Kapitel 2
Mein Drei-Sekunden-Jetzt!-Gefühl
Ich habe es erlebt. Es gibt Situationen, da kann ein einziger Satz, ausgesprochen in wenigen Sekunden, einen magischen Moment auslösen – und danach ist nichts mehr, wie es war. Solche Augenblicke habe ich richtig körperlich gespürt, wie einen pfeilgenauen, aber nicht unangenehmen Stich. Irgendwo in der Mitte, vielleicht am ehesten in der Bauchgegend.
Tief in mir ist etwas berührt worden. Aber wovon? Und was passiert da, wenn mich so ein Ruck durchfährt? Wenn blitzartig ein Gedanke, ein Gefühl, eine Sehnsucht in mir hochkommt, mit unabsehbaren Folgen? Und ich plötzlich weiß, in diesem Augenblick verändert sich mein Leben. Wie kann das in wenigen Sekunden geschehen?
Was bedeutet eigentlich »Moment«, frage ich mich. Ich bin mir nicht sicher. Das Wort kommt aus dem Lateinischen, so viel ist klar. Für meinen Weg zu den magischen Momenten will ich es genauer wissen und schaue in die Übersetzung. Movere heißt bewegen, erregen, antreiben, veranlassen. Tatsächlich, da dämmert mir etwas aus der Schulzeit. Wie habe ich es gehasst, das Pauken von Vokabeln.
Egal, die Vergangenheit ist hier nicht gefragt. In diesem Kapitel geht es um die Gegenwart. Um das Gefühl: Jetzt, genau jetzt passiert etwas Großes, etwas Unfassbares! Es geht um Präsenz, ein Wort, das – wie der Moment – aus dem Lateinischen kommt und mit Gegenwart übersetzt wird. Präsent sein, gegenwärtig sein, lebendig und wach. Den Moment wahrnehmen. Darum geht es auch im Yoga. In Präsenz übe ich mich auf meiner Matte mehrmals in der Woche. Könnte ja sein, dass ich auch im »richtigen Leben« aufmerksamer geworden bin, offener für die Fülle der Möglichkeiten, jeden Tag, jeden Augenblick. Eine Empfindung, ein Satz, ein Eindruck – Momente eben, die dieses unvergleichliche »Jetzt!« in mir hervorrufen. Ich weiß nicht, wie lange so ein Moment wirklich dauert. Gefühlt nur Sekunden, vielleicht ist in mir schon alles vorbereitet, und ich nehme nur den sekundenkurzen Auslöser wahr. So könnte es allen gehen, die etwas so Wunderbares erleben, dass sie sich fühlen »wie vom Blitz getroffen«.
Der Moment, laut Lexikon der Beweger, Erreger, Antreiber, Veranlasser. Damit kann ich etwas anfangen. Das passt. Meine magischen Momente haben mich hellwach werden lassen. Als ob sie einmal durch mein gesamtes Nervensystem gefegt wären. Eine Bewegung, die mein Innenleben aufgewühlt hat. So wie man den Boden umgräbt im Frühjahr, damit die Pflanzen neue Nährstoffe bekommen und gedeihen. Sie haben mich weiter nach vorn getrieben. In neue Möglichkeiten, neue Chancen. Das alte Leben, das ich führte, haben diese magischen Momente in Frage gestellt. Urplötzlich und wie es scheint, unvorbereitet. Sie haben veranlasst, dass ich abbiege von meinem Weg, eine Kurve nehme, eine neue Richtung einschlage. Für meine Zukunft, nicht nur für diesen einen Augenblick.
Augenblick. So nennt man den Moment ja auch. Ein magischer Augenblick! Auch darin steckt Bewegung. Ein Lidschlag, eine blitzschnelle Augenbewegung, ein Reflex. Ein Augenblick, der zum Drehmoment meines Lebens wird. Eine Veränderung in Gang setzt, die ich nie für möglich gehalten hätte.
Bei einem Kongress in Berlin zum Thema »Meditation und Wissenschaft« lernte ich Marc Wittmann kennen. Er ist Psychologe, Humanbiologe und Schüler des renommierten Hirnforschers Ernst Pöppel. Er soll mich weiterbringen auf meiner Reise zu den magischen Momenten. Ich besuche den Wissenschaftler, wir treffen uns im »Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene« in Freiburg. Mein Koffer ist voller Fragen. Denn was mir noch aufgefallen ist, seit ich dem Moment auf der Spur bin: Jeder benutzt dieses Wort. Aber meinen alle auch dasselbe? »Ihr Taxi muss jeden Moment kommen«, entschuldigt sich die Dame von der Zentrale. »Moment mal!«, brumme ich den Fahrgast an, der im Zug hinter mir drängelt. Und im Yoga werde ich angeleitet: »Versuche, ganz im Moment zu sein.« Ich vermute, es geht immer um Zeit. Auch um das Gefühl für Zeit. Ist ein Moment die kleinste Größe, die wir von der vergehenden Zeit wahrnehmen können – und gleichzeitig die stärkste Kraftquelle, um das Leben voll und ganz zu spüren?
Marc Wittmann lädt mich erstmal in ein nahe gelegenes Cafe ein. Kurz verschnaufen, Espresso trinken, so viel Zeit muss sein vor dem Gespräch. Es sieht so aus, als ob er weiß, worauf es ankommt. Auf die Zeit eben.
»Was ist das genau, ein Moment?«, will ich wissen.
»Wie lange dauert das Erlebnis Gegenwart, ist das Ihre Frage?«, kommt die Antwort. Ich ahne gleich, hier habe ich mir viel vorgenommen. Hoffentlich nicht zu viel. Die Materie könnte vertrackter sein, als ich dachte. Ich will es trotzdem wagen und versuchen, aus dem Tempel der Wissenschaft etwas Verständliches über den magischen Moment mitzunehmen.
»Das Erlebnis Gegenwart.« Das höre ich zum ersten Mal, und es klingt lang und gewichtig. Auf jeden Fall nach mehr als nur nach ein paar Sekunden. Überhaupt, was ist schon eine Sekunde, wenn man nicht gerade an Skirennen oder 100-Meter-Staffeln denkt. Sie ist doch im Handumdrehen verschwunden, flüchtig, kaum spürbar und wieder weg. »Würden Sie meiner Frau bitte die Waschräume zeigen?« In Sekunden ausgesprochen und vergessen, normalerweise. Nur: Dieser magische Moment, dieses Erlebnis Gegenwart, dieser eine Satz hat mein Leben aus den Angeln gehoben.
Das Gehirn schnürt die Momente zu kleinen Zeitpaketen zusammen
In Freiburg erfahre ich: Der Moment ist keine aus der Luft gegriffene Größe. Er hat eine exakt gemessene Dauer. Genau drei Sekunden zählen die Wissenschaftler, dann ist das Erlebnis Gegenwart vorbei. Für die Forschung zumindest. »Drei Sekunden können wir als zusammenhängendes Ganzes verarbeiten. Mehr nicht«, sagt Marc Wittmann. Eindrücke, Erfahrungen, Überraschungen, Informationen, alles, was von außen kommt, wird vom Gehirn in überschaubare Einheiten zerlegt, in kleine Zeitpakete gepackt von zwei, höchstens drei Sekunden. In so einem winzigen Paket kommt zusammen, was unser Gefühl von »Jetzt!« ausmacht. Interessant. Der magische Moment verwandelt sich im Besprechungszimmer des Freiburger Instituts in ein zeitlich begrenztes Drei-Sekunden-Erlebnis.
»Wir haben untersucht, wie langsam ein Metronom schlagen kann, damit das Gehirn noch einen Takt erkennt. Einen Abstand von drei Sekunden kann es gerade noch als Einheit begreifen, dann ist Schluss«, so Wittmann. Sind die Abstände zwischen den Schlägen länger, stelle das Gehirn keinen Zusammenhang mehr her. Die Taktung von drei Sekunden sei in jedem von uns genetisch verankert. Daher werde sie auch »Atemzug der Seele« genannt, erklärt der Wissenschaftler. Denn sogar der Atem habe genau diesen Rhythmus. Eine normale Atembewegung, in der wir einatmen und ausatmen, hat, so erfahre ich, die Dauer eines gefühlten Momentes. Drei Sekunden eben.
Atemzug der Seele. Das Bild gefällt mir. Vielleicht atmet die Seele ja auf, oder besser: durch. Einen magischen Moment lang. Einen Moment, in dem sie sich öffnet und berührt wird. Von einer Erfahrung, einem Eindruck, einem anderen Menschen. In einer Stimmung, in der wir mit ganzer Seele dabei sind, mit uns selbst in Deckung. Wo sich alles wie eine Gewissheit anfühlt, die vom Außen ins Innen fließt und umgekehrt. Ja! Jetzt! Das ist es! Ein Augenblick der Harmonie und zugleich der Bewegung. In einem magischen Moment ist alles stimmig und verbunden, denke ich. Wie im Yoga. Das bedeutet übersetzt ja auch: Verbindung. Die Verbindung von Atem und innerem Gleichgewicht. Den Geist, die Hirnströme beruhigen durch bewusstes Atmen. In der Meditation, im Yoga. Dem Atem lauschen und Körper und Seele ins Gleichgewicht bringen. Den Körper wahrnehmen, die Atmung, die feinen Zwischentöne der Seele. Mal gelingt mir die Konzentration auf den Atem, und ich werde tatsächlich ruhiger. Mal halte ich das Lauschen nach innen kaum aus und bin noch nervöser als vorher. Die Vorstellung, meinen eigenen Atem wie rauschende Wellen am Meeresstrand wahrzunehmen, hat zwar bis jetzt noch keinen magischen Moment hervorgezaubert. Aber vielleicht meine Seele befreit. In drei Sekunden. Mit einem Atemzug. Durch das Erlebnis Gegenwart. Dieses Jetzt! Jetzt! Jetzt!
Ich stelle mir vor, wie das Gehirn im Drei-Sekunden-Takt vorwärtsspringt und ein Erlebnis Gegenwart nach dem anderen verarbeitet. Eine kurze Begegnung, eine grüne oder rote Ampel, der Gesang einer Amsel: Alles, was ich wahrnehme, die ganze Flut von Informationen, verwerte ich ja in kleinsten Portionen. Winzige Bausteine, die den Lauf der Zeit bilden. Ein Zeitpaket reiht sich an das nächste, ein Moment an den folgenden, unmerklich getrennt in kleinste Abschnitte und doch verbunden, so entsteht der Fluss der Zeit. Mir wird fast schwindelig, wenn ich mir vorstelle, wie viele gebündelte drei Sekunden sich da über Jahre angesammelt haben. Und wie viele auch wieder aussortiert und vergessen wurden. Denn alles, was gerade noch Gegenwart zu sein scheint, ist ja in den nächsten drei Sekunden, im nächsten Moment schon wieder Vergangenheit!
Aber halt, nicht meine magischen Momente! Die sind immer Gegenwart. Meine fünf einzigartigen Drei-Sekunden-Pakete, die unter Milliarden von Momenten, die ich bereits erlebt haben muss, deutlich herausragen. Wie meterhohe Aussichtstürme auf meiner Lebensstrecke, von der Sonne wie magisch beschienen und voll mit intensivem Erleben. Solche Augenblicke und alles, was sich aus ihnen entwickelte, behalte ich in Erinnerung. Auch wenn sie zeitweise verschüttet waren: Auf meinem Sofa habe ich sie wieder an die Oberfläche geholt. Zum Beispiel das Erlebnis Gegenwart, die drei...