Mai 2018 im Crucible Theatre in Sheffield. Das legendäre „The Crucible“, seit 1977 Austragungsort der Snookerweltmeisterschaft, gilt als Kathedrale des Snookersports. Jeder Spieler und jeder Fan bekommt eine Gänsehaut, wenn er an das Crucible denkt. Es ist ein mystischer, beinahe heiliger Ort, auf jeden Fall die spirituelle Heimat dieses Sports. Das Besondere: Die Zuschauerränge fallen in diesem Theater steil ab und reichen bis ganz dicht an die Spieltische heran – das schafft eine einzigartige Atmosphäre. Das Crucible Theatre bietet nur etwa 980 Plätze (ein skurriler Anachronismus, man könnte viel mehr Tickets verkaufen), aber in der Arena spürt man die Blicke und den Atem der Zuschauer geradezu körperlich. Hinzu kommt das Wissen um die Tradition und die Geschichte. Jeder weiß, dass im Crucible Karrieren gekrönt wurden und werden, aber auch zerbrechen können.
Die WM, der alljährliche Höhepunkt jeder Snookersaison, ist die Mutter aller Turniere, ein Zermürbungskampf. Der Wettbewerb dauert satte 17 Tage. Ein Spieler, der das Finale erreicht, hat zu dem Zeitpunkt (wenn er gesetzt war und sich vorher nicht noch qualifizieren musste) vier Spiele hinter sich, Spiele, die locker mal zehn Stunden und mehr dauern können. Er hat schon 53 Frames geholt. Und dann kommt der Hammer, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Sportarten, in denen die vorgegebene Spielzeit oder Anzahl der einzelnen Spielabschnitte bei allen Spielen gleich ist, wird beim Snooker die Schlagzahl im Finale nochmals deutlich erhöht. Im WM-Finale wird „best of 35“ gespielt, also maximal 35 Frames über maximal vier Sessions, verteilt auf zwei Tage. 18 siegreiche Frames trennen einen Finalisten also noch vom ersehnten Titel. Eine echte Marathonstrecke und eine enorme körperliche, aber vor allem mentale Herausforderung für die Spieler.
Doch zurück zum Mai 2018. Am Snookertisch: zwei Männer Anfang 40 mit leichtem Bauchansatz. Beim einen ist das schüttere Haar schon deutlich ergraut, beim anderen lässt die Stoppelfrisur das Grau der Haare erahnen. Beide gewandet in einen merkwürdig formalen Dress, der aus Stoffhose, Hemd, Weste, Fliege und blank polierten Straßenschuhen besteht – ihr Erscheinungsbild würde einen zufällig reinzappenden Fernsehzuschauer möglicherweise frappieren, so ungewöhnlich ist so etwas heutzutage. Dabei stehen sich hier zwei Giganten des Sportes gegenüber, zwei Veteranen der „goldenen Generation“, die sich schon als Junioren regelmäßig gemessen haben und die beide im selben Jahr, nämlich 1992, Profis wurden. 26 Jahre später hat der eine, John Higgins, vier WM-Titel gewonnen, der andere, Mark Williams, immerhin zwei – den letzten davon allerdings vor bereits 15 Jahren. Beide gelten als absolute Spitzenspieler und Meister ihres Fachs, aber während John Higgins sich relativ konstant an der Spitze hielt, verlief die Karriere von Mark Williams wesentlich holpriger mit vielen Auf und Abs: Zur WM 2017 konnte er sich noch nicht einmal qualifizieren und dachte ernsthaft darüber nach, seine Karriere zu beenden. Seiner Frau Joanne ist es zu verdanken, dass er damals sein Queue nicht an den Nagel hängte. Doch in der Saison 2017/18 erlebte er plötzlich einen zweiten Frühling, gewann zwei Ranking-Events, darunter das German Masters in Berlin.
Nun stehen sich diese zwei Snooker-Dinosaurier und lebenden Legenden in einem Traumfinale gegenüber. Um die technische Brillanz der beiden weiß man, wissen die Zuschauer seit vielen Jahren, aber in diesem WM-Finale wird sich zeigen, wer die größere mentale Stärke hat. Nur darauf kommt es in einer solchen Begegnung zwischen Topspielern auf Weltniveau letztlich an. Die Weichen sind gestellt für ein neuerliches Drama in der so dramenreichen Welt des Snooker.
Drei Stunden, 59 Minuten und 24 Sekunden effektiver Spielzeit später steht es 7:7, inklusive der Pausen sind das sechs Stunden höchster Konzentration und Anspannung. Das Finale hatte für Higgins denkbar schlecht begonnen, beim ersten Midsession Interval stand es 4:0 für Williams. Doch Higgins kämpft sich auf 7:7 heran, den letzten Frame hat er mit einem Break von 117 Punkten in Serie gewonnen (bereits sein drittes Century in diesem Spiel) und scheint nun endgültig auf Betriebstemperatur zu laufen. Er könnte jetzt, in Frame 15, zum ersten Mal in diesem Spiel in Führung gehen. Und was passiert? Higgins verschießt eine lange Rote als Einsteiger. Williams will eine nach menschlichem Ermessen unlochbare lange Rote sicher an der Bande ablegen, doch sie prallt von Grün ab und senkt sich als Fluke, also quasi aus Versehen, in die Ecktasche. Nach einem Snooker von Williams, einem Foul von Higgins und anschließend einer Safety von Williams liegt wieder eine lange Rote für Higgins da – und erneut verschießt er – diesmal meilenweit! Nun ist es geschehen: Für seinen Gegner bleibt ein einfacher Einsteiger liegen. Williams öffnet mit einem guten Stoß den Pulk der Roten und spielt das Break mit einer Clearance von 123 zu Ende, zum 8:7.
Higgins hatte über mehrere Frames fantastisch gespielt, um seinen Rückstand aus der ersten Session aufzuholen, doch nun wirkt er überraschend fahrig, unkonzentriert. Mark Williams gewinnt auch die letzten beiden Frames der Session und beendet den ersten Tag mit einer 10:7-Führung.
John Higgins weiß aber genau, dass ein solcher Rückstand noch keine Vorentscheidung sein muss. Ein Jahr zuvor, in seinem WM-Finale gegen Mark Selby, hatte er schon mit 10:4 vorne gelegen und den ersten Tag letztlich mit einer 10:7-Führung beendet. Am Ende aber war es nicht Higgins, sondern Selby, der mit 18:15 das Match und damit auch den Titel holte. Sollte sich die Geschichte nun mit umgekehrten Vorzeichen wiederholen? Eine echte Chance hat Higgins indes nur, wenn er optimal in den zweiten Tag startet. Aber genau das gelingt ihm nicht. Williams ist der konstantere Spieler und gewinnt die ersten vier Frames am Montagnachmittag; der Druck, der auf Higgins liegt, ist brutal. Mit 14:7 gehen die Spieler ins Midsession Interval der dritten Session, ein riesiger Vorsprung für Mark Williams, der lediglich noch vier Frames zum Sieg braucht. Mittlerweile sind bei dieser WM 16 ½ Tage gespielt. Anderthalb Tage, drei Sessions des WM-Finales.
John Higgins hockt im 21. Frame mit – je nach Interpretation – leerem bis leicht geschocktem Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl. Es droht die Höchststrafe: schon in drei Sessions so weit zurückzuliegen, dass die vierte Session komplett entfällt – eine Schande für jeden Spieler und umso mehr für einen viermaligen Weltmeister. Was geht in diesem Moment in ihm vor? Wie motiviert man sich in einer solchen Situation?
Das Match scheint gelaufen. Doch jetzt schlägt die Stunde von John Higgins, dem „Wizard of Wishaw“, der für seine Zähigkeit und Kämpferqualitäten bekannt ist.
Der erneute Wendepunkt kommt in Frame 22: Williams verschießt eine lange Rote. Higgins bekommt den Einsteiger, locht danach eine extrem schwierige Schwarze, die fast an der Bande liegt, mit viel Gefühl und Zuhilfenahme des Ecktascheneinlaufes mit Bravour ein. Viermal Rot, dreimal Schwarz. Anschließend verschießt er die Schwarze vom Spot und bringt damit Williams wieder ins Spiel. Dieser führt im Frame mit 29:25 – als ein Split schiefgeht und er die Stellung verliert. Er muss mit einer Safety aussteigen. Nun kommt Higgins mit einer fantastischen Safety, durch die er Williams sofort unter Druck setzt. Die Konsequenz: ein großartiger langer Einsteiger des Schotten. Eine unglaubliche Nervenstärke in dieser Situation, bei einem Stand von 14:7, also mit einem Fuß im Abgrund. Den Rest des Frames spielt Higgins locker runter und gewinnt auch die nächsten zwei Frames.
Was für eine Achterbahnfahrt der Emotionen! Den Zuschauern bietet sich ein Psychokrimi, wie ihn sich kein Hollywood-Drehbuchautor besser ausdenken könnte. Thomas Hein, mein Co-Kommentator, und ich sitzen mit feuchten Händen am Mikrofon. Alfred Hitchcock lässt grüßen.
John Higgins kämpft sich Schritt für Schritt, Frame für Frame zurück, schafft das 15:15. Der ganze schöne Vorsprung für Mark Williams ist dahin! Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt. Beide Familien, die Ehefrauen Jo und Denise, die Kinder (jeweils drei an der Zahl), sitzen im Publikum, werden von den Kameras immer wieder gesucht. Auch für sie ist die Veranstaltung ein Wechselbad der Gefühle, die Nervenanspannung ist ihren Gesichtern allzu gut abzulesen, sie können teilweise nicht mehr hinschauen. Die Kinder von Mark Williams waren alle noch nicht auf der Welt, als er seine ersten beiden WM-Titel holte. Natürlich will er ihnen hier etwas bieten, hofft, dass sie live miterleben können, wie ihr Vater den WM-Pokal hochhält.
In einer solchen Situation kann ein Spieler zerbrechen, wenn er den Glauben an sich verliert, sich zu hinterfragen beginnt. Nicht so Mark Williams. Der hat die nötige Gelassenheit, vor allem aber die psychische Stärke, gewinnt den 31. Frame klar mit zwei mittleren Breaks zu null, macht also das 16:15, und holt anschließend sogar mit einem Century Break das 17:15. Und plötzlich hat er wieder alle Trümpfe in der Hand. Das Momentum hat die Seite gewechselt und jeder hat das Gefühl, das war die Vorentscheidung. Ein Gefühl, das sich im 33. Frame noch verstärkt, als Williams in ein Break kommt, den Tisch relativ offen vor sich liegen hat – ein Bild, das er auf jeden Fall zum frameentscheidenden und damit auch matchentscheidenden Break nutzen kann. Ein Bild, das er schon zigmal vor sich gehabt, aus dem er schon so oft ein hohes Break gemacht hat.
Aber nicht hier und heute. Beim Stand von 63 Punkten muss er Pink spielen, eigentlich ein leichter Ball, doch in dieser Situation gibt es keine...