Einleitung: Zeit, über den Tellerrand hinauszusehen
»Wir essen eindeutig zu viel.«
Gouverneur Tommy Thompson (Wisconsin, USA),
US-amerikanischer Gesundheitsminister in den Jahren 2001 bis 2005, in der Sendung Today, NBC, 2004
Das stimmt tatsächlich. So ist es, Danke, dass Sie dieses Buch gekauft haben, Sie sind ein großartiges Publikum. Dann kann ich ja wieder gehen.
Nun ja, das ist es, was die US-amerikanische Regierung Ihnen weismachen möchte. All die großen Gesundheitsorganisationen der US-amerikanischen Regierung – die Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention CDC, das Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten USDA, das Medizinische Institut IOM, die Nationalen Gesundheitsinstitute NIH sowie der Direktor des öffentlichen Gesundheitsdienstes der USA – sagen, dass Fettleibigkeit die Folge eines Energie-Ungleichgewichts sei: einer zu hohen Kalorienzufuhr bei zu wenig körperlicher Bewegung. Und sie haben Recht – bis zu einem bestimmten Punkt. Essen wir mehr als früher? Natürlich. Treiben wir weniger Sport? Zweifellos. Doch obwohl wir das wissen, sind Fettleibigkeit und die damit einhergehenden Krankheiten nicht seltener geworden. Es ist wichtig zu wissen, wie es in einem so kurzen Zeitraum von lediglich 30 Jahren zu dieser Epidemie gekommen ist. Die Leute sagen: »Weil wir die Lebensmittel haben«, und das stimmt ja auch. Doch das war auch früher schon so. Die Leute sagen: »Weil es das Fernsehen gibt«, und das stimmt ja auch. Doch es war auch schon früher da, ohne dass es zu dieser Kalorienkatastrophe gekommen wäre. Hinter dieser Sache steckt mehr, sehr viel mehr, und das ist alles andere als schön.
Jeder gibt allen anderen die Schuld daran. Keinesfalls ist man selbst schuld! Der Lebensmittelkonzern Big Food meint, es liege an der mangelnden Bewegung aufgrund von Computern und Videospielen. Die Fernsehindustrie sagt, die Ursache sei die ungesunde Ernährung. Die Anhänger des Ernährungswissenschaftlers Atkins geben einem Übermaß an Kohlenhydraten die Schuld, während die Fans des Mediziners Ornish glauben, wir äßen zu viel Fett. Die Saftfraktion meint, Limonaden und Brausen seien schuld, während die Limonadentrinker den Saft im Verdacht haben. Die Schulen beschuldigen die Eltern, die Eltern wiederum die Schulen. Und da nichts geklärt ist, wird auch nichts getan. Wie bringen wir all diese Meinungen unter einen Hut, sodass ein in sich stimmiges Bild entsteht und Änderungen möglich werden, die für jeden Einzelnen ebenso wie für die gesamte Gesellschaft eine Verbesserung darstellen? Darum geht es in diesem Buch.
Essen ist nicht dasselbe wie Tabak, Alkohol oder Drogen. Essen ist Ernährung. Essen bedeutet Überleben. Und, was besonders wichtig ist: Essen bedeutet Genuss. Es gibt nur zwei Dinge, die wichtiger sind als Nahrung: Luft und Wasser. Das Dach über dem Kopf belegt abgeschlagen den vierten Platz. Nahrung spielt eine entscheidende Rolle. Unglücklicherweise spielt das Essen heute sogar eine zu große Rolle: Nahrung geht über das Notwendige hinaus, ist eine Konsumware und auch zu einem Suchtmittel gemacht worden.
Das hat in unserer Welt zahlreiche Auswirkungen, und zwar wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und medizinisch. Es muss ein Preis dafür bezahlt werden, und wir bezahlen ihn jetzt. Wir zahlen ihn mit unseren Steuern, unseren Versicherungsprämien und unseren Flugpreisen – fast jede Rechnung, die wir bekommen, enthält einen Übergewichtsaufschlag. Wir zahlen mit Elend, schlechteren Schulnoten, gesellschaftlicher Rückentwicklung und Tod. Wir zahlen immer, auf die eine oder andere Weise, da die Ernährungsweise, die wir erschaffen haben, nicht zu unserer Biochemie passt; dieses Ungleichgewicht steht im Zentrum unserer medizinischen, gesellschaftlichen und finanziellen Krise. Und was noch schlimmer ist: Dagegen gibt es keine Medikamente. Es existieren keine Verordnungen, keine Gesetze, keine Regelungen und keine Steuern, die diesen Missstand allein beheben könnten. Es gibt keine schnelle Lösung, doch das Problem ist lösbar, wenn wir wissen, was wirklich vor sich geht – und wenn wir es wirklich lösen wollen.
In dem 2004 erschienenen Buch Food Fight spricht Kelly Brownell von der Yale University über Fettleibigkeit und die »giftige Umgebung«, in der wir heute leben – ein Euphemismus für unsere kollektiven schlechten Verhaltensweisen. Ich gehe einen Schritt weiter. Ich interessiere mich dafür, ob hier etwas tatsächlich »Giftiges« vor sich geht. Selbst Labortiere sind im Laufe der letzten 20 Jahre immer fetter geworden!
Jede gute Geschichte braucht einen Bösewicht. Eigentlich wollte ich ihn auf den ersten Seiten dieses Buches noch nicht preisgeben, doch ich möchte Sie nicht länger auf die Folter spannen. Es ist der Zucker – der Professor Moriarty dieser Geschichte ist eine Substanz, die heute in fast allen Lebensmitteln und Getränken weltweit enthalten ist. Zucker tötet uns … langsam; das werde ich Ihnen beweisen. Jede Aussage dieses Buches basiert auf wissenschaftlichen Studien, historischen Tatsachen oder aktuellen Statistiken.
Ich bin Arzt. Wir schwören einen Eid: »primum non nocere« – zuerst einmal nicht schaden. Doch diese Worte enthalten ein Paradoxon: Wenn Sie wissen, dass etwas schlecht ausgehen wird, richten Sie Schaden an, wenn Sie nichts tun.
Natürlich bin ich kein Anwalt. Und auf Streit bin ich auch nicht aus. Ich habe mich dieser Kontroverse nicht mit einer vorgefertigten Meinung genähert. Nachdem ich mich 15 Jahre lang meiner medizinischen Karriere gewidmet hatte, setzte ich mich immer intensiver mit dem Thema Adipositas auseinander. Bis 1995 versuchte ich ebenso wie meine Ärztekollegen, fettleibige Patienten zu meiden. Ich wusste nicht, was ich ihnen sagen sollte außer »Das ist Ihr Fehler!« oder »Essen Sie weniger und treiben Sie mehr Sport!«. Damals war es eine Ausnahme, wenn man ein Kind mit Typ-2-Diabetes sah. Heutzutage ist das fast schon normal. Als Arzt kann man über das Problem der Fettleibigkeit einfach nicht mehr hinwegsehen; man kann es nicht länger übergehen.
Die hier dargelegten Gedanken haben mich nicht einfach eines Tages in einer göttlichen Eingebung wachgerüttelt. Dieses Buch ist die Essenz von 16 Jahren medizinischer Forschung, Ärztekonferenzen, akademischem Austausch mit Kollegen, Diskussionsrunden, Politikanalysen und umfassender Patientenversorgung. Für mich stellt es keinen Interessenkonflikt dar, die Informationen hier preiszugeben; ich bin weder ein Spielball der Lebensmittelindustrie noch das Sprachrohr irgendeiner Organisation. Im Gegensatz zu vielen Autoren, die sich den Kampf gegen Adipositas zum Ziel gesetzt haben, verfüge ich nicht über eine Produktlinie, die mein Bankkonto auffüllen soll. Ich bin auf ehrliche Weise und durch eine gründliche Datenanalyse zu meinen Ansichten gelangt. Die Daten sind öffentlich, sodass jeder sie einsehen kann. Ich stelle sie nur etwas anders zusammen.
Als Wissenschaftler habe ich persönlich zum Verständnis der Regulierung des Energiehaushalts beigetragen. Als Kinderarzt beschäftige ich mich in meiner Praxis Tag für Tag mit den Wechselwirkungen zwischen Genetik und Umwelt, die zu Fettleibigkeit führen. Seit ich mich für die Hintergründe interessiere, erkenne ich, wie die Veränderungen in unserer Gesellschaft diese globale Pandemie ausgelöst haben. Dieser Gesamtüberblick erlaubt es mir, für Sie Zusammenhänge herzustellen – und diese sehen wahrlich nicht so aus, wie man es Ihnen bisher weismachen wollte.
Den Fettleibigen selbst die Schuld für die Adipositas zuzuschieben, ist die einfachste Antwort – doch sie ist falsch. Die aktuellen Ansichten über Völlerei und Trägheit, Diät und Sport werden zwar von fast jedem geteilt, doch sie basieren auf falschen Voraussetzungen und Mythen, die weltweit im Bewusstsein der Menschen verankert sind. Fettleibigkeit ist kein Fehlverhalten, keine Charakterschwäche und kein Fehler des behandelnden Arztes. Wenn wir über die verheerenden Auswirkungen von Adipositas nachdenken, haben wir oft zuerst Erwachsene vor Augen. Doch wie steht es mit den Kindern? Ein Viertel der US-amerikanischen Kinder ist heute fettleibig, und auch in Deutschland und Europa sind die Zahlen dramatisch. Selbst Kleinkinder bringen schon zu viel auf die Waage! Kinder entscheiden sich nicht dafür, adipös zu sein. Sie sind Opfer, nicht Täter. Wenn Sie die wissenschaftlichen Zusammenhänge verstehen, werden Sie erkennen, dass das, was für Kinder gilt, für Erwachsene ebenfalls Gültigkeit hat. Ich weiß, was Sie jetzt denken: Erwachsene sind für ihre Entscheidungen und für die Nahrung, die sie ihren Kindern geben, selbst verantwortlich. Doch sind sie das wirklich?
Ein geschätzter Kollege, der sich dem Kampf gegen Adipositas verschrieben hat, sagte einmal zu mir: »Es ist mir egal, was die Adipositasepidemie auslöst. Ich will einfach nur wissen, was man dagegen tun kann.« Trotz allen Respekts widerspreche ich ihm. Wenn wir dieses Übel loswerden wollen, müssen wir verstehen, wie es entstanden ist. Tatsächlich basieren unsere Überlegungen auf Wechselwirkungen, Hypothesen und Spekulationen. Ich habe dieses Buch geschrieben, um Sie als Leser zu überzeugen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen – für Ihre Gesundheit, die Ihrer Kinder und zum Wohle unseres Landes. Doch Sie können sich nicht wirklich für eine Sache einsetzen, wenn Sie nicht wissen, was tatsächlich vor sich geht. Und Sie können mir nicht Unrecht geben, bevor Sie alle Fakten (also auch die wissenschaftlichen Hintergründe) kennen.
Wenn Sie nach der Lektüre dieses Buches glauben, es sei Schwachsinn oder ich ein Spinner, sagen Sie es mir. Ich möchte...