Caster Semenya und die Zukunft des Frauensports
Am vorletzten Tag der Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro kam es zu einem Vorfall, der für ähnlich viel Gesprächsstoff und Kontroversen sorgte, wie das immerwährende Thema Doping und der Auftritt der russischen Schwimmerin Julija Jefimowa1 (siehe das Kapitel Julija Jefimowa und der Umgang mit Dopingsündern auf Seite →). Ich spreche vom Fall Caster Semenya.
Caster Semenya2 ist eine südafrikanische Leichtathletin, die auf internationalen Sportveranstaltungen vorwiegend im 800-Meter-Lauf der Frauen antritt. 2009 wurde sie in Berlin auf dieser Strecke Weltmeisterin (in 1:55,45 Minuten), 2012 bei den Olympiade in London in 1:57,23 Minuten zunächst Silbermedaillengewinnerin3 und nun in Rio de Janeiro in einer Zeit von 1:55,28 Minuten Olympiasiegerin4. Als Zweite und Dritte kamen bei diesem Lauf Francine Niyonsaba5 aus Burundi und Margaret Nyairera Wambui6 aus Kenia ins Ziel. Allen drei Medaillengewinnerinnen wird nachgesagt, von Hyperandrogenismus betroffen und/oder intersexuell zu sein7.
Hyperandrogene Frauen besitzen im Vergleich zu „normalen“ Frauen einen deutlich erhöhten Testosteronspiegel, bei Intersexuellen ist das biologische Geschlecht (männlich oder weiblich) nicht zweifelsfrei bestimmbar. Anders gesagt: Die betroffenen Personen besitzen Merkmale, die allgemein mal dem einen, mal dem anderen Geschlecht zugerechnet werden (wozu unter anderem auch die Stimmlage zählt8). Einige Quellen behaupten, Caster Semenya besäße keine Gebärmutter, sehr wohl aber innenliegende Hoden9.
Die deutsche Wikipedia definiert den Begriff der Intersexualität wie folgt10:
Mit Intersexualität bezeichnet die Medizin Menschen, die genetisch (aufgrund der Geschlechtschromosomen) und/oder anatomisch (aufgrund der Geschlechtsorgane) und hormonell (aufgrund des Mengenverhältnisses der Geschlechtshormone) nicht eindeutig dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie groß die Unterschiede in den Testosteronspiegeln üblicherweise zwischen den beiden biologischen Geschlechtern sind, genügt ein Blick in die in der Endnote angeführte Healthline-Seite11. Für erwachsene Männer werden Werte zwischen 200 bis 1.070 ng/dl, für erwachsene Frauen zwischen 15 und 70 ng/ dl als normal angegeben. Zahlreiche Quellen nennen engere Spannen (dann handelt es sich meist um eher durchschnittliche Werte für die beiden Geschlechter), einige aber auch etwas größere. Beispielsweise werden auf med4you.at die Werte 310 μg/l für erwachsene Männer und 0,06-0,8 μg/l für erwachsene Frauen genannt12. Diese entsprechen 300-1.000 ng/dl für Männer und 6-80 ng/dl für Frauen, sie sind also durchaus mit den von Healthline genannten Zahlen vergleichbar. Daneben existieren auch Größenangaben in nmol/l. Dafür gibt die med4you.at-Website die Werte 10-35 nmol/l für Männer und 0,2-2,8 nmol/l für Frauen an.
In Presseberichten zu Caster Semenya hieß es, ihr Testosteronspiegel sei etwa dreimal so hoch wie der anderer Frauen13. Auch wenn ich die exakten Werte nicht kenne, lässt dies zunächst vermuten, dass er dreimal so hoch ist, wie der Maximalwert von erwachsenen Frauen gemäß der zitierten Healthline-Tabelle (denn ansonsten könnte man nicht sagen, dass er dreimal so hoch ist). Damit läge er knapp unterhalb des Minimalwerts von erwachsenen Männern. Allerdings widerspricht dies anderen Quellen zur Startberechtigung hyperandrogener Frauen. Beispielsweise heißt es auf medmix.at zu den im Jahr 2011 vom internationalen Leichtathletikverband IAAF (International Association of Athletics; Weltleichtathletikverband) beschlossenen zulässigen Testosteron-Spiegeln für Frauen14:
Seit 2011 sollten laut dem IAAF – dem Dachverband aller nationalen Sportverbände für Leichtathletik – das Testosteron bei Frauen, die wettkampfmäßig Leichtathletik ausüben wollen, unter dem männlichen Androgenspiegel sein. Nur dann dürfe Frau an Frauenwettkämpfen teilnehmen. Eine normaler, weiblicher Testosteronspiegel in Serum-Balance liegt zwischen 0,1 bis 2,8 nmol/l – Nanomol pro Liter Blut – während der normale männliche Spiegel bei 10,5 nmol/l und höher liegt.
Nach Verabschiedung der genannten Regelung in 2011 durfte Caster Semenya nur nach Einnahme hormonsenkender Medikamente an Leichtathletikwettkämpfen teilnehmen. Dies erklärt, warum sie bei der Weltmeisterschaft 2009 in Berlin eine Zeit von 1:55,45 Minuten lief, 2012 bei der Olympiade in London nur noch von 1:57,23 und in 2016 bei der Olympiade in Rio de Janeiro – als die Regelung längst aufgehoben war – dann wieder 1:55,28. Bei ihr scheint ein höherer Testosteronspiegel somit ganz eindeutig leistungssteigernd zu sein.
Die Tatsache, dass gemäß der neuen Regelung hyperandrogene Frauen mit einem Männern entsprechenden Androgenspiegel ab 2011 nur nach Einnahme hormonsenkender Medikamente an Frauenwettkämpfen teilnehmen durften, lässt vermuten, dass Semenyas Testosteronspiegel unbehandelt über dem unteren Normwert von Männern (300 ng/dl; 10,5 nmol/l) liegt. Ihr natürlicher Testosteronspiegel wäre dann sogar deutlich mehr als dreimal so hoch wie der maximale natürliche Testosteronspiegel „normaler“ Frauen.
Der Healthline-Tabelle lässt sich auch entnehmen, dass die Testosteronspiegel von Jungen und Mädchen bis zur Pubertät identisch sind, ganz entsprechend unterscheiden sich die beiden Geschlechter bis zu diesem Alter nicht in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit. Erst ab der Pubertät setzen sich die Jungen/Männer (zumindest im Allgemeinen und insbesondere in der Spitze) von den Mädchen/Frauen ab. Der Leistungsunterschied ist entscheidend für die Begründung von separaten Wettbewerbsklassen für Frauen und Männer im Sport, wie auch in einem Artikel der Wissenschaftszeitschrift Nature angemerkt wird15:
Others, such as Collins, argue that androgen levels are the main reason for the difference in men and women's sporting performance, and so it makes sense to take these levels into account when deciding eligibility.
Anders gesagt: Der Leistungsunterschied von Frauen und Männern im Sport lässt sich maßgeblich auf ihre unterschiedlichen Testosteronspiegel (und andere hormonelle Unterschiede) zurückführen. Bei der Aufteilung des professionellen Leistungssports in Frauen- und Männersport handelt es sich somit primär um eine Schutzmaßnahme für Frauen und folglich – wie im Folgenden noch näher erläutert wird – in einem gewissen Sinne um eine Diskriminierung (beziehungsweise Benachteiligung) von Männern.
Bemerkenswert ist nun, dass in der öffentlichen Debatte über den Fall Caster Semenya oftmals ganz andere Dinge in den Vordergrund gerückt wurden. Beispielsweise wurde argumentiert, dass in Wirklichkeit Caster Semenya die Benachteiligte sei16, und das, obwohl sie allen anderen Gegnerinnen weit davon lief und schließlich die olympische Goldmedaille errang.
Zugleich wurde versucht, ihren Fall für diverse politische Interessen zu instrumentalisieren. Dazu gehörte die Spekulation, dass die diversen Vorbehalte über ihren Auftritt und der beiden anderen Medaillengewinnerinnen primär auf einem antiquierten beziehungsweise unerwünschten Weiblichkeitsbild beruhten17. Auch wurde daraus ein Rassismus-Fall (Weiß gegen Schwarz) konstruiert, der in Form eines Internet-Shitstorms insbesondere die britische (weiße) Sechste des Rennens – Lynsey Sharp – traf18, die ihrer Enttäuschung im Anschluss an das Rennen freien Lauf ließ, dabei jedoch stets nachdenklich und fair blieb. Ein entsprechendes (leicht fehlinterpretierbares) Foto, das sie und die Viertplatzierte Melissa Bishop (Kanada) in einer vermeintlich abwehrenden Haltung gegenüber der handreichenden Caster Semenya zeigt, ging um die Welt19 20 21.
Dabei ist die durch Caster Semenya heraufbeschworene Situation alles andere als neu. In der Leichtathletik wird auf eine lange Geschichte vergleichbarer Fälle zurückgeblickt, zu nennen sind unter anderem die polnisch-amerikanische Läuferin Stanisława Walasiewicz22 und die beiden russischen Schwestern Tamara23 und Irina Press24. Letztere dominierten in den 1960er Jahre ihre jeweiligen Disziplinen (Kugelstoßen und Diskuswerfen bei Tamara, Hürdenlauf und Fünfkampf bei Irina Press) fast nach Belieben. Nachdem im Jahr 1966 – insbesondere ihretwegen – verpflichtende Geschlechtstests für international startende Leistungssportlerinnen eingeführt worden waren, gaben sie ihre Sportkarrieren auf, was im Westen...