeutschen Sozialdemokraten und die sudetendeutschen Christlichsozialen, die eine Zusammenarbeit mit den „Tschechen“2 anstrebten. Franz Spina von der Agrarier-Partei und später der Sozialdemokrat Ludwig Czech – beide Sudetendeutsche – übernahmen Ministerämter in den jeweiligen tschechoslowakischen Regierungen.

Die Parteien waren in der ersten Tschechoslowakischen Republik in tschechische und deutsche Gruppierungen gespalten. Die einzige übernationale Partei in der damaligen Parteienlandschaft war die KPČ, die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei. Ihr Parteivorsitzender, der damals noch recht junge Klement Gottwald – 1948 wurde er zum Drahtzieher des kommunistischen Umsturzes und danach zum ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Volksrepublik –, wollte zusammen mit den unterdrückten Deutschen den Kampf gegen die tschechische Bourgeoisie aufnehmen. Er optierte wie Wilson für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und verkündete anlässlich des 6. Parteitages im Jahr 1931 den doch überraschenden Satz: „Die Tschechoslowakei ist ein schlimmerer Völkerkerker, als es das alte Österreich war!“

Den „Deutschen“ ging es immer schlechter. Zwei völlig verschiedene Faktoren gaben dafür den Ausschlag.

Einmal erfasste die in den späten 1920er Jahren einsetzende Wirtschaftskrise akkurat jene Bereiche, die vor allem in den Sudetenländern angesiedelt waren: die Leicht- und die Konsumgüterindustrie. Viele deutsche Glasbläser, Strumpfwirker, Weber und Stoffdrucker wurden arbeitslos. Die Arbeitslosenzahlen in den deutschen und gemischtsprachigen Randgebieten waren etwa doppelt so hoch wie in den innertschechischen Bezirken. Einen Schuldigen für diese Strukturprobleme hatten die Politiker der Sudetendeutschen recht bald gefunden: die in Prag amtierenden tschechischen Behörden.

Zum anderen benachteiligten die tschechischen Behörden die deutschsprachige Minderheit tatsächlich bei vielen staatlichen Regulierungsmaßnahmen: Einstellung in den Staatsdienst, Förderung der Infrastruktur, Bereitstellung von Bildungsangeboten.

Trotzdem muss ergänzend gesagt werden, dass die Klagen vieler Sudetendeutscher über die brutale Unterdrückung und den entsetzlichen Terror von Seiten der tschechischen Behörden sicher nicht zutreffend waren und eher vom Tschechenhass der deutschen Bevölkerung als von der Einsicht in reale Gegebenheiten getragen wurden. Zwar stimmt es, dass die Zahl der deutschen Beamten – zum Teil durch das Einführen von sprachlichen Eignungsprüfungen – verringert wurde. Dennoch war 1930 der relative Anteil der Deutschen im Staatsdienst noch immer höher als der der Tschechen.

Auch ist es richtig, dass die tschechischen Schulbehörden den Bau von tschechischen Schulen vor allem im deutschen Siedlungsgebiet forcierten. Doch wiesen die deutschen Klassen der Grundschulen noch immer geringere durchschnittliche Schülerzahlen auf als die tschechischen, selbst die Klassen im Deutschen Reich hatten mit größeren Schülerzahlen zu kämpfen. Auch die Zahl der höheren Schulen der Deutschen überstieg die der Tschechen im Verhältnis zur...

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