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E-Book

Die Erfinder des guten Geschmacks

Eine Kulturgeschichte der Köche

AutorJörg Zipprick
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783838745350
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR

Wer proklamierte schon 1739 die 'nouvelle Cuisine'? Wieso kam später Paul Bocuse in den Verdacht, eine 'neue Küche' erfunden zu haben? Wer verfasste ein Rezept für Elefantenfuß? Und wie beurteilte der Guide Michelin das Können von Bernard Loiseau, kurz bevor der Küchenchef Selbstmord beging?

Dieses Buch erzählt die Geschichte europäischer Köche von den Anfängen bis zu den Starköchen heutiger Prägung. Anschaulich schildert es, wie Moden, Politik, Transportwege oder die Erfindungen der chemischen Industrie das Kochen prägten - von Guillaume Tirel über Antonin Carême, Alexis Soyer, Auguste Escoffier, Franz Pfordte, Eugénie Brazier, Fernand Point, Paul Bocuse, Eckart Witzigmann, Fredy Girardet bis zu Santi Santamaria, Alain Ducasse und Joel Robuchon. Mit vielen Rezepten großer Köche.

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Leseprobe

AMUSE-BOUCHE:
UNSER DREIERLEI VOM FLAMINGO


Blättern Sie um und genießen Sie die Geschichte der großen Köche. Erleben Sie, wie ein Gassenjunge es zum größten Koch seiner Zeit brachte und sowohl bei Napoleon als auch dem russischen Zaren Festbanketts organisierte. Lesen Sie, wer das Restaurant erfand, woher der Pfirsich Melba stammt, wer mit Maiglöckchenessenz kochte und für welches Omelett sich Pilger ins Meer warfen. Staunen Sie über eine couragierte Frau, die eine Küche aus purem Gold ablehnte, oder wundern Sie sich über den eitlen Starkoch, der sich nur in Rautenmuster gewandete und später eine Suppenküche für die Ärmsten der Armen eröffnete. Trauern Sie um den Koch, der sich ins Schwert warf, weil der Fischlieferant zu spät kam.

Eine Geschichte der Köche ist keine Geschichte des Essens. Wir wissen, was vor Jahrtausenden auf die Tische kam. Doch wer es zubereitete, das wissen wir nicht. Wir wissen, dass bereits Archestratos von Gela im 4. Jahrhundert v. Chr. die Zutaten des östlichen Mittelmeerraums für frische, unverschnörkelte Gerichte auf Basis lokaler Fischsorten nutzte. Archestratos kannte den Weg zu den Hummerbänken, er kannte die richtige Art, in Sikyon Aale zuzubereiten, und wusste, dass die besten Bäcker seiner Zeit aus Phönizien oder Lydien stammten. Ihm ging es darum, das perfekte Stück Fisch zu dem Zeitpunkt zu verzehren, an dem es am besten schmeckte. Und natürlich musste der Fisch aus dem Ort stammen, wo der beste seiner Art gefangen wurde. So wie für Generationen von Feinschmeckern die besten Hühner aus der französischen Bresse stammen, kam der beste Oktopus für Archestratos aus Thasos.

Archestratos beschrieb Rezepte, doch ein Koch war der Reisende in Sachen Gourmandise nicht. Unser Wissen über die Köche im antiken Griechenland – ihre Namen, ihr Leben – ist begrenzt. In den griechischen Komödien tobte auf der Bühne ironisch überspitzt die Diskussion, ob Küche denn nun Kunst, Wissenschaft oder Handwerk sei. Der Poet Damoxenos zum Beispiel schildert einen arroganten Koch, der seine Berufskollegen für Ignoranten hält, sich selbst zum Wissenschaftler und Künstler erklärt und dabei die Küche selber meidet:

»Sie [die jungen Köche von heute, Verzeihung, damals] machen aus ganz entgegengesetzten Fischen eine Sauce und reiben Sesam drein. Solche Disharmonie zu durchschauen ist die Sache der geistreichen Kunst und nicht, Töpfe zu waschen und nach Rauch zu stinken. Ich gehe gar nicht mehr in die Küche; ich sitze nur in der Nähe und sehe zu, und während andere arbeiten, erkläre ich ihnen Ursache und Wirkung.«

Wir wissen, dass Platon in der Gorgias Kochen nicht als Kunst, sondern als manuelle Verrichtung sah. Und wir kennen die Festmähler des Feldherrn Lucius Licinius Lucullus (117 v. Chr – 56 v. Chr.), der über eigene Meerwasserbecken verfügte, damit er zu jeder Tageszeit frischen Fisch auftischen konnte. Oft verbanden Kanäle diese Piscinae mit dem Meer. Laut Plutarch kamen bei Lucullus alle Sorten Fleisch und sorgfältig präparierte Gerichte auf den Tisch, in prächtigem Ambiente, untermalt von einem Chor. Als der Feldherr Pompeius erkrankte, rieten ihm seine Ärzte, Drosseln zu essen. Doch seine Diener erklärten, es gäbe keine, außer natürlich bei Lucullus, der sie stopfen ließ. Fast nebenbei soll er die Kirschen in Europa eingeführt haben, als er Bäume aus der pontischen Stadt Giresun in seiner Heimat anpflanzte.

Der Name Marcus Gavius Apicius (25 v. Chr – 37 n. Chr.) steht bis heute für den Heißhunger nach Extravagantem:

Apicius lebte in Kampanien, in Minturnae. Als er von Größe und Geschmack der Krebse an der libyschen Küste hörte, stach er prompt in See und nahm Kurs auf das vermeintliche Krustentierparadies. Bei seiner Ankunft wurde er von Fischerbooten begrüßt. Kritisch betrachtete er die angebotenen Krebse und fragte, ob es noch bessere gäbe. Die Fischer verneinten. Apicius ließ prompt Segel setzen und kehrte nach Hause zurück, natürlich ohne einen Fuß auf das libysche Festland gesetzt zu haben. Libyens Krebse waren für ihn keine Reise wert.

Eines seiner Lieblingsgerichte waren Flamingozungen. Rotbarben waren laut Apicius am besten, wenn sie vor dem Kochen in einer Fischsauce – aus Rotbarben – ertränkt wurden. Letztlich trieb die Feinschmeckerei Apicius in den Tod: Als er bemerkte, dass er gut 100 Millionen Sesterzen für seine kulinarischen Vorlieben ausgegeben hatte und ihm »nur« noch zehn Millionen Sesterzen zum Leben blieben, vergiftete er sich. Offensichtlich empfand er ein Millionärsleben mit geringfügig bescheidenerem Essen als nicht lebenswert.

Zum Vergleich: Das verbliebene Vermögen hätte für den Erwerb von etwa 4000 Sklaven ausgereicht, es hätte auch 130 römische Normalbürger nach damaligen Preisen je 100 Jahre ernähren können.

Der Nachwelt hinterließ Apicius angeblich das erste Kochbuch mit Namen De re coquinaria, wovon lediglich zwei karolingische Handschriften des 9. Jahrhunderts erhalten sind. Eine stammt aus einem Kloster in Fulda und wurde 1929 von der New York Academy of Medicine erworben. Das zweite Exemplar befindet sich in der Bibliothek des Vatikans.

Ob Apicius wirklich selbst zur Feder griff, weiß niemand. Vielleicht wurden die Rezepte auch zu Ehren des römischen Feinschmeckers zusammengestellt. Aber was heißt überhaupt Rezepte? Nach unserem heutigen Verständnis sind es eher Kochideen. De re coquinaria liest sich wie ein halbwegs alltagstaugliches Kochbuch, auch wenn der Autor auf gefüllte Haselmäuse und das folgende Flamingorezept nicht verzichten wollte.

FLAMINGOREZEPT AUS DE RE COQUINARIA:

  1. Enthäute den Flamingo, wasche […] ihn und verschließe ihn in einem Topf, gib Wasser, Salz, Dill und ein wenig Essig dazu. Wenn er halb gar ist, binde ein Bündelchen Lauch und Koriander zusammen, um es damit zu kochen. Wenn er fast gar ist, gib Defrutum dazu und färbe ihn. Gib in einen Mörser Pfeffer, Kümmel, Koriander, Laserwurzel, Minze und Raute und zermahle es, gieße Essig hinzu, gib Datteln hinein und gieße vom eigenen Saft darüber. Schütte es in denselben Topf, binde mit Stärkemehl, gieße die Sauce darüber und serviere. Das Gleiche mache auch mit Papagei.
  2. Anders: Grille den Vogel und zerstoße Pfeffer, Liebstöckel, Selleriesamen, gerösteten Sesam, Petersilie, Minze, getrocknete Zwiebel und Datteln. Schmecke mit Honig, Wein, Liquamen, Essig, Öl und Defrutum ab.

Liquamen oder Garum war die römische »Universalwürze«. Für sie wurden Sardellen, Thunfisch, Aal und Makrelen samt Eingeweiden mit Salzlake vermischt, der Mix vergor anschließend in der Sonne. Geschmacklich ähnelte es wahrscheinlich dem vietnamesischen Nuoc Mam. So beliebt die Sauce war, so unbeliebt war ihre Herstellung. Garum-Fabrikanten arbeiteten meist außerhalb der Städte, da die Fisch-Fermentation nur sehr geruchsintensiv betrieben werden konnte.

Defrutum hingegen war eingedickter Traubensaft, der unter starker Hitze in einem Bleigefäß auf die Hälfte oder um zwei Drittel reduziert wurde. Er diente zum Beispiel als Honigersatz. Durch diese Art der Zubereitung gelangte eine erhebliche Menge Blei in den beliebten Most. Mit Defrutum süßte man auch Weine. Untersuchungen zum Bleigehalt haben ergeben, dass damalige Aristokraten sich tatsächlich mit dem konzentrierten Most vergiften konnten. Kurioserweise standen die Römer selbst dem behandelten Wein skeptisch gegenüber. Plinius der Ältere (23 n. Chr. – 79 n. Chr.) beschwerte sich, dass viele Gifte eingesetzt würden, um Wein dem Geschmack der Trinker anzupassen. Je günstiger der Wein, desto freier sei er von Unreinheiten.

All diese Details sind bekannt und dokumentiert. Doch wer bei Lucullus die Gerichte »sorgfältig präparierte« und die Drosseln zubereitete, wer für Apicius die Rotbarben in Barbensaucen ertränkte und die Flamingos häutete, das wissen wir nicht. Es waren Küchensklaven, und mit ziemlicher Sicherheit die besten Küchensklaven, die man für viele, viele Sesterzen erwerben konnte. Köche waren Hauspersonal, Sklaven, Diener. Weite Teile der Geschichte der Köche zeigen, dass die Mitglieder dieses Berufsstands stets besonders hart um den sozialen Aufstieg kämpften. Viele Köche haben uns seit dem Mittelalter Bücher mit ihren Rezepten und ihrem Wissen hinterlassen. »Wer schreibt, der bleibt« sagt eine Redensart. Hier trifft sie zu, denn die Geschichte der Köche wird fast ausschließlich von Kochbuchautoren geprägt. Vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert kennen wir die Namen einiger Köche, die an Fürsten- und Königshöfen arbeiteten. Ihre Bücher und Rezepte sind teilweise erhalten, ab und an ist ein biografisches Detail überliefert. Erst als – schreibende – Profiköche nicht mehr ausschließlich in den Privatküchen des Adels wirkten, traten die Köche in die Öffentlichkeit. Fortan gab es nicht nur Rezepte, sondern regelrechte Biografien.

Viele davon gleichen mittelalterlichen Hagiografien, egal ob der Herr am Herd selbst zur Feder griff oder Zeitgenossen ihn in Werken würdigten.

Der Protagonist war ein Mann (viel seltener: eine Frau) ohne Fehl und Tadel, zielstrebig, fleißig und kreativ, somit also der kulinarischen Verehrung würdig. Und ab und zu behauptete einer oder gleich zwei, sie hätten eine »neue Küche« erfunden. Die weitaus meisten großen Köche haben freilich weder die Welt des Kulinarischen umgekrempelt noch »neue Küchen« erfunden.

Quer durch die Jahrhunderte wirkten sich Horden von kleinen und großen Veränderungen auf die Küche aus, zum Beispiel verbesserte Transportwege,...

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