Wie schon angedeutet wurde, sind die weitaus meisten Beiträge zur Wiederbesiedlung der Grenzgebiete der böhmischen Länder ab 1945 tschechischer Provenienz (ca. 90 %). Bevor auf diese eingegangen wird, sei jedoch das Augenmerk auf im Ausland erschienene Arbeiten gerichtet.
Es ist schwer nachzuvollziehen, warum die deutschsprachige und insbesondere die sudetendeutsche Forschung die Heimatgebiete der Deutschen in den böhmischen Ländern nach dem erzwungenen Wegzug der meisten Deutschen so stiefmütterlich behandelt hat. Zumindest für sudetendeutschstämmige Forscher handelte es sich doch um deren ehemalige Heimat. Es mutet beinahe so an, dass vor lauter - verständlicher - Aufarbeitung des Vertreibungs- und Aussiedlungsgeschehens kaum mehr Platz und Gelegenheit dazu bestand, andere - mit dem sudetendeutschen Schicksal auch noch so eng verbundene - Themenkreise zu bearbeiten[41]. Als weiterer Hauptgrund ist zweifellos der erschwerte wenn nicht gar verunmöglichte Zugang zu tschechoslowakischen Archiven ins Feld zu führen. Zudem war die ehemalige Heimat der Sudetendeutschen bis in die frühen 1960er Jahre für Deutsche nur schwer zugänglich. Dennoch: Auch verfügbare Forschungsgrundlagen wie Publikationen tschechoslowakischer Provenienz und Augenzeugenberichte damals noch in den Wiederbesiedlungsgebieten befindlicher Deutscher[42] wurden im Hinblick auf die Wiederbesiedlungsprozesse nicht ausgewertet. Wichtige Standardwerke zur allgemeinen böhmischen Geschichte erwähnen die Wiederbesiedlungsvorgänge meist nur nebenbei[43]. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob sich die bisherige deutschsprachige Geschichtsschreibung - und mit ihr viele andere - überhaupt der am Anfang dieser Arbeit kurz skizzierten Tragweite der Wiederbesiedlungsvorgänge bewusst war. Immerhin fand auf knapp einem Drittel des Territoriums der böhmischen Länder ein Bevölkerungsaustausch im Millionenausmass statt - mit weitreichenden Folgen für das Gesellschaftsgefüge des ganzen Landes bis in die Gegenwart. In vermindertem Ausmass muss diese Kritik aber auch auf viele tschechische Autoren der Ära bis 1989 gerichtet werden, die in ideologisch übertünchten Werken vor lauter Begeisterung über das ‚Überwachsen der nationalen und demokratischen Revolution in eine sozialistische’[44] des öfteren nichts oder nicht viel Gehaltvolles über die zweite hausgemachte Massenmigration (neben dem ‚Transfer’ der Deutschen) der Nachkriegsjahre zu berichten hatten.
Für die deutschsprachige Forschung von herausragender Bedeutung sind die Beiträge des ab den 1950er Jahren beim Herder-Institut in Marburg an der Lahn wirkenden Sudetendeutschen Rudolf Urban. Urban, dessen wissenschaftliche Tätigkeit bereits zu Zeiten der Ersten Tschechoslowakei begonnen hatte, beschäftigte sich während rund drei Jahrzehnten ausgiebig mit dem Schicksal der ehemals deutschen Mehrheitsgebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens nach dem Verschwinden der meisten Deutschen. Dieser Themenkreis stellte sozusagen den Schwerpunkt von Urbans Schaffen dar. Weil es deutscherseits punkto Wiederbesiedlung und Schicksal der Grenzgebiete nach 1945 keinen vergleichbar bedeutenden Autor zu Urban gibt, rechtfertigt sich eine nähere Besprechung seines Werks.
Die im Anhang befindliche Bibliographie umfasst Dutzende Beiträge Urbans, deren erster im Jahre 1951 und letzter im Jahre 1975 erschienen. Nach Angaben des Betreuers der Dokumentensammlung des Herder-Instituts Marburg, Dr. Peter Wörster, hinterliess der 1985 verstorbene Urban einen kleinen, bisher noch ungeordneten Nachlass[45]. Ein generelles Problem - nämlich die praktische Unmöglichkeit, in tschechoslowakischen Archiven zu arbeiten - bestimmte auch Urbans Werk. Die meisten seiner Erkenntnisse stammten aus dem akribisch genauen Studium tschechoslowakischer Zeitungen, Zeitschriften, Fachzeitschriften und Buchveröffentlichungen. Das Pressearchiv des Herder-Instituts bot dafür denkbar günstige Voraussetzungen. Es ist bemerkenswert, wie viele bis heute gültige Erkenntnisse auf diese Weise ohne Archivarbeit erschlossen werden konnten. Abgesehen von geringfügigen Nuancen kam Urban zu ähnlichen Schlüssen wie die tschechische Forschung zum gleichen Thema, interpretierte diese aber verständlicherweise eher aus der (sudeten-)deutschen Perspektive. Urbans Verdienst ist es auch, in den 1950er[46], 1960er[47] und 1970er Jahren[48] einige grundlegende Zeitschriften- und Presseartikel tschechischer Wissenschaftler in deutscher Übersetzung der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Urban gesellt sich zu den wenigen sudeten- bzw. westdeutschen Forschern, die auch nach 1948 den Kontakt mit der tschechoslowakischen Forschung nicht abbrachen und - unter der gebotenen Vorsicht - mit deren Ergebnissen zu arbeiten verstand. Nachdem er bereits in den 1950er Jahren einige einschlägige Artikel[49] veröffentlicht hatte, erschien 1964 seine grundlegende Monographie ‚Die sudetendeutschen Gebiete nach 1945’[50]. Diese 440 Seiten starke Darstellung stellt die einzige Monographie der deutschsprachigen Forschung zu unserer Thematik dar. Parallel erschienen beim Herder-Institut in Marburg weitere Monographien über die ehemaligen ‚deutschen Ostgebiete unter fremder Verwaltung’[51]. Sogar der Troppauer Rezensent wusste Urbans Werk 1968 zu loben, auch wenn er ihm vorwarf, dass - obgleich „der Autor in seinen Informationen meist objektiv [ist], über positive Seiten der Entwicklung spricht - er aber nicht versucht, die grundlegenden Ursachen und genaueren Zusammenhänge einiger Erscheinungen zu suchen“[52]. Die „Fakten [seien] im Ganzen sehr genau, leicht einseitig ausgewählt und ohne breitere Zusammenhänge interpretiert [...] Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus kann dieser Zugang als Kenntnismangel historischer Methoden bezeichnet werden“. Tatsächlich hat der Rezensent nicht ganz unrecht, wenn er Urban vorhält, dass es in seinem Werk „vor allem um eine Beschreibung geht, eine Darstellung des gegenwärtigen Standes, ohne dass der Autor die tieferen Zusammenhänge und Ursachen sucht“. Urbans Darstellung sticht nicht hervor durch elaborierten Formulierungen, doch der faktographische Reichtum seines Werks beeindruckt. Den eigentlichen Besiedlungsvorgängen widmet sich der Autor auf 52 Seiten, nachdem er auf acht Seiten einen Überblick über die Verwaltungseinteilung in den böhmischen Ländern von 1938 bis 1960 geboten hat. Eigentlich beschränkt sich Urbans Darstellung der Neubesiedlung auf eine Besprechung der verschiedenen Siedlergruppen, die in die zwei Kategorien Altsiedler (Deutsche und Tschechen) sowie Neusiedler (Tschechen, Reemigranten, Slowaken, Magyaren, Bulgaren, Kroaten, Griechen, Zigeuner) unterteilt werden. Unerwähnt bzw. unterbelichtet bleiben Themen wie die zentrale Organisation der Wiederbesiedlung und die Ausrichtung der staatlichen Wiederbesiedlungspolitik, die Diskurse innerhalb der tschechischen Gesellschaft über Erfolg oder Misserfolg der Wiederbesiedlungsvorgänge und rechtliche Grundlagen. Der grösste Nutzen dieses Teils ist demographischer Natur. Diagramme, Tabellen und Karten zum Bevölkerungsstand nach Nationalitäten ergänzen ihn.
Den Löwenanteil des Buches machen Kapitel zur Nachkriegsentwicklung (bis 1964) verschiedener Industrie- und Gewerbezweige, sowie über das Kultur- und Gesellschaftsleben aus. Das Kapitel Land- und Forstwirtschaft (33 Seiten) spart nicht mit vielfach berechtigter Kritik an der kommunistisch dominierten Agrarpolitik, bringt aber relativ wenig über die Jahre bis 1948. Im sehr ausführlichen Kapitel Industrie und gewerbliche Wirtschaft (170 Seiten) finden sich detaillierte Angaben über die Art der Enteignungen (Konfiskationen) und des Besitzübergangs von Immobilien sowie beweglichen Gütern in tschechoslowakische Hände, zu einzelnen Industriezweigen wie der Glas- und Keramikindustrie oder beispielsweise der in den nordwestlichen und nordöstlichen Grenzgebieten so wichtigen Textilindustrie. Die Darstellung schwankt ständig zwischen dem Bericht über die gegenwärtige Lage (1964) und der Rekapitulierung der Vorgänge von 1945 bis in die frühen 1960er Jahre. Um eine zusammenfassende Synthese im historischen Rückblick ist der Autor nicht bemüht. Ein Vergleich mit ähnlichen Prozessen ausserhalb der böhmischen Länder unterbleibt ebenso. Zweifellos dürfte Urbans Buch in den letzten über 35 Jahren eine zahlreiche interessierte Leserschaft gefunden haben - darunter sicher überwiegend aus den böhmischen Ländern stammende Deutsche. Sein Werk kann jedoch sicher nicht als Monographie über den eigentlichen Wiederbesiedlungsprozess bezeichnet. werden, sondern dürfte eher als - äusserst gelungene, stupend fundierte und multithematisch angelegte - Faktensammlung zum Stand der ehemals deutsch besiedelten Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens von 1945 bis in die frühen 1960er Jahre gelten. Wiewohl sich Urban nach Veröffentlichung seiner Monographie (1964) hauptsächlich auf das Übersetzen und knappe Kommentieren tschechoslowakischer Beiträge beschränkte, verfolgte er auch in eigenen Beiträgen bis zur Mitte der 1970er Jahre sein Leitthema weiter[53].
Was hat die übrige deutschsprachige Literatur neben Rudolf Urbans verdienstvollem Beitrag zur Erforschung unserer Thematik beigetragen? Erwartungsgemäss viel Aufmerksamkeit widmete sie der Problematik der verbliebenen...