Achtsamkeit – der erste Pfeiler eines glücklichen Lebens
Meister Ikkyû wurde einmal von einem Staatsbeamten gefragt, was denn die Essenz des Zen sei. Er nahm seinen Pinsel und malte die Schriftzeichen für das Wort Achtsamkeit in den Sand. Der Beamte war damit überhaupt nicht zufrieden und wollte wissen, was denn nun Achtsamkeit bedeute, und Ikkyû schrieb erneut die Zeichen für Achtsamkeit. Langsam ungehalten fragte der Beamte ein drittes Mal, was das denn nun bedeute, und Meister Ikkyû malte erneut die Zeichen in den Sand, doch der Beamte verstand ihn noch immer nicht.
Achtsamkeit ist ein zentrales Konzept der buddhistischen Lehren, das »Herz buddhistischer Meditation«, wie der deutschstämmige Mönch und Meditationslehrer Nyanaponika Thera sagt. Über die Fähigkeit, achtsam zu sein, verfügen wir aber alle, sie ist universell und nicht an irgendwelche kulturellen oder spirituellen Vorstellungen gebunden. Denn Achtsamkeit bezeichnet etwas ganz Grundlegendes: die Fähigkeit unseres Geistes wahrzunehmen, was gerade geschieht, und uns dessen in dem Augenblick auch bewusst zu sein. Jeder ist dazu in der Lage, eine Tasse an den Mund zu führen, und zu wissen, dass er eine Tasse an den Mund führt; die Wohnungstür zu öffnen, und zu wissen, dass er die Tür öffnet. Dennoch erleben wir solche Aktivitäten nur äußerst selten bewusst.
Ohne die Fähigkeit zum bewussten Wahrnehmen dessen, was geschieht, was wir wahrnehmen, denken, fühlen, könnten wir nicht überleben. Diese Fähigkeit, evolutionsgeschichtlich von ganz entscheidender Bedeutung, ermöglicht uns zum Beispiel, Emotionen nicht nur zu sein, sondern sie als Gefühle bewusst wahrzunehmen, Impulsen nicht nur blind zu folgen, sondern sie zu merken und ihr Ausagieren unter Umständen auch zu unterlassen, uns bewusst an etwas zu erinnern, das wir uns dann vergegenwärtigen und für unser Handeln berücksichtigen können.
Doch obwohl wir alle über diese Fähigkeit verfügen und sie auch fortwährend im Einsatz ist, ist uns vieles von dem, was wir tun, fühlen, denken, nicht sehr bewusst. Wir wissen nicht, wo wir vor fünf Minuten den Schlüssel hingelegt haben, ob wir uns beim Duschen nun die Haare tatsächlich gewaschen oder nur nass gemacht haben, ob die Blumen heute Morgen auch schon so verwelkt und ohne Wasser in der Vase gestanden haben.
Vor kurzem ging ich durch eine belebte Einkaufsstraße, durch die ich bereits Hunderte Male zuvor gegangen war – meist in Gedanken schon im Büro und bei dem, was ich gleich zu erledigen oder worüber ich mich gestern oder vorgestern dort so aufgeregt hatte. An jenem Morgen aber stolperte ich über irgendetwas, und als ich wieder hochsah, registrierte ich, dass eine Frau mit einer großen Aufstelltafel aus der Tür einer Boutique trat und sie am Rand des Bürgersteigs aufstellte. Mit Kreide schrieb sie etwas auf die Tafel. Ich ging näher heran und las: »Es ist viel schöner, in den Himmel hinaufzuschauen, als dort zu sein.« Ich schaute hoch in den Himmel, sah das Grün der Bäume gegen das Blau des Himmels, hörte Vogelgezwitscher, Hupen, Motorengeräusche, menschliche Stimmen, sah das Gewusel der Menschen, die an mir vorbeiströmten, und fand den Spruch vollkommen stimmig. Seither schaue ich regelmäßig, wenn ich an diesem Laden vorbeikomme, ob diese Tafel wieder draußen auf dem Gehsteig steht, und freue mich, wieder einen neuen Ausspruch lesen zu können, denn – so habe ich inzwischen gemerkt – sie wechseln fast täglich.
Im Zeitalter des Multitasking, der permanenten Ablenkungen und Zerstreuungen werden unsere Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer, und wir selbst tun meist einiges dafür, sie noch weiter zu verkürzen. Wir essen, haben gleichzeitig eine Zeitschrift neben uns liegen, in die wir immer mal wieder einen Blick werfen, gucken fern und erledigen vielleicht noch unsere E-Mails.
Und in unserem Geist tobt sich der im Buddhismus als sechster Sinn bezeichnete Sinn des Denkens gewöhnlich ungehindert aus. Er versetzt uns in virtuelle Welten, die oft kaum noch in einer Verbindung zu der Situation stehen, in der unser Körper und die anderen fünf Sinne sich gegenwärtig befinden. Wenn wir auf einer Sommerwiese liegen und gedanklich mit der letzten Auseinandersetzung, die wir mit unserem Partner, unserer Partnerin hatten, beschäftigt sind, dann liegen wir dort zwar mit unserem Körper, was uns ab und zu durchaus bewusst werden mag, wenn sich uns eine Fliege auf die Nase setzt, wir sind aber nicht wirklich dort, sondern gedanklich/emotional möglicherweise eher in der Wohnung, in der wir den Streit hatten. Doch hat das lediglich Vorgestellte durchaus eine Wirkung auf unseren Körper: Wir können nur durch die Erinnerung an den Streit erneut Wut, Trauer, Scham, Hass erleben, unser Blut kann wieder in Wallung geraten, Tränen können in unsere Augen treten, oder wir verziehen vor Schadenfreude über ein mögliches Unglück des anderen das Gesicht. Dabei liegen wir in der Sonne auf einer Wiese, der Wind streicht sanft durch die Grashalme und über unsere Haut, der Boden ist weich, Vögel zwitschern, einige weiße Wölkchen ziehen am blauen Himmel entlang. In einem Park, umgeben von vielen anderen, liegen da zwar viele Körper unter Umständen nah beieinander, doch sind alle in ihren eigenen virtuellen Welten, Träumen und Dramen und nehmen kaum Notiz von den »realen« Menschen nebenan auf der Wiese.
Oft sind wir aber noch nicht einmal mit ausgefeilten Geschichten oder Szenarien befasst, sondern sinnlose Gedankenfetzen gehen uns durch den Kopf, die sich im besten Fall assoziativ aneinanderreihen, ständig wiederkehrende Gedankenmuster bis hin zu Zwangsgedanken, die uns in den virtuellen Welten gefangen halten. Wir bleiben wieder und wieder gedanklich und emotional bei den gleichen Situationen hängen, planen zum zigsten Mal unseren »Auftritt« bei einer wichtigen Sitzung oder gehen immer wieder unseren Kleiderschrank durch, um zu überlegen, was wir bei diesem oder jenem Ereignis anziehen könnten. Unser Kopf ist meist mit viel »Müll« angefüllt, und gemeinhin haben wir das Gefühl, nicht viel dagegen tun zu können.
Wir leben also oftmals in einer sehr gespaltenen Welt, in der virtuellen unserer Gedanken, und in der, in der wir uns de facto befinden. Diese uns sicher allen vertraute Spaltung wird uns durch die Achtsamkeit bewusst, die Aufmerksamkeit dafür, was in uns und um uns herum geschieht. Sie holt uns in die Gegenwart, in den Reichtum des gegenwärtigen Momentes zurück, in den einzigen Moment, in dem wir tatsächlich lebendig sind.
Achtsamkeit ist also die Voraussetzung dafür, überhaupt mitzubekommen, was geschieht. Sie ist nach buddhistischer Vorstellung aber auch die Grundlage für Erkenntnisse, die sich aus der genauen Wahrnehmung dessen, was wir mit unserer Achtsamkeit beleuchten, ergeben. Erkenntnisse über unsere Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken, über unser Handeln, unsere Beziehungen zu uns und anderen, über die Gesellschaft, in der wir leben, über die Wirklichkeit des Lebens selbst. Es gibt nichts, das wir nicht achtsam betrachten und untersuchen könnten, keinen Bereich, der ausgespart bleiben müsste und über den wir dadurch kein sich durch Erfahrung gespeistes Wissen erlangen könnten. Achtsamkeit hat eine sehr, sehr weite Dimension. Sie ist auch eine Voraussetzung für individuelle und gesellschaftliche Transformations- und Heilungsprozesse. So nimmt es nicht wunder, dass sie, vor allem durch die bahnbrechenden Arbeiten von Jon Kabat-Zinn, gegenwärtig für immer mehr gesellschaftliche Bereiche (Medizin, Psychologie, Therapie, Wirtschaft, Politik) entdeckt wird. Dass damit auch die Gefahr einer bloß instrumentellen Sicht von Achtsamkeit einhergehen kann, bei der es darum geht, Menschen einfach nur fitter, belastbarer, flexibler zu machen, wird im Kapitel »Alles ist mit allem verbunden« näher beleuchtet.
In seiner berühmten Lehrrede über die Vier Verankerungen oder Grundlagen der Achtsamkeit pries der Buddha die Achtsamkeit als einen »wunderbaren Weg«, der den Lebewesen hilft, »Läuterung zu verwirklichen, Kummer und Trauer direkt zu überwinden, Schmerz und Angst ein Ende zu setzen, den rechten Pfad einzuschlagen und Nirwana zu verwirklichen.«
Welche Qualitäten sind es nun, die Achtsamkeit zu einem so wertvollen Instrument machen?
Achtsamkeit ist wie ein Licht, mit dem wir etwas beleuchten und damit in den Fokus unserer Aufmerksamkeit holen. Dadurch wird etwas sichtbar, das da ist, aber bis dahin im Dunkel unserer Nicht-Bewusstheit lag. Jetzt wird es uns zugänglich.
Achtsamkeit verändert das, was sichtbar geworden ist, nicht. Sie ist wie ein Spiegel, der jeweils das widerspiegelt, was vor ihm erscheint: ein blauer Ball erscheint als blauer Ball, nicht als rote Kiste, ein Gefühl der Freude als Freude und nicht als Wut, ein leidender Mensch als Leidender und nicht als Glücklicher.
Achtsamkeit ist wie die Linse eines Mikroskops, welche die Beschaffenheit des jeweils Betrachteten in einer größeren Auflösung zeigt, so dass sich das Betrachtete in einem ungeahnten Detailreichtum zeigen kann, der bei einem kurzen Blick nicht sichtbar geworden wäre. Vor allem dadurch werden tiefgreifende Erkenntnisse über das jeweilige Objekt möglich.
Das Licht, der Spiegel, die Linse des Mikroskops, sie denken nicht, sie verzerren nicht, sondern beleuchten, spiegeln oder zeigen das uneingeschränkt deutlicher, was vor ihnen ist. Achtsamkeit ist nicht konzeptuell oder gedanklich. Sie ist eine zunächst nichtbegriffliche Wahrnehmung dessen, was ist. Gedanken wie »jetzt bin ich achtsam« oder »ich schau mir das jetzt achtsam an« sind nicht Achtsamkeit, wiewohl man...