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Studenteneltern
Schulbrot mit Schinken, Käse und Marmelade
Als ich Jan zum ersten Mal begegne, trägt er einen Zylinder aus schwarzrotem Samt, darunter lange, apfelgrün gefärbte Haare, um die Schultern ein zu großes Jackett. Vornehm verlottert sieht er aus, das Gesicht wie ein Harlekin, schmale Augen, breiter Mund. Wir sind 14. Wir sind Klassenkameraden und nicht ein bisschen ineinander verliebt. Hätte mir in diesem Sommer jemand erzählt, dass er der Vater meiner Kinder würde, ich wäre sicher wütend geworden. Wir haben kaum etwas miteinander zu tun. Ich bin neu in der Klasse und beobachte, wie er jede Regel hinterfragt und die Lehrer provoziert. Er ist fröhlich dabei, will nicht stören, sondern sich auseinandersetzen mit den Menschen, die ihn umgeben. Ihre Verbindlichkeit fordern. Du kriechst in sie hinein, werfe ich ihm später einmal vor, und Jan lächelt nur, er ist ein atemloser Geschichtensammler und -erzähler. Ein Clown auf dünnem Seil, der selten Hausaufgaben macht, weil so viel geschieht, was ihn davon abhält. Mädchen, die Gedichte schreiben. Angeln im Fluss. Rennradfahren. Bauer Walter. Und irgendwann ich.
Jan bietet mir etwas von seinem Schulbrot an. Sein Vater hat es gebacken. Es ist belegt mit Schinken, Käse und Marmelade, eine unerhörte Mischung, wie ich finde. In den folgenden fünf Jahren teilt Jan sein Schulbrot mit mir, wenn ich ihn darum bitte. Das mache ich jeden Tag. Manchmal besuchen wir uns. Wir kennen unsere Familien und ihre Gewohnheiten, wissen, mit wem der andere gerne zusammen ist, welche Bücher er liest, welche Dielen knarzen. In der 12. Klasse küssen wir uns. Wir haben zusammen Theater gespielt, haben Zeit vertrödelt und Schokolade gegessen, und als ich ihn frage, ob er nicht mit zu mir kommen möchte, sagt Jan Ja. Das habe ich schon oft gefragt, aber dieses Mal ist es anders, als würden wir die Liebe proben. Ich habe keine Idee, wie mein Freund aussehen sollte, aber so wie Jan bestimmt nicht. Und möchte trotzdem in seiner Nähe sein. Er besucht mich in Paris, wo ich nach dem Abitur als Au-pair arbeite. Wir werden ein Paar. Zwei Jahre später bin ich schwanger.
Das ist nicht geplant und doch gewollt. Keinen Moment denken wir über eine Abtreibung nach. Ich erinnere mich an unsere Freude, aber auch das Gefühl der Untiefe. Wir erwarten etwas, für das wir lebenslang Verantwortung übernehmen müssen. Wir sind 21 und rufen unsere Eltern an. Sie freuen sich vorsichtig. Wie, fragen sie, stellen wir uns unsere Zukunft vor, also wie genau?
Fünf Monate habe ich als Au-pair in Paris gearbeitet, sechs Monate in Bristol, England, wo Jan seinen Zivildienst gemacht hat. Jetzt wohnen wir zusammen in Bayreuth. Hier studiere ich Theaterwissenschaft, drittes Semester, in sieben Monaten ist meine Zwischenprüfung. Ich weiß, dass ich sie bestehen muss, dass ich sie nicht nachholen kann, stillend, mit einem Säugling im Arm. Jan jobbt. Er verlegt Pflastersteine, pflanzt Sträucher und wartet auf einen Medizinstudienplatz irgendwo in Deutschland. Wir sind unfertig, denke ich, wir werden uns beweisen müssen.
Ich bekomme ein Baby, das so groß ist wie Jans Fuß, und beantrage Sozialhilfe
Als Studentin kann ich für mich selbst aufkommen, nicht aber zusätzlich für ein Kind. Auch Jan verdient nicht viel. Der Staat wird uns unterstützen, erfahre ich von einer Freundin, die beruflich mit Sozialhilfeempfängern zu tun hat. Offiziell beraten lassen wir uns nicht, weder von einer studentischen Stelle noch von einem Wohlfahrtsverband. Ich erinnere mich nicht, ob es an der Universität ein entsprechendes Angebot gegeben hätte. Keine meiner Kommilitoninnen ist schwanger, in meinem Umfeld ist niemand, an dem ich mich orientieren kann. Meine Freundin rät mir, mich beim Sozialamt zu melden und eine Erstausstattung für das Baby zu beantragen. Sie schickt uns in die Spendenabteilung der Caritas. Wir brauchen einen Kinderwagen, eine Wickelkommode. Aber das, was dort rumsteht, gefällt mir nicht. Ich möchte meiner Vorfreude nachgehen, durch Läden streifen und das Nötige für mein Kind selbst aussuchen – nur können wir uns das nicht leisten.
Am Ende helfen uns unsere Eltern und überweisen Geld. Auch in den folgenden Jahren. Keine großen Summen. Es sind Beträge, die einen Ausflug möglich machen, einen neuen Regenmantel, Schuhe. Vor der Geburt gehe ich regelmäßig zum Arzt, nach der Geburt zum Sozialamt. In den ersten Monaten als Familie leben wir von Hartz IV, das noch Sozialhilfe heißt. Zwischen staatlichen Grünpflanzen rechtfertige ich mich für unsere Situation, lege den Sachbearbeitern Kontoauszüge vor, beweise, dass wir nichts haben. Wir stecken im Armutsraster.
Unsere Not verunsichert und beschämt mich. Ich will sie nicht zeigen, nicht auf dem Amt, nicht vor Freunden oder später den befreundeten Eltern. Unsere junge Familie ist ein finanzielles Desaster, dabei fühlen wir uns reich. Uns fehlt nichts, nichts Grundsätzliches zumindest. Freiheit etwa. Aufregende Jobs, Vormittage im Café, Wochenendtrips oder Monate in Indien. Die Zeit, die wir mit uns selbst verbracht haben, ist überschaubar. Noch sind wir an nichts gewöhnt. Wir haben keinen Beruf, sind nicht an einen Ort gebunden und nicht gezwungen, uns von Lebensträumen zu verabschieden. Wir haben sie noch nicht geträumt.
Im Sommer 2002 bestehe ich die Zwischenprüfung. Unter Tausenden jungen Frauen bin ich die einzige Schwangere, die über den Campus der Bayreuther Universität läuft. Ob keine von ihnen unbeabsichtigt schwanger wird? Oder treiben sie ab? Ist es ein Zeichen mangelnden Ehrgeizes, dass ich das Kind bekomme und mein Studium unterbreche? Eigentlich zweifle ich nicht an meiner Entscheidung. Sie fühlt sich richtig an. Sie macht mich nur einsam. Eine Professorin nimmt mich zur Seite. Sagt, wie schade sie es fände, wenn ich als Mutter zu Hause bliebe und das Studium nicht beende. Ihre Worte überraschen mich. Ihre Sorgen sind nicht meine. Dass ich weiterstudieren werde, scheint mir selbstverständlich. Mache ich mir Illusionen?
Sechs Wochen später wird unsere Tochter Martha geboren. Während das Jahrhunderthochwasser der Elbe Sachsen, Bayern und Brandenburg überschwemmt und Deutschland in den Ausnahmezustand versetzt, versuche ich zu stillen und zu schlafen. Mutter zu sein. Jan und ich teilen uns die Aufgaben. Wir sind gleichberechtigt. Freiheiten müssen nicht ausgehandelt werden, wir sind so frei wie möglich. Das Leben dreht sich nur mehr um unsere neugeborene Tochter. Wir beugen uns über unser Baby, das in den ersten Tagen kaum größer ist als Jans Fuß. Wir staunen und fühlen uns reich. Der Schlafentzug zeichnet die Tage weich. Freunde und Kommilitonen besuchen uns, keiner von ihnen hat Kinder. Wir sind die Ersten und werden bewundert, für mutig befunden, schön, das auch. Ich laufe mit Martha auf dem Arm durch die Straßen, kein Schritt mehr ohne sie. Und trotzdem habe ich nicht das Gefühl, mein Selbstbestimmungsrecht verloren zu haben, weil ich noch gar nicht weiß, wie das geht: mich selbst bestimmen. So wie ich die Pflichtseminare an der Uni besucht habe, kümmere ich mich jetzt um dieses Kind, das uns geschenkt wurde. Ohne es zu merken, übernehme ich Verantwortung für uns drei. Es geht nicht mehr um mich, sondern um uns.
Wir sind gleichberechtigt, aber das ist weder Jan noch mir bewusst. Es scheint mir selbstverständlich, dass wir unser Kind zusammen großziehen. Wir stehen voreinander mit ähnlichen Voraussetzungen, warum also sollten wir unterschiedliche Rechte und Pflichten haben? Unsere Rollen sind kaum festgelegt. Wir arbeiten uns nicht an Stereotypen ab, kämpfen nicht mit Geschlechterklischees, weil wir bisher kaum welchen begegnet sind. Wir müssen nichts gegeneinander verteidigen. Ich kann mich nicht erinnern, um ausreichend Schlaf gestritten zu haben, oder darum, im Alltag unterstützt zu werden.
Dass wir gleichberechtigt sind, begreife ich, als wir uns 14 Jahre später trennen und ich Freundinnen und Freunde beobachte, die kleine Kinder haben. Sie diskutieren. Kämpfen um Freiraum. Ob sie halbtags arbeiten oder bis abends um sieben – jede ihrer Lösungen haben sie miteinander besprochen. Sie haben sich für einen Lebensentwurf entschieden. Etwas, das Jan und ich nie gemacht haben, so als hätte sich unsere Familie einfach ergeben.
Erst nach mehreren Monaten erkenne ich, dass ich als junge Mutter dennoch auf etwas verzichte, auf etwas Unwiderrufliches: Ich werde nie mehr allein sein in dieser Welt. Kein Mädchen mehr sein.
Jan kann endlich studieren, und ich lerne Regina kennen
Wir verlassen Bayreuth und ziehen zur Untermiete nach Berlin. Hier leben viele unserer Freunde, wir wollen in ihrer Nähe sein. Martha ist ein halbes Jahr alt. Jan arbeitet als Fahrradkurier, schließlich als Altenpfleger. Er besucht einsame Menschen in Wohnungen mit zu vielen Räumen, die seit dem zweiten Weltkrieg nicht verändert wurden. Dunkle Vorhänge. Muffige Teppiche. Schwere Möbel. Erlebtes, das nicht erzählt werden darf, dafür reichen fünfzehn Minuten nicht, länger darf Jan nicht bleiben. Müde kehrt er vom Schichtdienst heim, müde bin ich von meinen Mutterschichten zu Hause. In diesen Monaten habe ich das Gefühl, sehr viel sei vorbei. Durchschlafen, lieben, begehren, übermütig sein. Die Tage sind eine Melange aus Mahlzeiten, wickeln, spazieren gehen.
Ich lerne Mütter kennen, mit denen ich durch Ost-Berlin laufe, in Stillcafés sitze, mich über Alltagsdetails austausche, die mich beschäftigen. Sie beschäftigen mich wirklich. Ich vermisse keine Gespräche über Theaterinszenierungen oder Romane – und doch wünsche ich mir auf etwas zurückgreifen zu können. Einen Beruf vielleicht, eine Identität, die nur mir, nicht auch dem Kind...