Kapitel 2 Weibliche Selbstunterschätzung
Es gibt Aspirin für Krämpfe und Tabletten für PMS, aber einem ganz besonders lästigen Frauenleiden ist mit Medikamenten nicht beizukommen: Selbstunterschätzung. Oft hapert es sogar bei der Diagnose. Wir halten es für liebenswürdige Bescheidenheit, für Entgegenkommen. In Wirklichkeit ist es Verblendung.
Putzt Eure angeschlagenen Spiegel, gute Frauen. Wir sind größer, schöner, klüger, beeindruckender, als wir glauben. Wer ist die Schönste im ganzen Land? (Wer hat die Mehrheit der Wählerstimmen? Wer bekommt tolle Schulabschlüsse und besetzt mehr als die Hälfte aller Studienplätze? Wer hat auf diesem Planeten mitzureden?) Wir üben, bitte alle gemeinsam: Ich, ich, ich.
Sie haben eine Freundin. Die ist schlank, hält sich aber für pummelig. Wenn sie an einem Spiegel vorbeigeht, erschaudert sie. Daß sie in Größe 36 hineinpaßt, überzeugt sie nicht. »Ich hab schon wieder zugenommen«, jammert sie, und Sie antworten liebevoll, »du spinnst«, weil diese Diskussion Ihnen schon auf die Nerven geht.
Sie sind mit dem Leiter des Elternvereins befreundet. Sie bewundern und beneiden ihn um seine Selbstsicherheit. Zu Beginn des Abends macht er locker die Runden und begrüßt alle Leute, dann setzt er sich selbstbewußt nach vorne und leitet die Diskussion. Es macht ihm gar nichts aus, vor so vielen Leuten zu sprechen, während Sie sich schon ein bißchen zittrig fühlen, wenn Sie eine kontroverse Frage stellen. »Du bist so selbstsicher, ich beneide dich«, sagen Sie. Er vertraut Ihnen an, daß er ganz im Gegenteil sehr schüchtern ist, sich jedesmal überwinden muß und das Gefühl hat, es ganz schlecht zu machen und bald abgewählt zu werden. Hierfür gibt es einen zwar etwas beschwerlichen, aber dennoch sehr nützlichen soziologischen Fachausdruck: kognitive Dissonanz. Wie unser Beispiel zeigt, können durchaus auch Männer darunter leiden, aber Frauen trifft es ganz besonders.
Vergessen Sie PMS, das wahre und bedenklichere Frauensymptom unserer Zeit ist die kognitive Dissonanz. Mit ein bißchen kreativer Freiheit wollen wir dieses Phänomen hier definieren als die Neigung, sich selber zu unterschätzen bei gleichzeitiger Überschätzung anderer, Situationen für sich selber ungünstig auszulegen und schlechte Ergebnisse vorwegzunehmen. Wobei die vielen Dünnen, die sich für dick, oder nicht minder die attraktiven Rundlichen, die sich für häßlich halten, uns noch weit weniger Kopfweh bereiten als die Starken, die sich als schwach sehen.
Zwei recht unterschiedliche, und doch miteinander zusammenhängende Eindrücke ließen in uns die Erkenntnis heranreifen, daß die kognitive Dissonanz in ihrer weiblichen Variante den dicksten Fallstrick im Leben von Frauen ausmacht. Die Forschungen für dieses vorliegende Buch brachten uns auf die Fährte. Zwar dreht sich das Buch um Frauen und deren Emotionshaushalt, aber wir interviewten dafür auch sehr viele Männer. Wir wollten erfahren, wie das typische Konfliktverhalten, der Stil, das Auftreten von Frauen auf ihren männlichen Gegenpart wirken, was Männer beobachten und ob sich die Einschätzungen von Männern und Frauen decken. Dazu erfuhren wir viel Interessantes, aber nebenbei fiel uns auch etwas anderes auf, ein häufiger und sehr deutlicher Widerspruch. Zwischen der Wahrnehmung des Mannes und der Selbsteinschätzung der Frau bestand oft ein großer, ein sehr großer Widerspruch. Und zwar sah das so aus, daß der Mann eine wesentlich höhere Meinung von der Frau hatte, als sie von sich selber. Sie beeindruckte, ohne das selber zu bemerken. Und zwar nicht durch ihr Aussehen – es war den Frauen meist bewußt, daß und ob sie einem Mann gefielen –, sondern durch ihr Gewicht als ernst zu nehmende Person.
Dieser Widerspruch kann in jeder Phase einer Beziehung auftreten. Besonders häufig zu Beginn. Da findet so mancher Mann diese neue Auserkorene so eindrucksvoll, so autark, daß er sich ein bißchen eingeschüchtert fühlt und sehr unsicher ist, ob so eine tolle Person sich überhaupt für ihn interessieren könne. Aber auch in späteren Phasen einer Beziehung kommt es zu solchen Divergenzen der Wahrnehmung. Es gibt Männer, die eine Frau zunächst nur oberflächlich als schön und lustig wahrnehmen, nach längerer Bekanntschaft aber ihre intellektuelle Tiefe bemerken und sich fragen, ob sie gut genug sind für diese gescheite Person. Es gibt Männer, die konventionell über Frauen denken und sie daher unterschätzen, oder die sich vom zurückhaltenden Auftreten ihrer Partnerin dazu verleiten lassen, sie zu unterschätzen, aber nach mehrjährigem Zusammenleben und etlichen gemeinsam überstandenen Krisen die wahre innere Kraft ihrer Partnerin erkennen und sich bewußt werden, wie sehr sie sich eigentlich mittlerweile auf viele ihrer Qualitäten und Kompetenzen verlassen.
Und in all diesen Fällen haben die jeweiligen Frauen ein ganz anderes, viel schlechteres Bild von sich selber und ihrem Status in der Beziehung, als es der männlichen Einschätzung und den objektiven Tatsachen entspricht. Schuld daran ist die kognitive Dissonanz oder, wenn Sie wollen, das massive Imageproblem der Frauen.
Daß Männer sie stark, autonom, sogar einschüchternd finden, und zwar nicht bloß im sexuellen Sinn, sondern als Personen, ist für die meisten Frauen ein fremder Gedanke. Das ist ein folgenschwerer Irrtum. Erstens untergraben sie oft den guten Eindruck, den andere von ihnen haben, indem sie ihnen ihren eigenen viel schlechteren Eindruck aufdrängen. Zweitens versetzen sie sich in eine schwache Verhandlungsposition. Sie glauben, in einer Auseinandersetzung kein Kapital und wenig Gewicht zu haben. Sie glauben, keine Bedingungen stellen und keine sachlichen Kompromisse erreichen zu können.
Aus einem fernen Winkel der Erde und einem ganz anderen sozialen Zusammenhang erreichte uns die zweite illuminierende Einsicht über weibliche Selbstunterschätzung. In Afghanistan hatte eine primitive Gruppe von ungebildeten Rohlingen – die sogenannte Taliban – den vorübergehenden Vorteil im endlosen Bürgerkrieg. Sofort verhängten sie eine Serie von absurden Einschränkungen gegen Frauen. Ein archaisches Kleidungsstück, das fast keine afghanische Frau der letzten zwei Generationen mehr getragen hatte, wurde von ihnen wieder ausgegraben und für obligat erklärt. Sogar im internationalen Schleiervergleich handelt es sich dabei um ein besonders behinderndes Kleidungsstück. In diesem Umhang ist die Frau von Kopf bis Fuß verhüllt, kann durch ein winziges Gitter in Augenhöhe nur schlecht die Außenwelt sehen und hat keine Hand frei. Gleichzeitig wurden alle Mädchenschulen geschlossen und verboten. Krankenhäuser durften keine Frauen behandeln, nur ein paar kleine schwer erreichbare, schlecht ausgestattete Frauenkliniken, zum Teil ohne Strom und Wasser, standen ihnen im Notfall zur Verfügung. Selbst verschleiert sollten Frauen nur in männlicher Begleitung auf die Straße gehen. Sie durften keine Schuhe tragen, deren Absätze beim Gehen ein Geräusch machten, und keine weiße Socken – beides könnte Männer auf die Existenz einer Frau hinweisen und so auf lüsterne Gedanken bringen. Bei allen Häusern, in denen Frauen lebten, mußte die ebenerdigen Fenster schwarz überstrichen werden, damit kein vorübergehender Mann irrtümlich einen Blick auf eine Frau erhaschen könne. Eine EU-Kommission, die in Begleitung von CNN die medizinische Unterversorgung von Frauen recherchieren wollte, wurde kurzerhand von der Taliban unter Waffenandrohung festgenommen. Internationale Ärzte, die Frauen helfen wollten, wurden bedroht, es gab sogar Attentate. Die Situation war so extrem, daß internationale Hilfsorganisationen es schließlich untragbar fanden, mit diesen Irren zusammenzuarbeiten.
Aber in den USA warteten Ölfirmen schon lange auf eine Beruhigung der politischen Lage in Afghanistan, damit sie endlich eine bestimmte Pipeline errichten könnten. In der drakonischen Terrorherrschaft der Taliban sahen sie eine Chance für ein zwar sozial katastrophales, aber befriedetes Terrain. Abgesandte der Taliban wurden von den Firmen in die USA eingeladen, fürstlich bewirtet und umschmeichelt und über die vielen Vorteile informiert, die eine Pipeline auch für sie bedeuten würde.
Für internationale Frauengruppen bedeutete dieser Plan Alarmstufe Drei. Erstens war die Symbolik katastrophal: der hochindustrielle Westen verband sich, aus rein kommerziellem Interesse, mit der rückständigsten frauenverachtendsten Kraft auf dem Planeten. Zweitens bedeutete dieses Geschäft eine massive Stärkung der Taliban. Wenn die Pipeline stünde, hätte der Westen ein immenses Interesse an der politischen Stabilität Afghanistans. Egal unter welcher Regierung, solange es nur keine weiteren Kämpfe gab. Progressive demokratische Kräfte, die sich mit der Taliban anlegten, wären dann bloß noch ein geschäftshindernder Störfaktor.
Das State Department und die Ölfirmen sahen sich mit massiven Protesten konfrontiert. Es gab Demonstrationen, Beschwerdebriefe, Interventionen von Parlamentarierinnen, Expertisen von Entwicklungshilfeorganisationen, Berichte in den Medien. Mit jeder neuen Meldung über die absurden Edikte der Taliban schien es lächerlicher, daß eine moderne Supermacht sich damit verbünden sollte. Ansätze, die Taliban zu unterstützen, entwickelten sich rasch zu einem PR-Debakel. Die Ölfirmen, als kommerzielle Unternehmen sehr angreifbar durch den Druck der öffentlichen Meinung, zogen sich als erste zurück. Im State Department wurden die Abteilungen beauftragt, zwar weiterhin eine baldige Befriedung des...