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Die Erfindung der Kreativität

Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung

AutorAndreas Reckwitz
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl408 Seiten
ISBN9783518748503
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR


Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor f&uuml;r Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universit&auml;t zu Berlin. Sein Buch <em>Die Gesellschaft der Singularit&auml;ten</em> wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Sachbuchpreises der Leipziger Buchmesse. 2019 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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Leseprobe

9Einleitung: Die Unvermeidlichkeit des Kreativen


Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Institutionen. Nicht kreativ sein zu können ist eine problematische, aber eventuell zu heilende und mit geduldigem Training zu überwindende Schwäche. Aber nicht kreativ sein zu wollen, kreative Potenziale bewusst ungenutzt zu lassen, gar nicht erst schöpferisch Neues aus sich hervorbringen oder zulassen zu wollen, erscheint als ein absurder Wunsch, so wie es zu anderen Zeiten die Absicht gewesen sein mag, nicht moralisch, nicht normal oder nicht autonom zu sein. Wie könnte ein Individuum oder eine Institution, ja, eine ganze Gesellschaft das nicht wollen, was scheinbar natürlich in ihr angelegt ist, wohin es oder sie natürlicherweise strebt: zur kreativen Selbsttransformation?

Welche außergewöhnliche Relevanz der Kreativität als individuelles und soziales Phänomen in unserer Gegenwart zugeschrieben wird, lässt sich an Richard Floridas programmatischer Studie The Rise of the Creative Class aus dem Jahr 2000 ablesen.[1] Florida zufolge ist die zentrale Transformation, die sich in den westlichen Gesellschaften zwischen der Nachkriegszeit und der Gegenwart ereignet hat, weniger eine technologische als eine kulturelle. Sie findet seit den 1970er Jahren statt und betrifft die Entstehung und Verbreitung eines »kreativen Ethos«. Dessen Träger ist eine neue, sich rasch ausbreitende und kulturell tonangebende Berufsgruppe, die creative class mit ihren charakteristischen Tätigkeiten der Ideen- und Symbolproduktion – von der Werbung bis zur Softwareentwicklung, vom Design bis zur Beratung und zum Tourismus. Kreativität bezieht sich in Floridas Darstellung nicht allein auf ein privates Modell der Selbstentfaltung. Sie ist in den letzten drei Jahrzehnten auch zu einer allgegenwärtigen ökonomischen Anforderung der Arbeits- und Berufswelt geworden.

Nun ist Floridas Studie alles andere als eine neutrale Darstellung, 10vielmehr versucht sie genau das zu fördern, von dem sie spricht. Ihr Blick ist selektiv. Aber tatsächlich sprechen viele Indizien dafür, dass das normative Modell der Kreativität und entsprechende Praktiken, die versuchen, das scheinbar flüchtige Moment der Kreativität zu institutionalisieren, spätestens in den 1980er Jahren im Kern der westlichen Kultur angekommen sind und diesen seitdem hartnäckig besetzt halten.[2] Kreativität umfasst in spätmodernen Zeiten dabei eine Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und soll es sein.

Was meint hier Kreativität? Kreativität hat zunächst eine doppelte Bedeutung. Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen. Kreativität bevorzugt das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen. Diese Hervorbringung des Neuen wird nicht als einmaliger Akt gedacht, sondern als etwas, das immer wieder und auf Dauer geschieht. Zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des »Schöpferischen«, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet.[3] Es geht um mehr als um eine rein technische Produktion von Innovationen, sondern um die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue. Das ästhetisch Neue wird mit Lebendigkeit und Experimentierfreude in Verbindung gebracht, und sein Hervorbringer erscheint als ein schöpferisches Selbst, das dem Künstler analog ist. Das Neuartige im Sinne des Kreativen ist dann nicht lediglich vorhanden wie eine technische Errungenschaft, es wird vom Betrachter und auch von dem, der es in die Welt setzt, als Selbstzweck sinnlich wahrgenommen, erlebt und genossen.

Aus soziologischer Perspektive ist Kreativität nun kein bloßes semantisches Oberflächenphänomen, sondern das Zentrum eines 11sozialen Kriterienkatalogs, der seit gut dreißig Jahren in zunehmendem Maße in den westlichen Gesellschaften zu einer prägenden Kraft geworden ist. Als besonders bemerkenswert erweist sich diese Entwicklung zunächst im ökonomisch-technischen Herzen der kapitalistischen Gesellschaften, der Sphäre der Arbeit und des Berufs. Das, was ich den »ästhetischen Kapitalismus« der Gegenwart nennen will, basiert in seiner fortgeschrittensten Form auf Arbeitsweisen, die das lange vertraute Muster einer routinisierten Arbeiter- und Angestelltentätigkeit, ihres standardisierten und versachlichten Umgangs mit Objekten und Subjekten, hinter sich gelassen haben. An deren Stelle sind Tätigkeiten getreten, in denen die ständige Produktion von Neuartigem, insbesondere von Zeichen und Symbolen (Texten, Bildern, Kommunikation, Verfahrensweisen, ästhetischen Objekten, Körpermodifizierungen), vor einem an Originalität und Überraschung interessierten Publikum zur wichtigsten Anforderung geworden ist: in den Medien und im Design, in der Bildung und in der Beratung, in der Mode und in der Architektur. Die Konsumkultur erwartet diese ästhetisch ansprechenden, innovativen Produkte, und die creative industries bemühen sich, sie bereitzustellen. Der Kreative als Berufstätiger dieser creative economy bezeichnet mittlerweile eine Sozialfigur von beträchtlicher kultureller Attraktivität auch über ein engeres Berufssegment hinaus.[4] Die Orientierung an Kreativität betrifft jedoch nicht nur die Arbeitspraktiken, sondern auch die Organisationen und Institutionen selbst. Diese haben sich einem Imperativ permanenter Innovation unterworfen. Insbesondere Wirtschaftsorganisationen, aber mittlerweile auch andere – politische oder wissenschaftliche – Institutionen haben sich so umstrukturiert, dass sie nicht nur die Fabrikation immer wieder neuer Produkte auf Dauer stellen, sondern ihre internen Strukturen und Abläufen permanent erneuern, um damit in einer sich beständig verändernden Organisationsumwelt »responsiv« zu bleiben.[5]

12Über die Berufs-, Arbeits- und Organisationswelt hinaus ist das Doppel von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ seit den 1970er Jahren immer tiefer in die kulturelle Logik der privaten Lebensführung der postmaterialistischen Mittelschicht (und darüber hinaus) eingesickert. Es würde zu kurz greifen, anzunehmen, dass deren spätmodernes Selbst im Wesentlichen nach Individualisierung strebt. Diese Individualisierung hat eine besondere Form: sie zielt auf eine kreative Gestaltung von Subjektivität ab. Kreativität bezieht sich hier weniger auf das Herstellen von Dingen, sondern auf die Formung des Individuums selbst. Es handelt sich – wie es Richard Rorty umschreibt – um eine Kultur der »Selbsterschaffung« (self-creation).[6] Man kann nicht genug betonen, dass diese Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, die das spätmoderne Subjekt verfolgt, nicht als Universalien missverstanden werden sollten. Sie gehen vielmehr auf ein historisch außergewöhnliches Vokabular des Selbst aus dem Umkreis der Psychologie des Selbstwachstums (self growth) zurück, die wiederum ein romantisches Erbe verwaltet. Erst vor ihrem Hintergrund geht es dem Selbst um eine quasikünstlerische, experimentelle Weiterentwicklung in allen seinen Facetten, in persönlichen Beziehungen, Freizeitformaten, Konsumstilen und körperlichen oder psychischen Selbsttechniken. Die Orientierung an der Kreativität des Selbst ist dabei regelmäßig mit einem Streben nach Originalität, nach einer Unverwechselbarkeit des Ichs verbunden.[7]

Schließlich sticht die gesellschaftliche Ausrichtung an Kreativität in einem weiteren Bereich ins Auge: in der Transformation des Urbanen, in der Umgestaltung des gebauten Raums der westlichen Großstädte. Viele der Metropolen zwischen Barcelona und Seattle, zwischen Kopenhagen und Boston sind seit den 1980er Jahren dabei, sich über den Weg spektakulärer Architektur, der Restaurierung von Stadtvierteln, der Neugründung von Kulturinstitutionen und einer gezielten Arbeit an ansprechenden Atmosphären ästhetisch neu zu erfinden. Es reicht nicht mehr aus, dass die Städte ihre Grundfunktionen erfüllen, Wohnraum und Arbeitsstätten 13zur Verfügung zu stellen, wie es für die klassische Industriegesellschaft galt. Es wird von ihnen vielmehr eine permanente ästhetische Selbsterneuerung erwartet, die immer wieder die Aufmerksamkeit der Bewohner und Besucher fesselt – sie wollen und sollen creative cities sein.[8] Das kreative Arbeiten, die innovative Organisation, das sich selbst entfaltende Individuum, die creative cities – sie alle nehmen teil an einem umfassenden kulturellen Ensemble, das die Produktion von Neuem auf Dauer stellt und das Faszinosum der Schöpfung und Wahrnehmung von neuartigen, originellen Objekten, Ereignissen und Identitäten nährt.

Im Grunde ist das alles höchst merkwürdig. Man muss nur historisch einen Schritt zurücktreten, um sich der Seltsamkeit bewusst zu werden, die angesichts der gegenwärtigen Universalisierung der Kreativität, ihrer Festlegung auf eine scheinbar alternativlose und allgemeingültige Struktur des Sozialen und des Selbst leicht verdeckt wird. Die Idee der Kreativität ist zwar sicherlich keine Erfindung unserer Post- oder Spätmoderne. Aus einer soziologischen Perspektive auf die Genese der Moderne insgesamt ist sie jedoch vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen auf kulturelle und soziale Nischen beschränkt gewesen.[9] Es...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Autor / Buch2
Impressum4
Inhalt5
Einleitung:
9
1. Ästhetisierung und Kreativitätsdispositiv:
20
1.1 Ästhetische Praktiken20
1.2 (Ent-)Ästhetisierungen und Moderne30
1.3 Gesellschaftliche Regime des Neuen38
1.4 Kreativität als Dispositiv49
2. Künstlerische »Schöpfung« zwischen Geniesubjekt und Publikum: Die Formierung des modernen Kunstfeldes54
2.1 Die Kunst als Form des Sozialen54
2.2 Das Regime des Neuen der Kunst60
Künstler-Kreateure60
Das ästhetische Publikum65
Das Paradox der Zertifizierung des Neuen71
2.3 Grenzüberschreitungen und Delegitimierungen
74
Vie de bohème75
Universalisierungsprogramme des Schöpferischen77
Pathologisierungen des Ästhetischen81
2.4 Das bürgerliche Kunstfeld
84
3. Zentrifugale Kunst: Die Selbstentgrenzung der Kunstpraktiken90
3.1 Namuths Pollock90
3.2 Externe und immanente Entgrenzungen
95
3.3 Avantgarde-Kreativität98
Prozeduren und Automatismen98
Materialisierungen und Technisierungen102
Die Aktivierung des Rezipienten107
3.4 Kreativität in der postmodernen Kunst110
Appropriationsverfahren: Das relativ Neue110
Vom Werk zum Ereignis:
112
3.5 Postmoderne Künstlersubjekte115
Der Künstler als Arrangeur115
Künstler-Performativität119
3.6 Die Kunst als exemplarisches Format der Spätmoderne123
4. Der Aufstieg der ästhetischen Ökonomie: Permanente Innovation, creative industries und Designökonomie133
4.1 Das doppelte Paradox des Neuen und seine Auflösung133
4.2 Bürgerliche Oppositionsnischen
146
Arts and Crafts146
Der »divinatorische« Unternehmer als Innovator149
4.3 Innovationspermanenz als Managementproblem155
»Personality and organization« und
155
Die Innovationsökonomie und das Umweltproblem159
4.4 Die Etablierung der creative industries164
Die Mode165
Die Werbung171
Das Design177
4.5 »Management by Design«182
4.6 Die Ästhetisierung des Ökonomischen
189
5. Die Psychologisierung der Kreativität: Vom pathologischen Genie zur Normalisierung des Ressourcen-Selbst198
5.1 Rorschachs Klecksbilder198
5.2 Die psychologische Pathologisierung des »Genies«202
5.3 »Kreativität« am Rande der Schulpsychologie207
Psychoanalyse und Schöpfung: Zwischen Sublimation
207
Gestaltpsychologie und »produktives Denken«211
5.4 Kreativität als psychologische Notwendigkeit215
Sich selbst verwirklichen – die »self growth psychology«215
Kreativität und Intelligenzforschung222
5.5 Die Normalität der Kreativität:
228
5.6 Auf dem Weg zur kreativitätsorientierten
233
6. Die Genese des Starsystems: Die massenmediale Konstruktion expressiver Individualität239
6.1 Das massenmediale Aufmerksamkeitsregime241
6.2 Der Kunststar als performing self247
6.3 Performance-Kreativität252
Filmstars254
Popstars257
6.4 Die Expansion des Starsystems262
7. Creative Cities: Die Kulturalisierung der Stadt269
7.1 »Loft living«269
7.2 Funktionale Stadt und kulturorientierte Stadt274
7.3 Kritischer Urbanismus:
280
7.4 Merkmale der kulturorientierten Stadt287
Ästhetisierte Stadtviertel288
»Creative clusters«294
Konsumräume und der touristische Blick297
Musealisierung300
7.5 Kulturorientierte Gouvernementalität303
Die Planung von Differenzen und Atmosphären303
Kulturplanung und ihre Grenzen308
8. Ästhetisierungsgesellschaft: Strukturen, Dissonanzen, Alternativen313
8.1 Der Affektmangel der Moderne313
8.2 Grundstrukturen des Kreativitätsdispositivs319
Ästhetische Sozialität322
Ästhetische Mobilisierung326
Aufmerksamkeitskultur des Neuen330
8.3 Strukturelle Rahmenbedingungen:
333
Ökonomisierung und Ästhetisierung335
Medialisierung und Ästhetisierung338
Rationalisierung und Ästhetisierung340
Limitierung statt Kolonialisierung342
8.4 Dissonanzen kreativer Lebensführung343
Der Leistungs- und Steigerungszwang der Kreativität345
Diskrepanzen zwischen kreativer Leistung und Kreativerfolg349
Aufmerksamkeitszerstreuungen351
Ästhetisierungsüberdehnungen353
8.5 Alternative Formen des Ästhetischen?355
Künstlerkritik und Sozialkritik355
Profane Kreativität358
Alltagsästhetik der Wiederholung362
Literaturverzeichnis369
Ausführliches Inhaltsverzeichnis405

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