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Die Deutschen und ihre Mythen

AutorHerfried Münkler
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783644105515
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Herfried Münkler schreibt über die Deutschen und ihre Geschichte im Spiegel ihrer Mythen. Dabei erweckt er alte Sagen - etwa um die Nibelungen - zu neuem Leben, besichtigt schicksalhafte Orte wie Weimar, Nürnberg oder den Rhein und lässt historische Persönlichkeiten wie Hermann den Cherusker, Friedrich den Großen oder den Papst auftreten - selbst die D-Mark fehlt nicht in diesem Reigen. In einer großen historischen Analyse zeigt Münkler, wie Mythen unsere nationale Identität geformt haben und welch motivierende und mobilisierende Kraft ihnen eignet - im Positiven wie im Negativen. Denn in der deutschen Geschichte gingen Mythos und Politik stets Hand in Hand. So dienten die Schlacht im Teutoburger Wald oder der Drachentöter Siegfried der inneren Militarisierung der Deutschen, und das «Unternehmen Barbarossa» führte sie direkt in den Untergang: Nach 1945 erblühte die Bundesrepublik im Mythos vom «Wirtschaftswunder», die DDR richtete sich am «antifaschistischen Widerstand» auf. Heute dagegen ist Deutschland ein mythenarmes Land - ist das ein Fluch oder ein Segen? Ein aufschlussreiches Werk nicht nur über die Geschichte und Mentalität der Deutschen, sondern auch über die Politik der Gegenwart - souverän dargestellt und spannend zu lesen. «Ein Bildungserlebnis.» Welt am Sonntag

Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa «Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie «Der Große Krieg» (2013), «Die neuen Deutschen» (2016), «Der Dreißigjährige Krieg» (2017) oder «Marx, Wagner, Nietzsche» (2021), die alle monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Zuletzt erschien «Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert», ebenfalls ein «Spiegel»-Bestseller. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.

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Leseprobe

Einleitung


Verglichen mit ihren europäischen Nachbarn oder den USA, ist die Bundesrepublik Deutschland eine weithin mythenfreie Zone – zumindest, wenn es um politische Gründungs- und Orientierungsmythen geht: kein Sturm auf die Bastille mit anschließender glorreicher Revolution, die zum politischen Orientierungszeichen einer ganzen Epoche wurde, wie in Frankreich;[1] kein Unabhängigkeitskrieg, in dem politische Werte durchgesetzt wurden, und keine Erzählungen über die zähe Selbstbehauptung kleiner Gruppen in einer feindlichen Umgebung, an der man sich ein Beispiel für gegenwärtige Herausforderungen nehmen könne, wie in den USA;[2] keine ungebrochene Erinnerung an eine glanzvolle imperiale Epoche, in der man der Welt Ordnung und Zivilisation gegeben habe, aus der die Eliten Selbstbewusstsein ziehen, wie in England; und auch keine identitätsstiftende Erinnerung an Untergang und Wiedererstehung, an heroischen Widerstand, der am Schluss von Erfolg gekrönt gewesen ist, wie in Polen.[3] Die Beispiele reichen vom Siegeskult bis zur stolzen Opfererzählung, vom politischen bis zum technologischen Führungsanspruch und zeigen die Bandbreite, innerhalb deren politische Mythen ihre Wirkung entfalten können. In Deutschland findet sich nichts Vergleichbares, lediglich die Erinnerung an das zweimalige politisch-militärische Scheitern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus, zunächst schamhaft beschwiegen, dann aber, zumindest von den Historikern, entschlossen aufgearbeitet.

Auch das sind Großerzählungen, aus denen nationale Identität gewonnen wird, nur dass sie durchgängig mit negativen Vorzeichen versehen sind.[4] Deutschland nimmt insofern eine Sonderstellung ein; kein anderes Land hat sich einer ähnlichen Erinnerungsarbeit unterworfen und die Zeichen moralischer Schande so sichtbar gemacht: nicht Japan, nicht Russland als Nachfolger der Sowjetunion und schon gar nicht Italien. Damit kann man als Deutscher einverstanden sein, aber Stolz will sich angesichts dessen, was da erinnert wird, nicht einstellen. Was aus der intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit erwächst, ist ein politisches Selbstverständnis, das sich weder lautstark noch demonstrativ kommunizieren lässt.

Man kann diesen Mangel freilich auch als Vorteil begreifen: Endlich ist es in Deutschland möglich, Politik jenseits mythischer Irrungen und Wirrungen, ohne narrative Verlockungen und frei vom Ballast eines geschichtlichen Wiederholungszwangs allein auf der Grundlage rationaler Interessenkalküle und diskursiven Erwägens zu betreiben. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Das zu zeigen ist die Absicht dieses Buches. Es gibt keinen geraden Weg «vom Mythos zum Logos»,[5] schon gar nicht in der Politik, und auch Max Webers gerne bemühte Entzauberungsdiagnose ist, genauer betrachtet, viel zu melancholisch, als dass sie als Trompetensignal des Fortschritts in eine bessere, weil vernünftigere Welt verstanden werden könnte.[6]

Tatsächlich ist man nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik keineswegs gänzlich ohne Mythen ausgekommen, nur waren diese nicht mehr auf die Politik, sondern auf den individuellen Wohlstand und dessen Zurschaustellung bezogen. Während man in der DDR versuchte, eine alternative Narration deutscher Geschichte gründungsmythisch aufzubereiten, in der Volksaufstände und revolutionäre Projekte an die Stelle der Kriege und Schlachten traten, verzichtete man im Westen auf einen offiziellen Gründungsmythos und begnügte sich damit, ein ausgesprochen symbolarmer Staat zu sein. Das wurde anfänglich durch den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik erheblich erleichtert.[7] So verlagerte sich das Bedürfnis nach mythischer Narration und symbolischer Repräsentation von Politik und Staat auf Markt und Konsum. Der Volkswagen wurde zum Zeichen des Dazugehörens, und der Mercedes war das Symbol des gelungenen Aufstiegs, die Bestätigung des Erfolgs. Überspitzt gesagt, löste der Mercedesstern das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration ab. Käfer und Golf dominierten die Märkte und prägten die Identität von Generationen, aber der Mercedes brachte zum Ausdruck, dass deutsche Leistung auch international wieder Respekt und Anerkennung fand. Janis Joplin sang: «Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz.» Nachdem es mit Schlachtflotten und Panzerarmeen vorbei war, hat kaum etwas den deutschen Anspruch auf Weltgeltung so deutlich verkörpert wie das Automobil aus Stuttgart. Das hat der spätere Unternehmensvorstand Jürgen Schrempp nicht begriffen, als er Namen und Symbol leichtfertig für die Bezeichnung Daimler-Chrysler drangab – eine Fehlentscheidung, die mit Milliardenaufwand revidiert werden musste. Ein Blick auf den Mythos hätte der Konzernzentrale diese Verluste ersparen können. Mythen sind Ansammlungen symbolischen Kapitals, von denen man gut leben kann, solange man sie hegt und pflegt. Dieses symbolische Kapital ist jedoch auch schnell verspielt.

Wie Schrempp die Bedeutung eines Namens und der angelagerten Symbolik unterschätzt hat, so neigen viele Politiker dazu, Narrationen im politischen Betrieb ein zu geringes Gewicht beizumessen.[8] Vor allem, wenn Politik sich nicht in routiniertem Administrieren erschöpft, sondern einschneidende Reformen erforderlich werden oder politisches Neuland zu betreten ist, erlangen solche Narrative große Bedeutung. Mythen versichern dann, dass die zu meisternden Aufgaben bewältigt werden können, weil das damals auch gelungen ist. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht und sind damit kognitive wie emotionale Ressourcen der Politik. Das hat sich bei der sogenannten Agenda 2010 des zweiten Kabinetts Schröder gezeigt, die ohne narrativ-symbolische Rückendeckung auskommen musste und nicht zuletzt deshalb keine ausreichende Unterstützung innerhalb der SPD fand. Man hat aus der Not eine Tugend zu machen versucht, indem man die einzelnen Reformmaßnahmen mit einer explizit technischen Symbolik umgab, etwa die Hartz-Reformen durchnummerierte oder das Zieljahr der Reformen «Zwanzig-Zehn» aussprach. Aber das waren Symboliken, die eher negative Empfindungen hervorriefen als die politische Phantasie stimulierten. Die Entstehung der Linkspartei[9] und die Abwanderung größerer Wählerschichten von der Sozialdemokratie ist – jedenfalls zum Teil – eine Folge des narrativen wie symbolischen Mangels, mit der dieses Projekt in Gang gesetzt wurde. Das Defizit politischer Mythen in Deutschland hat also einen Preis, und der besteht im Fehlen von Großerzählungen, die Zutrauen und Mut erzeugen und politische Reformen begleiten und absichern können. Der Befund mag überraschen: Mangel an politischen Mythen und struktureller Konservatismus gehen offenbar Hand in Hand.

Nun hat aber, wie die deutsche Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigt, ein überbordender Reichtum an politischen Mythen ebenfalls seinen Preis, und der war mit Sicherheit größer als der, den die Bonner und die Berliner Republik für ihre Mythenfeindlichkeit bisher zu zahlen hatten. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution und der sich in ihrem Gefolge entwickelnden politischen Dynamik hatte Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine Suche nach Nationalmythen und Nationalhelden eingesetzt, die an die Stelle der in der Jahrhundertmitte versiegten neostoischen Heroenmythik der höfischen Gesellschaft trat.[10] Vom wieder aufgefundenen Nibelungenlied bis zu Goethes Faust und Tacitus’ Germania, vom Cheruskerfürsten Hermann/Arminius über den Stauferkaiser Barbarossa bis zum Reformator Luther wurden literarische Texte und historische Personen auf ihre Tauglichkeit zu politischen Gründungs- und Orientierungsmythen getestet. In sagenumwobene Orte, literarische Texte und historische Ereignisse wurde eine Bedeutung investiert, durch die sie über sich hinauswiesen, Geheimnisse bargen oder heilsgeschichtliche Versprechen enthielten. Der Dichter Wilhelm Raabe hat von den drei großen sinnbehafteten Bergen beziehungsweise Burgen Deutschlands gesprochen, in denen sich Vergangenheit und Zukunft des Landes spiegelten: dem Brocken, dem Kyffhäuser und der Wartburg.[11] Mit der Reichsgründung setzte eine «Verdenkmalung» der Landschaft ein, durch die bestimmten mythisch besetzten Orten eine sakrale Aura verliehen wurde.[12] Das Arminiusdenkmal im Teutoburger Wald und das Barbarossadenkmal auf dem Kyffhäuser, das Niederwalddenkmal oberhalb von Rüdesheim und das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, zuvor bereits die Walhalla nahe Regensburg und die Ehrenhalle bei Kelheim sind damals entstanden, die Wartburg wurde grundlegend restauriert, und der Kölner Dom, dessen Bau Mitte des 16. Jahrhunderts eingestellt worden war, wurde nunmehr vollendet.[13] Die Brüder Grimm sammelten nicht nur hessische Märchen, sondern auch deutsche Sagen, die Romantiker Brentano und Arnim edierten Lieder und Gedichte in der berühmten Sammlung Des Knaben Wunderhorn, und fast möchte man meinen, hier habe sich überhaupt erst zugetragen, was Max Weber ein Jahrhundert später dann für beendet erklärte: die Verzauberung der Welt.

Dabei waren beileibe nicht alle Verzauberungen genuin politisch, aber fast alle erwiesen sich als politisch anschlussfähig, zumindest derart, dass sie etwas zur Identität der Nation...

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