I.
Ein Heilverfahren, welches neu, außerordentlich und praktisch in seiner Anwendung durchaus revolutionär zu sein beansprucht, darf einiger Vorbemerkungen hinsichtlich seines Ursprungs und seiner Entwickelung nicht entbehren, um sich das Interesse des denkenden Lesers zu sichern. Die Methoden zur Erhaltung und Wiedergewinnung der Gesundheit sind ja zurzeit fast ebenso zahlreich wie die Menschen selbst, die irgendeine Maßregel zur Förderung ihrer Gesundheit und Pflege ihres Körpers für notwendig halten. „Etwas für seine Gesundheit tun“, das scheint die Hauptaufgabe und Qual des Lebens geworden zu sein.
Fast ins Ungeheure gewachsen ist die Literatur über die Fragen, was man essen, und was man nicht essen, was man tun, und was man lassen soll, sowie über die Arzneien und endlosen Heilmittel, die den Magen in eine wahre Apotheke verwandeln. Sollen wir alles glauben, was wir lesen, so müssen wir den Ort, an dem mir uns befinden, erst genau untersuchen, wenn wir ungefährdet atmen wollen, die lechzende Zunge darf erst gekühlt werden, nachdem das Mikroskop zu Rate gezogen worden ist; wir dürfen nicht essen, ohne die genaueste Analyse eines jeden einzelnen Bestandteiles unserer Nahrungsmittel gemacht, ohne genau festgestellt zu haben, wie viel Leim für die Knochen, Eisen für das Blut, Phosphor für das Gehirn, Stickstoff für die Muskeln nötig sind. Kurz, Tod und Verderben droht in der Luft, die wir atmen, in der Speise, die wir essen, in dem Wasser, das wir trinken, als wandelten wir an einem wahren Ort des Schreckens, wo aus tausend Verstecken die grauen Gespenster der Krankheit auf uns lauern. Wie viele würden in schierer Verzweiflung dahinsiechen, gäbe es nicht so viel über Wunderkuren selbst in unsern besten Zeitschriften zu lesen. Es ist ja die Hoffnung auf Besseres, die unser Leben erhält; man begeht erst Selbstmord, nachdem alle Hoffnung geschwunden. Selbst unsere medizinischen Zeitschriften enthalten Spalten über Spalten voll Anpreisungen neuer Heilmittel, deren Anwendung eine erstaunliche Leichtgläubigkeit voraussetzt. Und verargen wir es den Leuten nicht, wenn sie in Ermangelung vernünftiger physiologischer Maßnahmen sich an die Wundertaten in ihren Zeitungen klammern, um immer wieder Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht ist es auch gut für den Arzt, wenn er zu seinen Patienten mit dem Gefühl neuen Könnens, das er den Anzeigen über neue Heilmittel in seiner medizinischen Wochenschrift verdankt, treten kann. Sind sie nicht neue Hoffnungssterne fürs Volk sowohl als den Arzt? Ja, sollten wir nicht frohlocken, da die sich immer mehrenden Heilmittel die Zahl der neuentdeckten Krankheiten schon tausendfach übertreffen? Neue Krankheiten? Was ist da wesentlich Neues in der belegten Zunge, dem üblen Geruch, der hohen Temperatur, dem schnellen Puls, in Übelkeit, Schmerz, Appetitlosigkeit, wie es uns in fast jedem Krankenzimmer begegnet? Aber neue Spezialmittel tauchen täglich auf.
Das Heilverfahren, welches ich hier erörtern will, ist so neu, bedeutet eine derartige Umwälzung, dass es auf den ersten Eindruck hin stets den allerstärksten Widerspruch gefunden hat, und doch ist seine Verwendbarkeit eine so mannigfaltige, dass man stets zu ihm gegriffen hat, wo man es vernunftgemäß erprobt hatte. Man hat an dem Gedanken, der ihm zugrunde liegt, nichts auszusetzen vermocht, und wo es einmal angenommen wurde, hat es stets weitere Verbreitung gefunden.
Bevor ich die Entstehungs- und Entwickelungsgeschichte dieses neuen Heilverfahrens gebe, möchte ich einiges über meine Erfahrungen im Beruf vorausschicken, um meine Leser zu überzeugen, dass die von mir empfohlene Methode eine natürliche Entstehungsgeschichte hat, und nicht bloß Sache des Zufalls oder einer vorübergehenden Marotte ist.
Noch ehe ich das Studium der Medizin begonnen hatte, war es mir aufgefallen, dass die Zahl der guten Erfolge bei allen Behandlungsarten durchschnittlich ungefähr dieselbe war, mochte man die Krankheit mit einer Dosis zu bekämpfen trachten, die zu klein für mathematische Berechnungen war, oder sie mit Bomben und Granaten beschießen. Ich selbst war auf dem Lande in einer großen Familie aufgewachsen, wo man, da der nächste Arzt mehrere Meilen entfernt wohnte, alle Krankheiten, mit Ausnahme der allerschlimmsten, ohne jede ärztliche Hilfe einzig und allein mit verschiedenen Kräutertees kurierte; und so war es überall aus dem Lande der Brauch. Unter diesen Eindrücken begann ich das Studium der Medizin mit bedeutend geringerem Vertrauen in die Wirksamkeit der Medikamente, als die meisten Studierenden auf die Universität mitbringen, und es wurde durch die Professoren nicht gerade gestärkt.
Nachdem ich mein Studium an der Universität zu Michigan vollendet hatte und ein Semester als Assistenzarzt an dem Marinehospital zu Detroit tätig gewesen war, trat ich zu Beginn des Sherman'schen Feldzuges in eines der großen Feldhospitäler zu Chatanooga ein, wo ich etwa 80 Patienten vorfand, die eben frisch von der Schlacht bei Resezca, krank oder verwundet, hereingeschafft worden waren.
Meine Zulänglichkeit für einen so verantwortlichen Posten war wohl fragwürdiger Natur, und ich selbst überschätzte sie durchaus nicht. Ich ging an meine ernsten Pflichten ähnlich wie der gute alte Bunyan seine Kanzel bestieg, mit dem fast erdrückenden Gefühl, dass ich „der geringste aller Heiligen“ sei. Meine materia medica hatte ich in meiner Westentasche, meine kleine Bibliothek in etwas nebelhaftem Zustande im Kopfe.
Dass ich für meine hilflosen Kranken und Verwundeten nicht eine fast ebenso große Gefahr als ihr eigenes Leiden war, verdankte ich indessen gerade dem Umstande, dass mein Arzneivorrat so bescheiden war, und dass ich absolut keinen Stolz in Kenntnisse setzte, die mir noch zu keinem wahren Besitz geworden waren, dass ich dagegen genug Ehrgeiz auf ehrlichen Erfolg hatte, um mir Rat und Beistand einzuholen, wo und wie ich ihn finden konnte.
Es war für meinen Beruf von großem Vorteil, dass die Stabsärzte an diesem Lazarett, das über 2000 Feldbetten zählte, durchweg befähigte und erfahrene Männer waren, und dass ich den Dienst antrat, als der Feldzug eben begonnen hatte. Drei Monate dauerte das fürchterliche Donnern der Kanonen und das Knattern der Gewehre, so dass die durch Tod oder Genesung frei gewordenen Betten stets von neuem gefüllt wurden. Ganz besonders aber kam uns der Umstand zustatten, dass es strenge Regel war, in jedem einzelnen Falle eine Leichenschau vorzunehmen. Und deren gab es manchmal zwölf an einem einzigen Tage. Dazu wurde eine jede mit einer Gründlichkeit ausgeführt, wie ich sie selten in der Privatpraxis wahrgenommen habe.
Die Ergebnisse der Leichenschau, sowie der Umstand, dass verschiedene Behandlungsweisen für ein und dieselbe Krankheit angewandt wurden, machten den größten Eindruck auf mich. Ich bemerkte, dass, um welche Krankheit es sich auch handeln mochte, jeder Arzt seine eigenen Ansichten und Bestimmungen über Qualität, Quantität und Zwischenräume der Arzneien zur Anwendung bringen konnte, und doch die Sterblichkeit in den verschiedenen Abteilungen anscheinend dieselbe war.
Die bei den Sektionen eingestellten Untersuchungen förderten oft chronische Krankheiten zutage, die sich bei Lebzeiten der Patienten nicht geäußert und die dennoch den Tod unvermeidlich gemacht hatten. Es wurde mir bald zur freudigen Gewissheit, dass trotz meiner Unerfahrenheit die mir anvertrauten Kranken und Verwundeten ungefähr ebenso sicher in meinen Händen waren, wie die Patienten des erfahrensten Arztes unseres Lazaretts. Von Anfang an und während meines ganzen militärischen Dienstes genossen meine Schwerkranken die Vorteile aller erborgten Geschicklichkeit und Erfahrung, die ich auftreiben konnte. Die chirurgischen Arbeiten wurden sämtlich in Gegenwart der meisten Stabsärzte, von denen einige große Erfahrung hatten, vorgenommen. In damaliger Zeit spielte die Mikrobe noch keine Rolle in den Fragen über Tod und Leben! In allem übrigen konnte die Sorgfalt in der Behandlung der Wunden kaum übertroffen werden.
Was die arzneiliche Behandlung meiner Patienten betraf, so war sie unbefriedigend von Anfang an. Ich bin nach so vielen Jahren der Praxis zu der festen Überzeugung gekommen, dass mit Ausnahme der Fälle, in denen Schmerzen zu lindern waren, kein Patient durch meine Medikamente gebessert wurde, und in allen Todesfällen bestätigte die Leichenschau die Tatsache, dass selbst die weisesten Verordnungen nichts geändert hätten.
Ganz unschätzbar aber war meine Tätigkeit im Lazarett durch das Studium der Krankheiten, wie sie sich durch Symptome offenbaren. Ich habe später gefunden, dass ich im Krankenzimmer weit besseres als Dolmetscher der Krankheitssymptome, denn als Verschreiber von Medikamenten leiste.
Wie meine Erfahrung sich mehrte, so wuchs mein Glaube an die Natur, und da ich keine Übereinstimmung in Art, Größe und Zeit der Medikamente für gleiche Krankheiten finden konnte, nahm mein Glaube an solche als Heilmittel allmählich ab.
Nach anderthalb Jahren Militärdienstes eröffnete ich meine Praxis in Meadville im Herbst 1866. Unter den vielen Ärzten, die zu jener Zeit in der Stadt praktizierten, waren fähige und recht erfahrene Männer, die aber entweder in hehrem Glauben Arzneien verschrieben, die zu klein für jede Berechnung waren, oder in ebenso festem Glauben Kapseln verabreichten, die nur unter Würgen heruntergeschluckt werden konnten, oder wiederum es mit Milch und Whisky hielten und beides gewaltsam verabfolgten, wenn das Widerstreben auch noch so groß war.
Die meisten Krankheitsfälle, welche der Behandlung des Arztes anheimfallen, sind geringfügig und genesen bald, selbst unter dem widersinnigsten und qualvollsten Medizinieren; in Wirklichkeit trägt die Natur den Sieg...