Einleitung
Was sind und wozu dienen Zukunftsvorstellungen?
Zukunftsvorstellungen sind, wie jeder aus seiner eigenen Erfahrung weiß, äußerst luftige Gebilde. [1] Sie sind unbeständig, lösen sich oft ebenso plötzlich wieder auf, wie sie entstanden sind. Oft entwerfen wir sie überhaupt nur, um auf eine mögliche Gefahr hinzuweisen, eine falsche Entscheidung zu verhindern, und wollen schon morgen, wenn die Gefahr vorüber ist, nichts mehr von ihnen wissen. Oft legen wir uns beim Blick in die Zukunft auch gar nicht auf eine bestimmte Vorstellung fest, sondern halten bald die eine, bald die andere Entwicklung für möglich. Schließlich bilden wir uns zu unendlich vielen Vorgängen auch überhaupt keine Zukunftsvorstellungen oder erst von einem bestimmten Zeitpunkt an – und können uns dann manchmal später kaum noch erklären, wie uns das frühere Vorstellungs»loch« damals gar nicht auffallen, geschweige denn stören konnte. Zukunftsvorstellungen sind also alles andere als stabile, feststehende Größen.
Zukunftsvorstellungen sind ferner Zwitter zwischen Realität und Fiktion. Sie können weder als bloße Erfindungen noch im einfachen Sinne als historische Realitäten betrachtet werden. Einerseits sind sie zwar beides zugleich, nämlich mentale Gegebenheiten, die unser Denken und Handeln auch dann beeinflussen, wenn sie nicht eintreten. Und als solche sind sie natürlich historiographisch ebenso ernst zu nehmen wie andere historische Fakten auch. Andererseits unterscheiden sie sich aber auch von beiden: von bloßen Erfindungen, wie sie in Romanen vorkommen, schon allein dadurch, dass sich der Gegenstand ihrer Imagination im Rückblick durchaus als reales Ereignis bzw. Zustand herausstellen kann – dann nämlich, wenn sich die Erwartung oder Voraussage als zutreffend erweist. Bertrand de Jouvenel beschreibt sie deshalb als »futuribles«, als mögliche Zukunftsereignisse. [2] Von vergangenen Ereignissen und Zuständen andererseits trennt sie nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch die gesamte logische Konzeption der Geschichte: In der Vergangenheit gilt nämlich die eindeutige Alternative, dass sich etwas entweder ereignet hat oder nicht. Die vergangene Welt lässt sich in faktische und fiktive Ereignisse unterteilen. Die zukünftige Welt so zu ordnen wäre dagegen sinnlos, denn in ihr können wir eben gerade nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ein Ereignis dem Bereich des Faktischen oder des Fiktiven zuzurechnen ist. [3]
Und dies ist kein nebensächliches, sondern ein wesentliches Merkmal solcher Ereignisse. Denn wüssten wir mit Bestimmtheit, dass sich eine Zukunftsvorstellung tatsächlich auch so realisieren wird wie vorausgedacht, so stellte sich die gegenwärtige Welt von Grund auf anders dar. Wer würde z. B. noch eine Reise antreten, wenn er schon im Vorhinein wüsste, dass er auf ihr verunglücken wird; wer noch an der Börse spekulieren, wenn Gewinn und Verlust schon von vornherein feststünden? Und doch gehen Historiker meist gerade so mit vergangenen Zukunftsvorstellungen um, als ließen diese sich dadurch hinreichend charakterisieren, dass wir sie im Nachhinein als »realistisch« oder »illusionär« bezeichnen: Bismarck erscheint ihnen als weiser Mann, weil er, anders als seine Nachfolger, die Gefahren eines Zweifrontenkriegs zwischen Russland und Frankreich richtig voraussah; Hitler und Napoleon sind ihnen dagegen unkluge Strategen, weil sie die Möglichkeit einer militärischen Eroberung Russlands falsch einschätzten, usw.
In Wirklichkeit trägt diese Art der nachträglichen Abgleichung vergangener Zukunftsvorstellungen mit späteren Ereignissen und Entwicklungen deren tatsächlicher historischer Bedeutung nur ganz unzureichend Rechnung. Zwar gehört auch sie zum kritischen Umgang mit vergangenen Zukunftsvorstellungen. Doch ihre aktuelle Bedeutung für die Zeitgenossen selbst geht weit darüber hinaus:
Sie liegt zum einen auf dem Gebiet der historischen Horizontbildung: Indem wir unsere Gegenwart geschichtlich begreifen, entwerfen wir Zukunftshorizonte, die diese Gegenwart in eine bestimmte historische Perspektive rücken. Wie dies geschieht, zeigt die zeitgenössische Erfahrung: Man denke nur an den Dauerkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern, an die divergierenden (optimistischen wie pessimistischen) Zukunftsszenarien, die seit Jahrzehnten aufgebaut werden, um dessen möglichen Ausgang abzuschätzen, und vergleiche ihn etwa – einigen von uns noch erinnerlich – mit den Zukunftsszenarien, die 1989/90 anlässlich der deutschen Einheit aus dem Boden schossen. Dann wird man sehen, wie aus realen Möglichkeiten Illusionen und aus Hoffnungen realistische Erwartungen werden.
An solchen Beispielen lässt sich nachvollziehen, wie sich der Realitätscharakter von Zukunftsvorstellungen mit dem zeitlichen Abstand allmählich verschiebt, den wir zu dem Ereignis haben, das sie auslöste: Je ferner uns das historische Ereignis rückt, desto mehr schwindet das Bewusstsein für die Offenheit der damaligen Situation, desto stärker sehen sich deshalb auch die damaligen Zukunftsvorstellungen in unserem Bewusstsein von der Bezeichnung als ›realistisch‹ oder ›illusionär‹ eingefärbt. Es gehört ein hohes Abstraktionsvermögen gegenüber dem gewandelten historischen Kontext dazu, um auch in späterer Zeit noch an der historischen Offenheit der Zukunft in einem vergangenen Zeitpunkt festzuhalten.
Die Bedeutung vergangener Zukunftsvorstellungen liegt zum andern auf dem Gebiet der Zukunftsgestaltung: Mehr denn je zuvor orientieren sich Politiker, Parteien und Wähler heute bei politischen Entscheidungen an Vorstellungen über den möglichen Verlauf der künftigen Entwicklung. Solche Vorstellungen wurden und werden vielfach in Expertengutachten, Parteiprogrammen, Regierungserklärungen, Enqueten und Denkschriften niedergelegt, sie nehmen breiten Raum in Wahlreden und tagespolitischen Schriften ein, bestimmen aber noch weit mehr unsichtbar im Hintergrund das politische Urteil der Menschen. Häufig handelt es sich dabei gar nicht nur um positive Ziele, sondern auch um die Erwartung negativ bewerteter Ereignisse oder Entwicklungen, die es abzuwehren oder zu verhindern gilt. Natürlich erschließt sich der historische Sinn vergangener Ereignisse nicht allein auf diesem Wege. Immer gehört auch die Kenntnis der mittlerweile eingetretenen Folgen dazu. Doch ohne die Kenntnis der zeitgenössischen Zukunftserwartungen ließe sich das Zustandekommen politischer Ereignisse und Entwicklungen ebenso wenig erklären, wie wenn wir uns dabei ausschließlich auf sie stützen.
So lässt sich zusammenfassend feststellen: Zukunftsvorstellungen strukturieren den Erwartungshorizont einer Gesellschaft. Sie engen die unendliche Offenheit des prinzipiell Möglichen auf wenige (manchmal nur zwei) politisch relevante Möglichkeiten ein. Das bedeutet nicht, dass eine dieser Möglichkeiten dann auch tatsächlich eintritt: Oft geschieht vielmehr etwas Drittes, das womöglich von niemandem erwartet wurde. Aber die Horizontbildung hilft den beteiligten Akteuren und ihren Beobachtern bei der Lagebeurteilung und der Entscheidungsfindung. Kollektive politische Entscheidungen, vor allem solche in demokratischen Gesellschaften, bedürfen einer solchen Verengung des historischen Erwartungshorizonts, um überhaupt getroffen werden zu können.
Zukunftsvorstellungen in der Vergangenheit
Man könnte meinen, wie wir selbst, so hätten auch alle vergangenen Generationen eine Zukunft vor sich gehabt, auf die sie hinlebten: Mögen sie sich bei ihren konkreten Erwartungen auch häufig getäuscht haben, so erwarteten sie doch immer irgendetwas. Doch tatsächlich ist die Zukunft erst spät entdeckt worden. Zwar gab es schon immer zukünftige Ereignisse, die die Menschen erwarteten, aber nicht immer gab es die Vorstellung von einer homogenen, allmählich verfließenden Zeit, in der sich solche Ereignisse vorausschauend ansiedeln ließen. Und bei genauerer Analyse der älteren Quellen ist es oft sogar zweifelhaft, ob es sich vor Beginn der Neuzeit tatsächlich schon um »zukünftige« Ereignisse im modernen Sinne des Wortes ›zukünftig‹ handelte. Das klingt rätselhaft und ist es auch. Denn die Formen, in denen sich die Menschen das zurechtlegen, was wir heute als ›zukünftig‹ bezeichnen, sind zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen. Sie sind auch heute noch für uns zu verworren, als dass wir sie leicht verstehen könnten. Denn bis vor wenigen Jahrzehnten hat sich die historische Forschung noch kaum mit diesem Thema beschäftigt. [4]
Jedenfalls ist die Vorstellung von der Zukunft als einem einheitlichen geschichtlichen Zeitraum, gemessen am Alter der uns bekannten Geschichte der Menschheit, noch relativ jung. Sie bildete sich erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in Westeuropa und hängt eng mit dem neuzeitlichen Konzept der Geschichte zusammen, mit dem es auch, von den Zeitgenossen weitgehend unbemerkt, entstanden ist. Denn es gibt niemanden, der das Konzept der Zukunft erfunden oder entdeckt hätte. Zu selbstverständlich sind den Menschen zu allen Zeiten ihre Zeitvorstellungen gewesen, als dass sie deren Wandel bewusst registriert oder gar konzipiert hätten.
Seitdem die Zukunft allerdings einmal entdeckt worden ist, hat sie auch eine Geschichte. Bei deren Rekonstruktion geht es im Folgenden nicht allein um die Fülle konkreter Zukunftsvorstellungen, die zu verschiedenen Zeiten, bei verschiedenen Menschen und hinsichtlich verschiedener Gegenstände bestanden haben. Zwar wird auch von ihnen zu berichten sein. Aber sie...