II.
Gotteslob unter
der Wüstensonne
Im Jahr 366 steht in Rom wieder einmal eine Bischofswahl an. Zwei Männer, Damasus und Ursinus, streiten sich um den Posten. Eine Minderheit setzt sich für den Diakon Ursinus ein und lässt ihn in der Basilika Santa Maria in Trastevere zum Bischof weihen. Die Mehrheit stellt sich hinter den populären Diakon Damasus. Um seinen Anspruch auf den Bischofsstuhl von Rom durchzusetzen, heuert Damasus einen Schlägertrupp an, der unter den Anhängern des Ursinus ein drei Tage währendes Massaker anrichtet. Am ersten Oktober besetzt Damasus mit seiner Meute die Lateranbasilika und lässt sich dort zum Bischof von Rom weihen. Anschließend veranlasst er den Stadtpräfekten, Ursinus zu verbannen. Es ist dies das erste Mal in der Kirchengeschichte, dass ein Bischof von Rom die weltliche Obrigkeit für seine persönlichen Interessen in Anspruch nimmt. Die Unruhen halten bis zum 26. Oktober an. An diesem Tag stürmen die Leute des Damasus die Basilika Santa Maria in Trastevere, wo die Anhänger des Ursinus Zuflucht gesucht haben. Bilanz dieser gewaltsamen Auseinandersetzung: 127 Tote und der Verlust der Glaubwürdigkeit.
Diese Dinge gehen sogar dem freigeistigen Historiker Ammianus Marcellinus (um 330 – um 395) ein bisschen zu weit: „Sie brannten in unmenschlicher Gier darauf, sich des Bischofssitzes zu bemächtigen, und bekämpften sich aufs Erbittertste. Ihre Anhänger lieferten sich regelrechte Straßenschlachten mit Toten und Verwundeten.“5 Irgendwie versteht der Chronist zwar, dass, wer in der Reichshauptstadt Bischof werden will, ein gewisses Durchsetzungsvermögen benötigt, um dieses Ziel zu erreichen. Aber dann kommt’s, knüppeldick: „Haben sie es erreicht, dann gehen sie einer sicheren Zukunft entgegen. Sie werden reich durch die Spenden adeliger Matronen.“
Tatsächlich versteht sich Damasus meisterhaft darauf, wohlhabende Damen und vermögende Witwen in kleinen feinen Zirkeln um sich zu scharen, die ihm, dem geselligen und gern gesehenen Gastgeber, da ein Erbe überschreiben, dort eine Spende zukommen lassen und hier ein Geschenk übergeben, in der Hoffnung, dass vom Glanz dieses anerkannten Gesellschaftslöwen ein kleiner Lichtstrahl auch auf sie fallen möge.
Ammianus Marcellinus weiß ferner zu berichten, dass auch andere höhergestellte Kleriker den Witwen jeden Alters gern zur Seite stehen, insbesondere wenn es gilt, ein Testament aufzusetzen. Dass es sich dabei keineswegs um üble Nachrede handelt, geht aus einem Erlass des Kaisers Valentinianus aus dem Jahr 370 hervor, der dem Klerus den Zutritt zu den Häusern der Witwen strikt untersagte. Aber nicht nur Erbschleicherei, sondern auch der prunkvolle Lebensstil des römischen Bischofs und seiner Umgebung ist vielen ein Dorn im Auge. Ammianus Marcellinus wundert sich, dass diese Leute jetzt „nur noch im Wagen sitzend in der Öffentlichkeit erscheinen; sie tragen prächtige Kleider und halten üppige Mahlzeiten ab, sodass ihre Gastereien sogar eine königliche Tafel übertreffen“. Nicht nur Machtgier und Skrupellosigkeit, sondern auch Luxus und Völlerei wirft der heidnische Chronist den christlichen Würdenträgern in der Hauptstadt vor. Und er hält ihnen gleichzeitig das Beispiel der „kleinen Provinzbischöfe“ vor Augen, „die sich durch ihre äußerste Bescheidenheit in Speise und Trank der ewigen Gottheit und ihren wahren Verehrern als reine und tugendhafte Männer empfehlen“.
Schon ein paar Jahrzehnte vor den von Ammianus Marcellinus geschilderten Ereignissen hatten sich in den großen Städten nicht nur manche ranghohe Kleriker, sondern auch „gewöhnliche“ gut bestallte Christenmenschen immer mehr vom Evangelium ab- und der Welt zugewandt.
Dies führte gegen Ende des 3. Jahrhunderts zu einer Gegenbewegung. Damals wurden in Spanien und Gallien, auch in Italien und selbst im entfernten Byzanz immer mehr Christgläubige der dekadenten Zivilisation mit ihrem überzüchteten Lebensstil überdrüssig und zogen sich in die ägyptische Wüste zurück, um zu Gott und zu sich selber zu finden. Stille, Gebet, Handarbeit und Fasten, insbesondere aber die selbst gewählte Einsamkeit schienen ihnen der geeignete Weg zur Erreichung dieses Ziels.
Die Vorfahren der Mönche und Monialen
Als einer der ersten Hauptvertreter dieser neuen Bewegung gilt der Einsiedler Antonios. Der wird um 251 im mittelägyptischen Kome (heute Qiman-al-Arûs) als Sohn wohlhabender christlicher Fellachen geboren. Als er ungefähr zwanzig Jahre alt ist, sterben seine Eltern. Entsprechend dem römischen Recht liegt es jetzt an Antonios, für seine jüngere Schwester zu sorgen. In dieser Zeit hört er in einer Predigt einen Ausspruch Jesu: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben. Und dann komm und folge mir nach.“ (Matthäus 19,21) Dieses eine Wort verdirbt ihm die ganze Freude an seinem elterlichen Erbe. Antonios redet mit seiner Schwester – oder vielmehr er überredet sie, in eines der damals bestehenden Häuser für „gottgeweihte Jungfrauen“ einzutreten, womit eine Gemeinschaft junger Frauen gemeint ist, welche zusammenleben, sei es, um Gott besser zu dienen, sei es, um sich zu emanzipieren und dem drohenden ehelichen Joch zu entgehen; für manche von ihnen mochte beides zutreffen. Seine Güter verschenkt Antonios an die Nachbarn. Dann setzt er sich ab in die Wüste, wo er in einer ausgeraubten Grabkammer haust. Ein Freund versorgt ihn gelegentlich mit getrocknetem Fladenbrot, das sich bekanntlich über Monate hin hält. So lange aber kann der Zulieferer seinen Mund nicht halten. Bald spricht sich im Dorf herum, wo Antonios steckt.
Gottsucher denken an Gott und befassen sich nicht mit Psychologie. Dass Antonios von Letzterer nichts versteht, wird ihm zum Verhängnis. Er bedenkt nicht, dass man sich nur zu verstecken braucht, damit alle einen suchen. Und dass sie einen Versteckten, sobald sie ihn gefunden haben, auch aufsuchen. Angesichts des Andrangs der Menge zieht er weiter weg, in die Nähe von Pispir, wo er in einem verlassenen Kastell haust. Neugierige brauchen lediglich den von seinen Freunden hinterlassenen Brotkrumen zu folgen, um ihn aufzuspüren. Wer ein Erbe ausschlägt, um sich als Hungerkünstler zu versuchen, ist allemal eine gesellschaftliche Attraktion. Insbesondere wenn sich auch noch das Gerücht verbreitet, er kämpfe mit Dämonen und habe Visionen; der Teufel mache sich in Gestalt hübscher Knaben und schönbusiger Frauen an ihn heran, um ihn zur Unzucht zu verleiten. Weiteren Gerüchten zufolge vermag der seltsame Gottsucher sogar Kranke zu heilen. Und, was schon ans Unerhörte grenzt: Gott, heißt es, habe höchstpersönlich zu ihm gesprochen!
Antonios, der allen Sensationen entfliehen wollte, wird selber zur Sensation. Das hält er nicht aus. Er entzieht sich der Menge durch Flucht. Seine nächste Behausung richtet er in der Wüste ein, auf dem Berg Kolzim. Eines hat der Außenseiter inzwischen begriffen: Je mehr ein Mensch sich in der Menge sonnt und zu ihr redet, desto größer ist die Gefahr, dass er sich aufspielt. Wer im Mittelpunkt steht, denkt an die Wirkung, die er erzielen möchte, sucht Zustimmung – und ist gar nicht mehr so richtig bei sich. Auf dem Berg Kolzim ist Antonios aber ganz bei sich. Hier findet er seine innere Ruhe. Jetzt erfährt er auch, was das ist: Gelassenheit. Sein Biograf, der Bischof Athanasios, schreibt, dass Antonios sich fortan „an der Schau der göttlichen Dinge ergötzte“. Ja: ergötzte! Das kann später ein dahergelaufener Spötter (die es damals natürlich auch gab) nicht begreifen. Wie Antonios diese Einsamkeit überhaupt aushalte, will der wissen, zumal er sich als Analphabet die Zeit nicht einmal mit der Lektüre eines Buches vertreiben könne (weil er nämlich, wie sein Biograf kleinlaut gesteht, nicht einmal lesen konnte). Dabei liegt Antonios nichts ferner, als sich die Zeit zu vertreiben! Den Spötter bringt er zum Schweigen, indem er ihm sagt, wie er sie nutzt: „Mein Buch ist die Schöpfung. Wenn ich Gottes Wort lesen will, brauche ich nur hineinzuschauen.“
Der am Berg Kolzim Untergetauchte wird schnell einmal entdeckt. Wie vormals in Kome und später in Pispir kommen die Leute in Scharen. Wollte Antonios weiter nach Osten fliehen, müsste er sich übers Rote Meer absetzen, das vor ihm in Sichtweite liegt. Stattdessen entscheidet er sich für einen Kompromiss. Er bleibt in seiner Einsiedelei. Unten am Berg, wo heute das Antoniuskloster steht, leben einige seiner Schüler in Hütten. Die versperren allen, die zu ihm wollen, den steilen Pfad. Aber bloß während eines halben Jahres. Die andere Jahreshälfte verbringt Antonios wiederum in Pispir. Dort erzählt er den Pilgerscharen, was er die Monate zuvor im Buch Gottes gelesen hat. Dass Antonios, wie Athanasios in der erwähnten Lebensbeschreibung berichtet, wiederholt auch Reisen nach Alexandria unternommen haben soll, um die dort verfolgten Christen im Glauben zu stärken, ist historisch nicht unwahrscheinlich. Aber auch...