1. Kapitel (1976–1993)
Morgens halb neun in Helsinki. Ein Rockstar wird geboren. Zumindest ist das am Montag, den 22. November 1976 so, als ein gewisser Ville Hermanni Valo (deutsch: Wilhelm Hermann Licht) zum ersten Mal mit seinen später legendär werdenden «Smokey Eyes» in die Augen seiner Mutter Anita blickt. Wie alle montags vom Band rollenden Exemplare gibt es auch bei Valo die ein oder andere Macke. Aber die entwickeln sich erst im Laufe der Zeit. Vorerst ist die kleine Familie, zu der auch Vater Kari gehört, glücklich und vollständig.
Die drei Valos wohnen im Stadtteil Vallila, der zu dieser Zeit noch eindeutig in der Hand der Arbeiter ist. Die vielen kleinen Holzhäuschen haben für Besucher etwas Romantisches, für die Bewohner sind die Hütten, die mehrheitlich zwischen 1920 und 1930 erbaut wurden, eher ein Ärgernis. Die sanitären Anlagen und die Bausubstanz sind dem Alter entsprechend überholt. Umfangreiche Renovierungsarbeiten wird es erst in den 1980er-Jahren geben, als betuchte Künstler diesen Teil von Helsinkis Innenstadt für sich entdecken, Mitte der Siebziger steht sogar zur Debatte, das so genannte «Puu-Vallila» («Holz-Vallila») abzureißen und die rund siebentausend Bewohner in andere Viertel umzusiedeln. Der bekannte finnische Regisseur Risto Jarva dreht ein Jahr vor Villes Geburt in dem Viertel einen viel beachteten Film mit dem Titel Der Mann, der nicht nein sagen konnte.
Doch Ville dürfte kaum Erinnerungen an diesen Teil der Stadt haben, denn seine Eltern kratzen ein wenig Geld zusammen und ziehen bereits wenige Monate nach der Geburt mitsamt Nachwuchs sechs Kilometer nördlich nach Oulunkylä, einer der vielen Vororte Helsinkis. In den modernen Hochhäusern der Siedlung, wo die Valos eine Drei-Zimmer-Wohnung angemietet haben, herrscht die Mittelschicht. Und dazu gehört Familie Valo ebenfalls. Wenn auch eher zum unteren Drittel. Vater Kari arbeitet als Taxifahrer, während sich Mutter Anita, deren Familie aus Ungarn stammt, um den Nachwuchs kümmert. Mama Valo ist gläubige Christin, erzieht ihren Sohn aber heidnisch, mit interessanten Auswirkungen.
Später erzählt Ville in diversen Interviews, dass seine musikalischen Einflüsse bis ins Säuglingsalter zurückreichen. Denn immer wenn Klein-Valo schreit, spielt der Vater Songs der finnischen Folk- und Rocksänger Tapio Rautavaara und Rauli «Badding» Somerjoki. Seine Mutter hält ihn derweil im Arm und tanzt. Niedliche Anekdote, aber deutlich einflussreicher dürfte Jallu – ein enger Freund der Familie – gewesen sein, der bei einer Feier eine Interpretation von Elvis Presleys Are You Lonesome Tonight zum Besten gibt und den kleinen Ville damit mächtig beeindruckt. Der Legende nach soll das Kind zu den Bongotrommeln gekrabbelt sein und begeistert den Takt vorgegeben haben. Wer sich das Lied in Erinnerung ruft, wird mit etwas Fantasie zudem durchaus Parallelen zu Valos späterem Gesangsstil entdecken.
Mit vier Jahren lotst der ältere Sohn von Jallu Ville in sein Zimmer und spielt ihm zum ersten Mal Bands wie Iron Maiden, Kiss oder Black Sabbath vor. Valo hat nach eigenen Angaben mächtig Angst vor Maidens Maskottchen Eddie, kann sich aber für den Sound begeistern, der ihm da entgegenschlägt. Ein wichtiger Grundstein für sein späteres Leben ist gelegt. Doch der kleine Knirps denkt keinesfalls in Genres, auch Sachen von Neil Young, Johnny Cash oder Roy Orbison treffen seinen Geschmack. Anita und Kari bemerken die Begeisterung für die Musik und unterstützen den Spross nach Kräften.
Doch es gibt noch eine zweite Leidenschaft in den ganz frühen Jahren des Ville Valo: sein Mischlingshund Sammy (andere Quellen schreiben: Sami). Die Familie ist sehr tierlieb und hält über die Jahre eine ganze Menge verschiedener Haustiere, aber Sammy ist Villes «erster Bruder», wie er zugibt. In einem Fernsehinterview erklärt er: «Ich habe heute noch Angst vor Pferden. Die machen mich irgendwie traurig. Meine Mutter ist über zwanzig Jahre lang geritten, das wäre nichts für mich. Doch als ich ganz klein war und noch nicht mal laufen konnte, fanden meinen Eltern einen Hund, den sie Sammy nannten. Er sollte mir wohl dabei helfen, mich auf den Beinen zu halten. Er starb, als ich sechs Jahre alt war, und von diesem Trauma bekam ich Asthma. Seit diesem Erlebnis habe ich echte Probleme mit Tieren jeglicher Art.» Was den kleinen Ville aber nicht davon abhält, später noch eine Schildkröte zu halten. «Sie hieß William», erinnert er sich. «Als sie starb, erklärte mir mein Arzt, dass ich auch keine Schlangen oder andere Reptilien haben dürfe, da ich auf Stoffe ihrer Ausscheidungen ebenfalls allergisch reagiere.»
Das Kind entwickelt in den kommenden Jahren eine Reihe von weiteren Allergien – unter anderem gegen Pferdehaare, vielleicht daher die Angst vor diesen Tieren – und schließlich sogar schweres Asthma. Viele Jahre später wird Ville auf einer Pressekonferenz an der Universität von Helsinki sagen, dass der Ursprung für die Melancholie in der Musik und den Texten von HIM auf den Tod seines Hundes zurückzuführen ist. Das Gefühl des Verlustes, die Ohnmacht, nichts gegen den Tod unternehmen zu können. Ein Kind, das seinen besten Freund verloren hat. Da wird der ein oder andere weibliche Fan wahrscheinlich schwer schlucken müssen. Bleibt nur die Hoffnung, dass Valo die folgende Aussage nicht ganz so ernst gemeint hat. In einem anderen Interview berichtete der Finne nämlich, dass es nur ein Hund war und die ganze Geschichte frei erfunden sei. Wie immer bei Ville dürfte die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen.
Nachdem der erste «Bruder» das Zeitliche gesegnet hat, kommt ein zweiter, menschlicher ins Haus. Villes Bruder Jesse wird 1984 geboren, und es soll nicht lange dauern, bis er seinem älteren Bruder zumindest körperlich überlegen ist. Denn Jesse wird professioneller Thai-Boxer, kämpft bereits als Jugendlicher erfolgreich bei Welt- und Europameisterschaften, die Ville gerne besucht. Von seinem älteren Bruder hat Jesse aber die Begeisterung für Musik übernommen. Er war und ist Bassist bei Bands wie Iconcrash, die es sogar auf ein offiziell veröffentlichtes Album bringen, Brightboy und Vanity Beach. Außerdem wird Jesse in den ersten Jahren nach Villes Durchbruch auf seine Wohnung in Helsinki aufpassen, wenn der auf Tour ist, wie es ein guter Bruder nun mal zu tun pflegt.
Doch zurück ins Jahr 1984, wo Ville mittlerweile die Schule besucht. Eine Institution, die ihm von Anfang an seltsam vorkommt. Aber vielleicht ist es auch er, der nicht in das strenge Schema passt. Heute würden Ärzte wahrscheinlich ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) oder etwas Ähnliches diagnostizieren. Anno 1984 ist Ville schlichtweg laut, wild und hyperaktiv. Im Alter von sieben Jahren wird er untersucht, es können aber keine Anomalien festgestellt werden. Sein Verhalten bringt ihm auf dem Schulhof Ärger ein, weil er selbst vielen Gleichaltrigen zu anstrengend ist. Und auch das Fach Mathematik wird nicht zu seinem Freund. Früh verliert er den Anschluss und hat Probleme, dem Stoff zu folgen.
Alles andere als gute Voraussetzungen, doch ein Lehrer hat schließlich die rettende Idee. Da Valo auch fortwährend den Unterricht stört, erlaubt er ihm, während der Stunde zu zeichnen. Das lenkt ab und leitet die Kraft in kreative Bahnen. Eine Leidenschaft, die Valo von seinem Vater geerbt hat. Fortan klebt der blasse Finne also auf seinem Platz und malt, während seine Schulkameraden etwas lernen. Doch dieser Zustand dauert nicht ewig. Ville reißt sich schon bald zusammen, lernt fleißig und besiegt sogar den alten Feind Mathematik. Schuld daran ist ein Lehrer namens Erkki Falck, der ihn so lange an die Tafel zitiert und vor der Klasse bloßstellt, bis es dem jungen Finnen zu bunt wird und er sich mit dem Stoff beschäftigt. Nach ersten Erfolgen begeistert sich Valo regelrecht für Zahlenspielereien, zählt das Fach Mathematik schließlich neben Finnisch, Englisch und natürlich Kunst sogar zu seinen Lieblingsfächern. Chemie und Erdkunde hingegen stehen in der Gunst ganz unten.
Über seine Schulzeit erzählt er bei MTV folgende Anekdote: «In der Penne war ich ein ziemlicher Draufgänger. Ich hatte ein paar Mal zu kämpfen, aber ich war eigentlich ganz gut. Ich liebte Mathe und Kunst, Geschichte und Biologie. Als ich in der neunten Klasse war, hatten wir eine sehr witzige Schwedisch-Lehrerin. Später stellte sich heraus, dass sie in den siebziger Jahren ein Pin-up-Girl in Pornomagazinen gewesen war. Einige meiner Klassenkameraden hatten das herausgefunden und die Schule mit Bildern plakatiert. Sie war stinksauer.»
Doch vor allem das Zeichnen hinterlässt Spuren. Einige Jahren später wird Valo das «Heartagram» entwerfen, das für seine Band HIM steht wie Eddie für Iron Maiden. Und sein Interesse für die bildende Kunst wird auch die Cover-Gestaltung der HIM-Alben massiv beeinflussen.
Doch von solchen Überlegungen darf der angehende Musiker mit acht Jahren maximal träumen. Zu Hause ist er in erster Linie ein ganz normaler Junge, der sich von der Kampfsportbegeisterung seines Vaters anstecken lässt. Boxen ist, im Gegensatz zu seinem Bruder, nicht Villes Ding, dafür ist er dann doch zu zurückhaltend. Also entscheidet er sich für Judo. Rund neun Jahre bleibt er diesem Sport treu, und das ist mit wachsender Begeisterung. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, dass er es immerhin bis zum grünen Gürtel (siebte Stufe) bringt.
In seiner Freizeit schaut Ville zudem...