Neu gefragt: Wie entwickeln sich Kinder?
Ich schreibe dieses Buch nicht, weil immer wieder einmal mehr oder weniger Neues oder Anderes über die Entwicklung von Kindern zu sagen ist oder weil ich besonders wirkungsvolle Rezepte zur Erziehung oder zur Entwicklungsförderung anzubieten hätte. Vielmehr hat sich in den letzten Jahren ein grundsätzlicher Wandel im Verständnis der kindlichen Entwicklung vollzogen, der bisher kaum wahrgenommen wurde, der aber unser Verständnis über die Entwicklung von Kindern grundsätzlich verändern wird.
Dieses neue Wissen möchte ich Ihnen vermitteln, damit Sie in der Lage sind, Ihr Kind informiert, mit Verständnis, Respekt und Faszination in seiner Entwicklung zu begleiten. Die neuen Einsichten in die Entwicklung Ihres Kindes bieten ein anderes, komplexeres, jedoch sehr viel zutreffenderes Verstehen der frühen Kinderwelten, die Sie, wenn notwendig, mit Kompetenz verändern können.
Wir wissen heute viel mehr
Die frühe Entwicklung von Kindern verläuft, wie wir heute wissen, sehr viel komplexer und mit einer eigenen, versteckten Logik. Entwicklungsprozesse laufen deutlich komplizierter ab, als sie die immer noch weithin gültige und vergleichsweise einfach gestrickte Reifetheorie (s. → S. 14 ff.) beschreibt. Das bessere Verstehen der Kräfte, die die Entwicklung Ihres Kindes steuern, macht sich jedoch direkt bezahlt durch eine kindgerechte und spürbare Sicherheit in Ihrer erzieherischen Kompetenz, die Sie gewinnen werden. Verstehen ist aber auch die wichtige Basis für Ihr Vertrauen in die Entwicklung Ihres Kindes.
Woher stammt mein „anderes“ Wissen über die frühe Entwicklung von Kindern? Aus meiner langjährigen und direkten Berufserfahrung mit Kindern der frühen Altersgruppen, als Leiter einer Abteilung für Entwicklungsneurologie an der Universitäts-Kinderklinik in Tübingen. Es stammt aber auch von der beruflichen Notwendigkeit, immer wieder Neues über die Entwicklung von Kindern zu lernen: Aus der Biologie und Neurobiologie, aus der Entwicklungspsychologie, aus der Pädagogik, den Sprachwissenschaften, aus der Evolutionstheorie und aus der Entwicklungsforschung der Kinderheilkunde.
Schließlich, und nicht zuletzt, verdanke ich mein Wissen der direkten, ganz bewussten Beobachtung sehr vieler Kinder bei allen nur möglichen, kindrelevanten Anlässen und Gelegenheiten. Das waren viele bekannte und unbekannte Kinder, wo immer ich ihnen begegnet bin. Dazu gehören auch meine Enkelinnen und Enkel. Oft habe ich die Eltern, auch wenn ich sie nicht kannte, zu ihren eigenen Meinungen und Erfahrungen befragt. Sie haben mir viele Details aus der Entwicklung ihrer Kinder bereitwillig erzählt. Ihnen allen sei an dieser Stelle besonders gedankt. Ihre Beiträge sind in den Text des Buches mit hineinverwoben, vor allem in die kleinen Beispielgeschichten.
Jedes Kind entwickelt sich individuell.
Alle diese beruflichen und persönlichen Erfahrungen haben bei mir schließlich die Vermutung aufkommen lassen, dass Kinder sich vielleicht ganz anders entwickeln, als dies bisher wissenschaftlich, aber auch in den allermeisten Ratgebern zur Entwicklung beschrieben wird.
Kinder, und nicht Bücher, haben mich gelehrt, dass sie sich in ihrer Entwicklung kaum an die Regeln halten, die ihnen von Entwicklungsexperten aller Fachrichtungen vorgegeben werden. Diese stützen sich seit Langem auf die scheinbar bewährte und verlässliche Reifungstheorie der kindlichen Entwicklung: Nur ein streng zeitlich und altersgebundenes, genetisch festgelegtes „Schrittfür-Schritt-Programm“ garantiere eine normale Entwicklung (s. → S. 14 ff.).
Kinder erreichen bestimmte Ziele ihrer Entwicklung oft und zum Erstaunen und Unverständnis ihrer Eltern zu ganz anderen als zu den erwarteten oder von Ratgebern und Entwicklungstabellen geforderten Zeiten und oft auch auf sehr erstaunlichen Umwegen. Kinder durchlaufen einen ganz individuellen, einen nur ihnen eigenen Entwicklungsverlauf. Kinder „wundern“ sich vom ersten Tag ihres Lebens an (da sie bereits über vorgeburtliche Erfahrungen verfügen) über jede neue Erfahrung und über jedes neue Ereignis in ihrem Tagesablauf, die sie mit anderen, bereits gemachten Erfahrungen vergleichen. Sie versuchen also, eine Art von „Theorie“ aus ihren Erfahrungen zu gewinnen, damit ihnen neue Erfahrungen im Rahmen ihres bereits erworbenen, altersgebundenen Wissens verständlich werden. Wenn diese Erfahrungen sich nicht an bereits vorhandene anknüpfen lassen, müssen für neue Erfahrungen im Gedächtnis auch neue Kategorien, neue „Ordner“ angelegt und eröffnet werden. Warum verarbeiten und speichern Babys schon so früh, was sie erleben und erfahren? Nach gängigem Verständnis sind sie doch in den ersten Tagen und Wochen ihres Lebens völlig von ihren Pflegepersonen abhängig und kümmern sich scheinbar um nichts Weiteres zu als zu schlafen, zu trinken und sich immer wieder frisch windeln und wickeln zu lassen.
Sie tun es, weil sie damit schon sehr früh fähig werden, sich an die Bedingungen anzupassen, in die sie hineingeboren wurden. Die jedoch können sich von den gewohnten Bedingungen unserer Lebenswelt drastisch unterscheiden. Denn es ist nicht gleichgültig, ob ein Kinderleben unter den Bedingungen einer arktischen Welt, in der Sahara oder in Mitteleuropa beginnt. Wir begegnen hier schon zwei Schlüsselbegriffen, Individualität und Anpassung (Adaptation), die für das Verstehen von Entwicklungsprozessen im Verlauf des Buches von entscheidender Bedeutung sind.
Versuchen Sie, ihr Kind zu verstehen
Das Buch hat sich vor allem zum Ziel gesetzt, Sie über beondere Entwicklungsbedingungen zu informieren, damit Sie ihr Kind in seinem Verhalten, in seinen Absichten und in seinem Tun verstehen können. Erst das Verstehen führt zu nachvollziehbaren Alternativen und Vorschlägen, wie Kinder in ihren jeweiligen Entwicklungsphasen in ihrem Verhalten altersgerecht beurteilt werden können, ohne sie unbeabsichtigt zu kränken oder zu verletzen, weil die Absicht, das Handeln des Kindes überhaupt nicht verstanden wurden. Mit einem verstehenden Wissen lässt sich sehr viel rationaler ein kindliches Verhalten steuern, das Ihnen und oft auch Ihrem Kind zu schaffen macht und Handlungsbereitschaft fordert, z. B. bei einem ausufernden Trotzverhalten.
Sie werden allerdings in diesem Buch keine Ratschläge finden, wie Sie Ihr Kind am besten, am intensivsten, am sichersten und effektivsten fördern- oder auch auf Leistung trimmen können. Das Buch ist kein „Förderbuch“, in dem auf jeder Seite nachzulesen ist, was von Ihnen erwartet und getan werden muss, sondern ein „Verstehbuch“. Das Buch wird Ihnen nicht zu irgendwelchen Diagnosen verhelfen, wenn auch hin und wieder Diagnosen von Auffälligkeiten und Krankheiten erwähnt werden.
Auf mögliche Gefährdungen der Entwicklung durch bestimmte Ereignisse und Auffälligkeiten wird an den entsprechenden Stellen immer hingewiesen werden. Haben Sie Bedenken, sind Sie verunsichert, gehen Sie zu Ihrer Kinderärztin oder Ihrem Kinderarzt. Möglicherweise finden Sie auch in einer Buchhandlung einen Ratgeber, der Ihnen hilfreich erscheint.
Einen verbesserten Stand der Entwicklung Ihres Kindes, die über seine angeborenen und erworbenen Potenziale hinausführt, ihm zu einem „besseren Gehirn“ verhelfen würde, kann bisher keine Therapie und keine neue neurobiologische Erkenntnis anbieten, außer dem, was Sie, nach Bruer, s. → S. 99) ohnehin schon immer gewusst haben und was seit alters her weitergegeben wird. (Zur Information: Wir reden von sich unauffällig entwickelnden Kindern und nicht von Kindern mit Entwicklungsdefiziten!)
Sprechen Sie viel mit Ihrem Baby! Singen Sie mit Ihrem Baby! Streicheln Sie Ihr Baby! Lesen Sie Ihrem Kind vor! Lassen Sie es nicht zu viel fernsehen! Gehen Sie einfühlsam und sorgsam mit Ihrem Baby, mit Ihrem Kind um. Wenn es notwendig ist, suchen Sie eine Stunden- oder Tagesbetreuung, in der sich Ihr Kind wohl fühlt (und das sollte es dann auch!), in der, je jünger Ihr Kind ist, die betreuenden Personen auch eine Bindungsfunktion übernehmen können.
Was ich diesen simplen, verständlichen Empfehlungen schon hier in der Einleitung hinzufügen möchte, ist: Achten und würdigen Sie die individuelle Persönlichkeit Ihres Kindes, die ihm angeborene Bereitschaft zur Teilhabe und zur Imitation, und versuchen Sie, Ihr Kind so zu behandeln, wie Sie selbst behandelt werden möchten. Verletzen Sie nicht dauerhaft seine Integrität, denn erst dann beginnen, nach Bruer, die wirklichen Probleme und die berechtigten Sorgen.
Das andere Verständnis der frühen kindlichen Entwicklung
Worum geht es bei dem neuen Verständnis? Im Folgenden finden Sie eine Auflistung einiger Grundprinzipen der kindlichen Entwicklung, die in diesem Buch eine Rolle spielen.
- Vom ersten Tag ihres Lebens an sind Kinder unverwechselbare Persönlichkeiten und höchst perfekt mit allem versehen, was der jeweilige Entwicklungsstand von ihnen fordert. Kinder entwickeln sich individuell und daher auch unterschiedlich, also variabel, im Vergleich zu allen anderen Kindern.
- Kinder sind Anpassungskünstler. Sie orientieren sich in ihrer Entwicklung perfekt an der Umwelt und an den kulturellen und sozialen Bedingungen, in die sie hineingeboren wurden.
- Kinder sind von Geburt an hoch begabte Kommunikatoren. Sie versuchen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, andere Menschen zu einem „Dialog“, zu einem „Gespräch“ zu verführen.
- Kinder streben nach „Teilhabe“ und „Teilnahme“ am Leben ihrer Familie und das mit Power.
- Kinder lernen...