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Kapitel 1
Der neue Weg zum Sieg
Ein Fußballwunder in der Provinz
Ich kam an einem jener Tage nach Hoffenheim, als der Trainingsplatz neben der Tankstelle am Ortseingang wieder mal eine internationale Pilgerstätte war. Vor dem Pressecontainer standen Journalisten aus Bosnien, die mit wackeligen Videokameras jeden Schritt ihres Landsmanns Vedad Ibiševi´c dokumentierten, der so viele Tore zur Hoffenheimer Sensation beigesteuert hatte. Drinnen machten sich Reporter aus Belgien und Frankreich Notizen, weil ihnen Assistenztrainer Peter Zeidler alles in fließendem Französisch erklären konnte. Auf dem Tisch lag ein dicker Ordner mit Zeitungsausschnitten. Die New York Times,der Observer aus London oder die italienische Gazzetta dello Sport waren schon da gewesen, und selbst japanische Zeitungen hatten über das Fußballwunder aus Deutschland geschrieben.
Nirgendwo auf der Welt konnte man sich in diesen Wochen im November 2008 dem Reiz der Geschichte vom Klub aus dem Dorf mit gut dreitausend Einwohnern entziehen, der dank eines schwerreichen Unternehmers, der als Jugendlicher selbst in diesem Verein gespielt hatte, in die höchste Spielklasse aufgestiegen war. Das allein wäre schon verblüffend genug gewesen, aber die TSG 1899 Hoffenheim spielte in ihrer ersten Bundesligasaison auch noch so mitreißend, dass sie am Ende der Hinserie den ersten Platz belegte. So etwas hatte es in Deutschland noch nie gegeben.
Trotzdem hatten der rasante Aufstieg des Klubs und sein Mäzen gemischte Reaktionen hervorgerufen. Gegnerische Fans hatten Dietmar Hopp teilweise heftig beleidigt. Sie warfen dem milliardenschweren Unternehmer vor, durch gewaltige Investitionen Hoffenheim einfach in die Bundesliga gekauft zu haben. Das war nicht ganz von der Hand zu weisen, denn vom langsamen Aufbau mit Nachwuchsspielern aus der Region war man in Hoffenheim irgendwann abgekommen und hatte viel Geld in junge Talente aus der ganzen Welt investiert. Statt aus Heidelberg oder Mannheim stammten sie nun aus Brasilien, Nigeria oder Frankreich. Doch mit den Siegen und den teilweise mitreißenden Auftritten waren die Beschwerden leiser geworden, weil die Mannschaft deutlich besser spielte, als es der Personaletat vorgegeben hätte. Dem Team von Trainer Ralf Rangnick gelang, was in der Finanzwelt Outperformance oder auch Overperformance genannt wird. Es war besser als der Markt, in diesem Fall als die Konkurrenz in der Bundesliga. Tabellenführer Hoffenheim ließ eine Halbserie lang, in der alles passte, namhafte Klubs wie den FC Bayern, Schalke 04, den Hamburger SV oder Werder Bremen hinter sich, die deutlich mehr für Spieler ausgaben. In der Wahrnehmung des Publikums wurden die anfangs skeptisch beobachteten Hoffenheimer zu einem David, der sich mit besonderer Raffinesse gegen die Goliaths der Branche durchsetzte.
In aller Welt lieben Fußballfans Geschichten von erfolgreichen Underdogs. Manchmal beschränken sich die Legenden auf einzelne Spiele, wie den deutschen Finalsieg bei der Weltmeisterschaft 1954 gegen die zuvor über vier Jahre unbesiegten Ungarn. Mal erzählen sie vom sensationellen Ausgang internationaler Turniere, wie dem Gewinn der Europameisterschaft 1992 durch Dänemark, die als Nachrücker quasi ohne Vorbereitung antraten. Zwölf Jahre später konnte der große Außenseiter Griechenland den Titel gewinnen, obwohl damit niemand gerechnet hatte.
Einzelne Spiele oder auch der Verlauf von Turnieren können maßgeblich vom Glück beeinflusst sein. Wenn Phänomene jedoch eine längere Halbwertszeit haben, reicht Zufall als Erklärung nicht mehr aus. Dann stellen sich die Fragen grundsätzlicher. Warum haben die Niederlande seit vier Jahrzehnten fast ununterbrochen eine hervorragende Fußball-Nationalmannschaft, obwohl das Land nur 16 Millionen Menschen hat, während das der traditionsreichen Fußballnation Rumänien mit fünf Millionen Einwohnern mehr nur hin und wieder gelingt? Wie hat es Norwegen in den neunziger Jahren bis auf Platz zwei der FIFA – Weltrangliste geschafft, obwohl dort sogar nur fünf Millionen Menschen unter klimatischen Bedingungen leben, die oft auch zum Fußballspielen nicht gut sind?
Im Vereinsfußball gibt es ebenfalls immer wieder Klubs, die ihre Möglichkeiten weit übertreffen. Diese werden eigentlich von der finanziellen Ausstattung bestimmt, von der Größe des Stadions und wie viele Zuschauer regelmäßig kommen, von der Wirtschaftskraft seiner Region und wie attraktiv ein Verein für Sponsoren ist. Mancherorts ist die Konkurrenz anderer Fußballklubs in der Nähe stark oder die anderer Sportarten. Manche Mäzene oder Vereinseigentümer gleichen bestehende Nachteile aus. Doch nimmt man all diese Faktoren zusammen, ergibt sich ein Rahmen – den einige Klubs regelmäßig sprengen.
Der AJ Auxerre schaffte es, sich mit dem knorrigen Trainer Guy Roux über fast drei Jahrzehnte in der französischen höchsten Spielklasse zu halten. Der Klub erreichte zwischendurch sogar die internationalen Wettbewerbe, trotz eines Standortes von nur 40000 Einwohnern, weit abgelegen in der französischen Provinz. Der FC Wimbledon marschierte in den achtziger Jahren mit seiner Crazy Gang verrückter Spieler aus dem Amateurfußball in die erste Liga durch. Er hielt sich dort 14 Jahre und gewann sogar den englischen Pokal, dabei hatte der Klub aus dem Südwesten Londons die schlechtesten Zuschauerzahlen der Liga. Wie konnte ein Oberstudienrat für Sport, Geschichte und Gemeinschaftskunde namens Volker Finke den verschlafenen Zweitligisten SC Freiburg in die Bundesliga führen und dort etablieren? Warum tauchte Rosenborg Trondheim regelmäßig in der Champions League auf, und was macht man eigentlich im spanischen Städtchen Villarreal richtig, wo es der kleine FC ebenfalls mehrfach in die Championsleague schaffte.
All diese Klubs glichen Konkurrenznachteile durch besondere Strategien aus, die manchmal bewusst gewählt waren und manchmal nur intuitiv. Auch bei meinem Besuch in Hoffenheim standen Beobachter am Trainingsplatz, die herausfinden wollten, ob es dort ebenfalls solche Strategien gab. Die Gruppe der finnischen Trainer und jene aus Kroatien wollten Erkenntnisse für die Arbeit mit ihren eigenen Mannschaften nutzen. Mit jedem Sieg hatten mehr Trainer angefragt, ob sie in Hoffenheim hospitieren dürften. Es hatte intern sogar kontroverse Diskussionen darüber gegeben, wie weit sie ihre Türen für Kollegen öffnen wollten. Rangnick war eher entspannt in dieser Frage gewesen, doch andere wollten nicht so gerne das preisgeben, was sie für ihre Betriebsgeheimnisse hielten.
So freute es mich, dass mir Manager Jan Schindelmeiser ausführlich die Arbeitsweise des Klubs erklärte und die Pläne für das neue Trainingszentrum zeigte, das damals noch in Bau war und inzwischen eines der modernsten der Welt ist. Außerdem machte Schindelmeiser eine kleine Führung durch das bestehende Gebäude. Als er dort Tür um Tür öffnete, wurde das zu einer Vorführung dessen, was Fußball heute auch ausmacht. Zehn Jahre zuvor wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass im Kraftraum eines Bundesligisten ein Athletiktrainer wie Rainer Schrey sich nicht nur inmitten modernster Trainingsgeräte befindet, sondern mit zwei Ingenieuren auch noch die Programmierung einer sogenannten twall überarbeitet. An dieser Wand mit wechselnden Lichtern sollen die Profis ihre Reaktionsfähigkeit verbessern. Eine Etage tiefer saßen zwei junge Männer bei der Videoanalyse des kommenden Gegners, während ein Videobeamer Spielszenen an die Wand projizierte. Und im Keller, bei den Physiotherapeuten, war gerade Dr. Mosetter vom Bodensee zu Gast. Während der Spezialist für Myoreflextherapie am Hinterkopf von Verteidiger Andreas Beck hantierte, erklärte er, dass viele Fußballprofis allein durch eine falsche Körperhaltung an Schnelligkeit verlieren und zugleich verletzungsanfälliger werden.
Ein weiterer Betreuer in Hoffenheim war der Psychologe Hans-Dieter Hermann, der bei der Weltmeisterschaft 2006 zum Team von Jürgen Klinsmann gehört hatte und inzwischen einen Lehrstuhl für Sportpsychologie hat. Bernhard Peters, der ehemalige Nationaltrainer im Hockey, war offiziell Leiter der Nachwuchsabteilung. Für Rangnick war er aber auch – so erzählte der Trainer mir später – sein Spezialist für das Spiel mit dem Ball. Gemeinsam hatten sie Trainingsformen diskutiert, mit denen man Rangnicks Idee von Angriffsfußball am besten vermitteln konnte – und die von den Hospitanten aus ganz Europa nun aufmerksam protokolliert wurden. Es gab mit Helmut Groß auch einen Experten für das Spiel gegen den Ball, der eine ungewöhnliche Vorbildung mitbrachte. Inzwischen über sechzig Jahre alt, war er früher Ingenieur im Brückenbau und kannte Rangnick schon lange. Er hatte den damals jungen Trainer bereits vor zwanzig Jahren davon überzeugt, dass die Ära der Manndeckung vorbei sei.
Als ich auf Rangnick wartete, setzte sich Assistenztrainer Zeidler zu mir, und wir sprachen darüber, was die Arbeit in Hoffenheim ausmachte. Man merkte, dass die Erfolge nicht nur Spieler, sondern auch die Mitarbeiter auf einer Welle der Euphorie trugen. »Manchmal müssen wir aufpassen, dass wir nicht glauben, den Fußball neu erfunden zu haben«, sagte Zeidler. Aber es machte nicht den Eindruck, als ob sie in Hoffenheim den Boden unter den Füßen verloren hätten. Das Trainingszentrum wirkte eher wie eine unter Volldampf...