II
Es gibt vier Arten unverfügbarer Zwänge, auf die ich näher eingehen möchte. Alle werden bereits sehr früh in unserem Leben errichtet. Sie drängen uns, ja zwingen uns in Assoziationen einer bestimmten Art hinein. Und sie beschränken auch unser Recht auf Austritt, obwohl sie es in einer liberalen Gesellschaft nicht ganz abschaffen können. Die Soziologen haben über die ersten beiden geschrieben, die Philosophen der politischen Theorie und Moraltheorie hatten etwas zu den letzten zwei zu sagen. Ich denke, es wird nützlich sein, den Zwang jeder einzelnen Art für sich zu betrachten.
1. Der erste Zwang ist familialer und sozialer Natur. Wir werden als Mitglieder einer Verwandtschaftsgruppe, einer Nation oder eines Landes und einer sozialen Klasse geboren; und wir werden mit einer Geschlechtszugehörigkeit geboren. Diese vier Elemente des Zwangs haben zusammen einen weitreichenden Einfluß darauf, mit welchen Menschen wir uns für den Rest unseres Lebens zusammenschließen (selbst dann, wenn wir unsere Verwandten nicht ausstehen können, Vaterlandsliebe für Gefühlsduselei halten und niemals ein Bewußtsein der Klassen- oder Geschlechtszugehörigkeit erlangen). Die meisten von uns werden ebenfalls recht früh durch Taufe oder Beschneidung im Säuglingsalter beziehungsweise durch Konfirmation oder Bar-Mizwa im Jugendalter in die eine oder andere Art religiöser Mitgliedschaft eingeführt. Das sind konkrete, unfreiwillige Beitritte, aus denen, wie dem Kind üblicherweise beigebracht wird, Rechte und Pflichten folgen. Aber die elterliche Unterweisung wirkt auch indirekter, vergleichbar der außerhäuslichen religiösen und politischen Sozialisation und vergleichbar der alltäglichen Erfahrung mit der Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit – sie schaffen lebensgeschichtliche Voraussetzungen, die ganz bestimmte Assoziierungen im Erwachsenenalter unterstützen, andere jedoch nicht. In den letzten Jahren ist viel über das Versagen der Familie geschrieben worden, in Wahrheit sind aber die meisten Eltern bemerkenswert erfolgreich darin, Kinder hervorzubringen, die ihnen doch sehr gleichen. Manchmal ist unglücklicherweise gerade das ein Zeichen ihres Versagens – wenn beispielsweise Eltern der Unterschicht nicht imstande sind, ihren Kindern den Weg in die anständige Gesellschaft oder Mittelschicht zu ebnen. Die meisten Eltern wollen jedoch keinen Nachwuchs, der allzu weit vom Stamm fällt, sondern Nachwuchs, den sie noch als ihren eigenen betrachten können. In den meisten Fällen gelingt ihnen das auch. Wobei sie nicht ganz auf sich gestellt sind, weil sie von ihrer Umgebung unterstützt werden.
Junge Menschen können ausbrechen, sie können sich aus den Familienbanden und sozialen Verhältnissen befreien, können außerhalb der Konventionen einer geschlechtlich normierten Gesellschaft leben. Dies allerdings nur zu einem Preis, den die meisten von ihnen nicht zu zahlen bereit sind. Deshalb sind die Bindungen der Eltern die bei weitem besten Indikatoren für ihre eigenen, späteren Bindungen, wie die Politikwissenschaftler hinsichtlich der Parteigebundenheit und des Wahlverhaltens schon vor längerer Zeit feststellten. Obwohl die politische Kultur Amerikas der »Unabhängigkeit« einen hohen Wert beimißt, sind Kinder meist bereit, dem Vorbild ihrer Eltern zu folgen. Denn so wie die Wähler der Demokraten oder der Republikaner aller Wahrscheinlichkeit nach Kinder von Eltern sind, die demokratisch oder republikanisch wählen, haben unabhängige Wähler mit hoher Wahrscheinlichkeit Eltern, die unabhängig wählen.[3] Bei der Religionswahl ist zu erwarten, daß sie noch verläßlicher durch die Zugehörigkeit der Eltern zu einer Religionsgemeinschaft vorgegeben ist. Ja, im Falle der Religion ist »Wahl« vermutlich nicht das angebrachte Wort. Die frühen Rituale zur Festigung religiöser Bindung sind bemerkenswert wirksam. Für die Mehrheit der Menschen läßt sich die Religionszugehörigkeit deshalb am besten als ein Erbe beschreiben. Protestantische Praktiken wie die Erwachsenentaufe und die evangelikale Wiedergeburt dienen offenbar dem Zweck, dieses Muster zu durchbrechen, was ihnen auch in einem gewissen Umfang gelingt. Für die Praxis freiwilliger Assoziation sind diese Formen historisch gesehen hilfreich gewesen.[4] Es wäre jedoch interessant zu erfahren, welcher Prozentsatz der wiedergeborenen Christen sowohl spirituell wie physisch Nachkommen ihrer Eltern sind: geboren, um wiedergeboren zu werden.
Die Menschen schließen sich solchen Assoziationen an, die ihre Identität bestätigen, statt sie in Frage zu stellen. Und ihre Identitäten sind fast immer eine Gabe ihrer Eltern und der Freunde ihrer Eltern. Die Individuen können sich auch hiervon losmachen, können sich dem schwierigen Prozeß der Selbstformung unterziehen wie der biblische Abraham, der einer nachbiblischen Legende zufolge die Götzenbilder seines Vaters zertrümmerte. Oder wie John Bunyans Pilger Christian in Pilgrim’sProgress, dem klassischen Text des englischen Protestantismus, der Weib und Kinder verläßt, sich die Ohren zuhält, um ihr Geschrei nicht zu hören, und allein das Ziel seiner Erlösung verfolgt. Sozialer Wandel ist ohne solche Menschen unvorstellbar, aber wenn alle Menschen so wären, wäre die Gesellschaft selbst nicht denkbar. Auch Abraham ermutigte seinen geliebten Sohn Isaak nicht zu einem ähnlichen Rebellentum. Anders als sein Vater war Isaak von Geburt an ein Mitglied in Jehovas Bund – vielleicht weniger bewundernswert, dafür aber unendlich viel zuverlässiger. Bunyan schließlich wurde von seinen Lesern gezwungen, Christians Frau und Kinder mitzunehmen auf dem Weg, der bis zu dieser Fortsetzung von Pilgrim’s Progress eine stereotype Pilgerreise gewesen war, um sich in die Gemeinschaft der Heiligen zu begeben.[5] Der einzige Bruch mit der elterlichen Welt, den die meisten Eltern bereitwillig unterstützen, ist – zumindest in modernen Gesellschaften – die soziale Mobilität, oder anders gesagt der Aufstieg in der etablierten Hierarchie. Trotzdem sind die meisten Kinder nur mäßig mobil (aufwärts oder abwärts). Die Klassenposition hält sich ebenso wie die politische und religiöse Gebundenheit vielfach über Generationen hinweg durch. Die Ursache dafür ist zum Teil in der Fortdauer äußerer Hindernisse für die soziale Mobilität zu sehen, die wir mit guten Gründen zugunsten der »Chancengleichheit« abgeschafft sehen möchten. Die Strukturen der Unterordnung neigen zwar dazu, sich selbst zu reproduzieren, können aber dennoch in Frage gestellt und verändert werden. Der sozialen Mobilität stehen indes auch innere Hemmnisse entgegen, die mit dem Unwillen der Kinder zu tun haben, die Solidarität mit ihrer Klasse und ihrem sozialen Umfeld aufzugeben. Daher erklärt sich ihr Hang, ihr frei organisiertes Leben in einer Gesellschaft und Kultur zu vollziehen, die schon je die eigene ist, ein Hang, der keinesfalls allgemeingültig, sicherlich aber deutlich ausgeprägt und umfassend ist.
Assoziationen, die vor einem derartigen, gegebenen Hintergrund gebildet oder eingegangen werden, können noch als freiwillige beschrieben werden. Wir müssen dabei jedoch zugeben, wie partikular und unvollständig die Beschreibung im Grunde genommen ist. Sie wird uns erst recht unvollständig erscheinen, wenn wir den nächsten Punkt auf meiner Liste bedacht haben.
2. Der zweite Zwang besteht in der kulturellen Determiniertheit der verfügbaren Assoziationsformen. Die Mitglieder der Assoziation können einander aussuchen, sie können aber selten viel Einfluß nehmen, wenn es um die Struktur und den Stil ihrer Assoziation geht. Die Ehe ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Heirat mag ein echtes Zusammenfinden zweier Geister sein, aber die Bedeutung der Heirat wird nicht von den zwei Gleichgesinnten bestimmt. Die Ehe ist eine kulturelle Praxis. Ihre Bedeutung und die Pflichten, die sie mit sich bringt, werden von den Partnern in dem Moment akzeptiert, in dem sie einander als Ehemann und Ehefrau annehmen. Ihre vorehelichen Übereinkünfte und Verträge berühren lediglich Einzelheiten des Arrangements. Ebenso können Männer und Frauen, die einen Club oder Verband, eine Gewerkschaft oder Partei gründen, frei Versammlungen abhalten und ihre eigenen Richtlinien ausarbeiten. Ihre Assoziation wird gleichwohl derjenigen ihrer Mitbürger am anderen Straßenende oder im nächsten Stadtviertel außerordentlich ähnlich sein, und Vereinsstatuten werden gewöhnlich nach einem standardisierten Muster verfaßt.[6]
In Zeiten kultureller Krisen und kulturellen Umbruchs schaffen es schöpferische Individuen offenkundig doch, neue Assoziationsformen zu entwickeln; was oft erst nach vielen anfänglichen Irrtümern und fehlgeschlagenen Versuchen gelingt. Die strukturellen Ungleichheiten der alten Formen können zudem von innen heraus kritisiert und verändert werden, was auch häufig geschieht. Doch ihre Überwindung braucht Zeit. Und selbst am Ende dieser langen Zeit ist eine vollständige Verwirklichung der kritischen Vision, die hinter dieser Bemühung steht, eher unwahrscheinlich. Außerdem kann der Wandel ja auch in die andere Richtung gehen. Der Regelfall ist indes die Kontinuität – Nachahmung und Wiederholung –, die von periodisch auftretenden Reformversuchen unterbrochen wird, welche die unterschiedlichsten Assoziationen zu ihren obersten Prinzipien zurückführen wollen. Die Prinzipien selbst sind Gegenstand der Loyalität, bevor sie überhaupt Gegenstand der Wahl sind.[7]
Ebenso verhält es sich mit der Befähigung zur Assoziation. Sie wird bewundert und nachgeahmt, aber sie ergibt sich nicht...