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Die ersten Spuren psychischer Erscheinungen

Das psychische Leben von Mikroorganismen - Eine Studie in experimenteller Psychologie

AutorAlfred Binet
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783743132559
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Es gibt mikroskopisch winzige Lebewesen, die kein Gehirn haben und dennoch so etwas wie ein Gedächtnis. Diesen Lebewesen fehlen alle Sinnesorgane, dennoch können sie anscheinend sehen, hören, riechen und fühlen. Sie haben keine Arme oder Beine, dennoch können sie laufen und bei Bedarf so etwas wie Ärmchen nachbilden, um sich damit das zu greifen, was sie wollen. Sie können jagen, sich verteidigen, ja sie haben sogar ein ausgeprägtes Sexualleben. Alfred Binet führt uns im Rahmen seiner Studie über das psychische Leben der einzelligen Mikroorganismen in diese geheimnisvolle Welt ein, die vielseitiger ist, als die Welt der uns bekannten Tiere. Er weiß fundierte Antworten auf Fragen über die grundlegenden Phänomene des Lebens, beispielsweise auf die Frage, ob psychisches Leben überhaupt eine Eigenschaft der lebenden Materie ist. Der erfahrene Forscher und Psychologe Binet weiß nicht nur die Antworten, er nimmt den Leser mit auf seiner Entdeckungsreise durch die wunderbare Welt des psychischen Lebens der Mikroorganismen.

Der französische Psychologe Alfred Binet (1857 - 1911) gilt als Begründer der Psychometrie. Er studierte unter anderem Medizin und Biologie an der Sorbonne. Seine Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Intelligenzmessung und der Mikroorganismen sind eine Arbeitsgrundlage für Psychologen und Naturforscher auf der ganzen Welt.

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Leseprobe

1. Einführung


Ich habe mich in dem folgenden Text über Mikroorganismen bemüht, zu zeigen, dass psychologische Phänomene bei den untersten Wesensklassen beginnen. Sie kommen in jeder Lebensform von der einfachsten Zelle bis zum kompliziertesten Organismus vor. Sie sind die wesentlichen Phänomene des Lebens, die jedem Protoplasma1 innewohnen.

Wir gehen dementsprechend von der Existenz einer Art Vitalismus aus, d. h. eines Aggregats von Eigenschaften, die sich auf die lebende Materie beziehen und die niemals in unbelebten Substanzen gefunden werden. Unter diesen Eigenschaften des Lebens ordnen wir psychologische Phänomene ein.

Es ist unnötig zu sagen, dass dieser Vitalismus nichts mit der Lehre zu tun hat, die von der Schule von Montpellier vertreten wird. Das hier vorliegende Prinzip hat nichts mit Eigenschaften und Kräften zu tun, die der lebendigen Materie überlegen sind. Es geht um die Eigenschaften, die ihr innewohnen - die Eigenschaften, die das Leben charakterisieren.

Die Gegner des Vitalismus versuchen die Theorie zu widerlegen, indem sie alle Phänomene des Lebens auf physikalisch-chemische Kräfte zurückführen. Sie behaupten, dass, wenn die Physiologie fortschreitet, die Tendenz besteht, alle Phänomene nominell physiologisch auf den Bereich der Physik und Chemie zu verweisen. Und wenn es ihnen bis jetzt nicht gelungen, so wäre es doch nur eine Frage der Zeit zu beweisen, dass jeder lebenswichtige Vorgang auf mechanischen Phänomenen beruht.

In einer Abhandlung über „Vitalismus und Mechanismus“2 hat G. Bunge, Professor für Physiologie in Basel, gezeigt, dass die Geschichte der Physiologie diese Hypothesen widerlegt.

Je genauer die Phänomene des Lebens untersucht werden, je sorgfältiger sie in ihren verschiedenen Aspekten studiert werden, desto sicherer wird der Schluss, dass die Prozesse, die physikalisch-chemischen Kräften zugeschrieben werden, in Wirklichkeit viel komplizierteren Gesetzen gehorchen. Um dies zu veranschaulichen, wurde zu einem früheren Zeitpunkt eingeräumt, dass die Phänomene der Resorption und Ernährung durch Diffusion und Endosmose erklärbar seien. Dutrochet, nach seiner Entdeckung der Endosmose, dachte sogar, dass er das Prinzip des Lebens entdeckt habe. Zurzeit wissen wir, dass die Wände des Darms nicht in irgendeiner Weise wie unbelebte Membranen wirken, die bei Experimenten mit der Endosmose verwendet werden. Die Darmwände sind mit Epithelzellen bedeckt, von denen jede ein mit einem Komplex von Eigenschaften ausgestatteter Organismus ist. Das Protoplasma dieser Zellen bekommt die Nahrung durch einen Aufnahmevorgang, genau wie die Infusorien und andere einzellige Organismen, die ein unabhängiges Leben führen. Im Darm der kaltblütigen Tiere emittieren die Zellen Ausstülpungen, welche die winzigen Tropfen der fettigen Materie erfassen und sie, indem sie diese in das Protoplasma der Zelle einbringen von dort in die Kanäle des Darmsafts übertragen. Es gibt noch eine andere Art der Fettaufnahme, die bei kaltblütigen und warmblütigen Tieren vorkommt. Die lymphatischen Zellen treten aus dem sie enthaltenden adenoiden Gewebe heraus, sodass sie beim Eintreffen an der Oberfläche des Darmes dort vorhandene Fettpartikel einfangen, und sich beladen mit ihrer Beute zurück auf den Weg zu den Lymphbahnen machen.

Dementsprechend bezieht sich die Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und die Wahl zwischen Nahrungsmitteln verschiedener Art zu treffen, also einer Eigenschaft, die im Wesentlichen psychologisch ist, auf die anatomischen Elemente des Gewebes, und zwar wie es alle einzelligen Wesen auf die in unserer Abhandlung gezeigten Weise ebenso durchführen. Es ist offensichtlich unmöglich, diese Tatsachen durch die Einführung von rein physikalisch-chemischen Kräften zu erklären. Sie sind die charakteristischen Phänomene des Lebens und kommen ausschließlich im Apparat des lebenden Protoplasmas vor.

Wenn die Existenz psychologischer Phänomene in niederen Organismen bestritten wird, wird man dennoch davon ausgehen müssen, dass diese Phänomene im Laufe der Evolution hinzugekommen sein können, und zwar in dem Maße, wie der Organismus vollkommener und komplexer wird.

Nichts könnte mehr im Widerspruch zu den Lehren der allgemeinen Physiologie stehen, als die Tatsache, dass alle lebenswichtigen Phänomene bereits in nicht differenzierten Zellen vorhanden sind.

Darüber hinaus ist es interessant festzustellen, zu welcher Schlussfolgerung so eine Annahme führen würde – wie Romanes3 anscheinend zugibt –, dass psychologische Eigenschaften in niedrigeren Wesen fehlen und dass sie erst in verschiedenen Stadien der zoologischen Entwicklung eintreten. Romanes hat die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten in ganz willkürlicher Weise auf einem großen Diagramm exakt detailliert dargestellt. Nach seinem Schema sind nur die protoplasmatischen Bewegungen und die Eigenschaft der Erregbarkeit in niederen Organismen vorhanden. Das Gedächtnis beginnt erst mit den Stachelhäutern. Die primären Instinkte beginnen mit den Larven der Insekten und den Anneliden (= Ringelwürmer), die sekundären Instinkte mit Insekten und Spinnen. Die Vernunft endlich beginnt mit den höheren Krebstieren.

Ich zögere nicht zu sagen, dass all diese mühsame Einteilung extrem künstlich und vollkommen anomal ist.

Alle Autoren, die sich mit besonderem Nachdruck auf das Studium von einzelligen Organismen spezialisiert haben, haben diesen Wesen die meisten psychologischen Eigenschaften zugeschrieben, die Romanes für dieses oder jenes höherklassige Tier reserviert hat. Das ist die Meinung von Gruber, von Verworn, von Moebius, von Balbiani und von vielen anderen Naturforschern. Moebius erkennt, dass das psychologische Leben mit dem lebenden Protoplasma beginnt, und er hält es für das höchste Ziel der Zoologie, die psychische Einheit aller Tiere zu demonstrieren.

Wir könnten, wenn es nötig wäre, jede einzelne der psychischen Fähigkeiten nehmen, die Romanes für jene Tiere reserviert, die mehr oder weniger fortgeschritten auf der zoologischen Skala sind, und zeigen, dass der größte Teil dieser Fähigkeiten gleichermaßen zu den Mikroorganismen gehört. Aber wir dürfen die Diskussionen dieser Einleitung nicht unnötig erweitern. Wir beschränken uns daher auf wenige Erläuterungen.

In seinem zoologischen Maßstab weist Romanes den Larven der Insekten und den Anneliden die ersten Erscheinungen von Überraschung und Angst zu.

Wir können zu diesem Punkt antworten, dass es nicht ein einziges Wimpertierchen (Ciliata) gibt, das nicht erschreckt werden kann, und das nicht seine Angst mit einem schnellen Durchqueren der Flüssigkeit des Präparats manifestiert.

Wenn ein Tropfen Essigsäure in das Präparat auf dem Glasträger eingeführt wird, das Mengen von Infusorien (Aufgusstierchen) enthält, so werden diese sofort in alle Richtungen wie eine Schar erschrockener Schafe fliehen.

Gemäß Romanes beginnt die Erinnerung zuerst mit den Stachelhäutern (z. B. Seesterne). Nun stellt Moebius anlässlich einer Abhandlung über die Folliculina ampulla (Ohrentierchen, Flaschentierchen)4, ein Aufgusstierchen mit Geißel, die komplizierte und interessante Bewegungen vollführt, fest, dass jedes Mal, wenn ein Tier dieselbe Handlung unter dem Einfluss derselben Erregungen wiederholt, diese Tatsache beweist, dass das Tier eine Art Gedächtnis besitzt. Tatsächlich ist Erinnerung eine der elementarsten psychologischen Tatsachen.

Schließlich beginnen die primären Instinkte nach Romanes zunächst mit den Larven der Insekten und mit den Anneliden. Wir geben, im Widerspruch zu dieser Aussage, die Bemerkungen von Verworn5 zu bedenken, die die Existenz neugieriger Instinkte unter den Rhizopoden (Wurzelfüßer z. B. Amöben) offenbaren. Die Difflugia urceolata (eine Amöbenart), die eine Schale aus Sandpartikeln bewohnt, emittiert lange Pseudopodien (Scheinfüßchen), die am Boden des Wassers nach den Materialien suchen, die notwendig sind, um für den Tochterorganismus eine neue Schale zu konstruieren, an der die Vermehrung durch Teilung stattfindet. Das Scheinfüßchen, nachdem es ein Sandkörnchen berührt hat, zieht sich zusammen, und das Sandkorn, das an dem Scheinfüßchen haftet, wird in den Körper des Tieres hineingezogen. Verworn setzt anstelle von Sandkörnern kleine Bruchstücke von farbigem Glas auf das Tier. Einige Zeit später bemerkte er eine Ansammlung dieser Fragmente am unteren Teil der Schale. Er sah dann einen Packen Protoplasma aus...

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