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Die Germanen

Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch

VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641113230
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Barbaren oder blonde Helden - wer waren die Ureinwohner Deutschlands?
Als Haudegen aus der Tiefe Nordeuropas beeindruckten und erschreckten sie die antike Welt. Ihr Widerstand gegen Rom, ihre zentrale Rolle in der Völkerwanderung und ihr Machtbewusstsein haben die Germanen zu Vorfahren vieler heutiger Nationen Europas werden lassen. Aber wer waren diese hellhäutigen, ihrer Stammesehre verpflichteten Naturmenschen wirklich? Und wo kamen sie her?

SPIEGEL-Autoren und Historiker gehen den - wissenschaftlich recht umstrittenen - Ursprüngen der Germanen nach, schildern die ersten Zusammenstöße mit den südlichen Nachbarn und das schwierige Zusammenleben mit dem Römischen Reich. Das Buch verfolgt die Spur der verschiedenen Stämme bis nach der Völkerwanderungszeit, als sie teils besiegt wurden, teils in eigenen Reichen zu regionaler Herrschaft gelangten, und zeigt, wie sie in den folgenden Jahrhunderten verklärt wurden.

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Leseprobe

Traumbild der Ahnen

Aus antiken Quellen glaubte man auf das Wesen der Germanen schließen zu können. Daraus entwickelte sich seit der Renaissance ein Mythos, den Nationalisten in dumpfe Ideologie umdeuteten.

Von Georg Bönisch

Der Feldherr stürzte sich ins Schwert, voller Scham und voller Schuldgefühl. Etliche seiner Offiziere taten es ihm nach, während einfache Soldaten den noch qualvolleren Tod suchten – sie sprangen ins Moor. Tausende ihrer Kameraden waren da auf dem Schlachtfeld schon gestorben, durchbohrt, enthauptet, massakriert. Daheim im sieggewohnten Rom, weit über tausend Kilometer vom Schauplatz der Niederlage in Germanien entfernt, fiel Kaiser Augustus, der Imperator Caesar, Sohn des Gottes, der Pontifex maximus, aus höchsten Berufssphären in tiefste Verzweiflung. Monatelang ließ er Haupthaar und Bart wachsen, wieder und wieder stieß er mit dem Kopf gegen eine Tür und rief, angeblich: »Varus, gib mir meine Legionen zurück.«

Was da geschehen war im Jahre 9 nach der Zeitenwende, im Lande von offenbar ungeschlachten Wilden, von Barbaren, von Menschen, an denen außer Stimme und Gliedern nichts Menschliches gewesen sein soll, hat der wortgewaltige Historiker Theodor Mommsen mit nur einem Wort umschrieben: Varuskatastrophe.

Für die allermeisten Römer, Augustus und seine Entourage ausgenommen, schien sie dennoch wenig bemerkenswert und schnell vergessen. Dann aber war es etliche Jahrzehnte später ausgerechnet ein Römer, der die verlorene Schlacht zu einem weltpolitischen Ereignis umdeutete – der Ex-Senator und Schriftsteller Publius Cornelius Tacitus. Eines seiner schmalen Werke trug (auf Deutsch) den Titel »Über die Herkunft und die Lage der Germanen« und ein anderes »Annales«, und Tacitus tat so, als seien die Germanen eine in sich geschlossene Ethnie, ein richtiges Volk, gefährlich wie die großen Gegner Roms. Die Parther, die Karthager, die Gallier.

Nein, Germanen waren ein bunter Mix aus Stämmen, die höchstens regionale Bedeutung besaßen: Chatten und Chauken, Angrivarier und Brukterer, Hermunduren oder Usipeter, Semnonen und Triboker. Und Cherusker. Ihr Chefstratege Arminius hatte die drei Varus-Legionen in tagelangen Attacken aufgerieben; Tacitus setzte ihm ein Denkmal. »Ohne Zweifel« sei Arminius der »Befreier Germaniens« gewesen, schrieb er. Schon deshalb ein Befreier, weil er Rom nicht, »wie andere Könige und Anführer, in den Frühzeiten, sondern … auf dem Höhepunkt herausgefordert« hatte. Held Arminius, ein Siegertyp, der ein Volk repräsentierte, das »unvermischt« war, wie ein deutscher Schriftsteller und Denker im 19. Jahrhundert festhielt. Und keineswegs »verbastardet« durch fremde Völker. Arminius, der Bewahrer reinrassiger Gene. Germanischer Gene.

Aus den Phantasieerzählungen des Tacitus, der nie in Germanien war, konstruierten hierzulande Protagonisten des deutschen Humanismus fast anderthalb Jahrtausende später ein politisches Modell ganz früher territorialer Einheit: die römischen Texte gewissermaßen als Gründungsurkunde einer germanisch-deutschen Nation. Gleichzeitig verschafften diese Texte den Deutschen auch das »Adelsprädikat eines Altertums, das genauso weit zurückreichte wie das der Nationen, die sich von der lateinischen Antike ableiteten«, urteilt der Sozialgeschichtler Michael Werner. Wahrscheinlich hatte Tacitus nur die von ihm unterstellte Dekadenz seiner Landsleute brandmarken wollen und deshalb die – vermeintlich positiven – Attribute der Germanen herausgestellt: einfach, tapfer, treu, gerecht, ehrenwert. Und rein.

Er konnte nicht ahnen, dass sein Text irgendwann als Morgenrot deutscher Geschichte aufscheinen würde: guter Germane gleich guter Deutscher, germanisches Blut gleich deutsches Blut, germanischer Boden gleich deutscher Boden. Blut und Boden, völkisches Denken, das letztlich in der tödlichen Obsession der Nazi-Tyrannei sein Ende fand. Deshalb ist die Varuskatastrophe auch eine deutsche Katastrophe. Adolf Hitler, der die Hauptverantwortung trug für die Ermordung von sechs Millionen Juden, hatte einen frühen Entwurf seines Pamphlets »Mein Kampf« entsprechend tituliert: »Die germanische Revolution«, und ihm, dem »Führer des Großgermanischen Reiches«, wie ihn dann sein SS-Chef Heinrich Himmler umgarnte, schwebte vor, die Reichshauptstadt Berlin zur Welthauptstadt eines »germanischen Staates der germanischen Nationen« zu machen, Name: Germania. Bald danach lag alles in Trümmern.

Es ist nachgerade bizarr, dass die Sichtweise eines Römers die Germanen als geschichtliches Ereignis festschrieb – und damit viele Generationen später eine Manie auslöste, eine Ideologie begründete und einen Mythos: den Germanenmythos.

Bis heute können Wissenschaftler schon die scheinbar am leichtesten zu beantwortende Frage nicht beantworten – woher denn eigentlich der Name stammt, der für alles die Ursache war. Mindestens 50 Theorien existieren, und ihre Begründungen füllen Bibliotheksregale akademischer Einrichtungen. Kommt die Begrifflichkeit »Germanen« aus dem Lateinischen – und ist sie ein Kürzel von »verum germen nobilitatis«? »Wahrer Kern der Vortrefflichkeit«, wie die wörtliche Übersetzung heißt? Oder steckt in ihr, wie manche Pennäler meinen, der Name »Ger«? Jene kurze Lanze germanischer Soldaten, bekannt aus Kreuzworträtseln? Stammt der Name etwa aus dem Keltischen? Oder aus dem Hebräischen, dem Illyrischen, dem Ligurischen? Es ist einfach: Niemand weiß es.

Und zu dieser allgemeinen Wirrnis gehört, dass die Bezeichnung »Germanist« anfangs keinesfalls auf einen Spezialisten dieses Sujets deutete – ein Germanist war vielmehr der, der sich mit deutschem Recht beschäftigte, ein Romanist kümmerte sich um römisches Recht. Erst Jacob Grimm, einer der beiden Märchenbrüder, schlug 1846 vor, auch »Sprachforscher, Literaturhistoriker, Religions-, Wirtschafts- und Staatsforscher der germanischen Völker« so zu benennen.

Bis weit ins Mittelalter hatte sich für diese Vorfahren kaum jemand interessiert, es dominierten andere Themen: Reichsgeschichte etwa und Kirchengeschichte. Da sei kein Platz gewesen für Erinnerungen oder gar die »Gedächtniskultur eines germanischen Sieges in augusteischer Zeit über Rom und eines Helden Arminius«, sagt der Althistoriker Rainer Wiegels. Dann kam das Jahr 1425, jenes Jahr, in dem der findige Manuskriptjäger Poggio Bracciolini nach Rom eine Sensation meldete – den Fund einer Abschrift des verschollenen Tacitus-Textes in einem deutschen Kloster. Ein Gesandter des Papstes brachte sie nach Italien, wo schließlich eine Abschrift dieser Abschrift im Städtchen Jesi nahe der Adriaküste deponiert wurde. Und von der lateinischen Ortsbezeichnung hat sie bis heute den Namen: Codex Aesinas.

Rigorose Italiener, besser: Papstgetreue, schlachteten die »Germania« binnen kurzem, in schlechter Dialektik, an zwei Fronten aus. Einerseits lobten sie die von Tacitus beschriebenen militärischen Fähigkeiten der Germanen und deren Freiheitsliebe – um den deutschen Kaiser zum gemeinsamen Kampf gegen die Türken zu gewinnen; andererseits machten sie sich lustig über unkultivierte Typen aus den Wäldern Germaniens – um Geld zu sparen. Der deutsche Episkopat hatte nämlich laute Beschwerde geführt, die Kurie beute ihn finanziell aus, gebe ihn dem Elend preis und verurteile ihn auf diese Weise zur Machtlosigkeit. Rom hielt in der Schrift »De ritu, situ, moribus et conditione Germaniae descriptio« dagegen, gerade Tacitus sei doch der Beweis dafür, dass aus dem Barbarentum der frühen Zeit eine wohlhabende Kulturnation entstanden sei – dank des Christentums. Ein Germane, stünde er jetzt auf von den Toten, sehe nun »blühende Städte, sanftmütige Menschen, heilige Handlungen des Gottesdienstes«. Also sei Deutschland in der Dankesschuld dem Papst gegenüber, »darum seid fein bescheiden«.

Die Römer nahmen die Ergüsse ihres Vorfahren Tacitus ganz offensichtlich nicht für bare Münze, anders als die deutschen Humanisten. Zudem ärgerte es sie, dass mancher Schmeichler in Wirklichkeit ganz anders dachte. Jener Mann, der unablässig die Vorzüge germanischer Soldaten pries, schimpfte insgeheim die Deutschen als kulturlos, ihr Essen sei übel, das Wetter entsetzlich. Solcherlei Herablassungen stachelten den Patriotismus erst recht an – immer die Germanen im Blick und ihre Lichtgestalt Arminius. Schließlich, so der Dichter Heinrich Bebel zu Beginn des 16. Jahrhunderts, seien die Deutschen sich seit alters her immer treu geblieben, als freies, unabhängiges Volk. »Macht euch, deutsche Männer, die Sinnesart eurer Ahnen zu eigen«, beschwor zur selben Zeit Conrad Celtis, ein einflussreicher Intellektueller, seine Landsleute. »Wendet eure Augen zu den Bastionen Deutschlands und fügt seine zerrissenen und auseinandergezogenen Grenzen wieder zusammen« – Deutschland, eine Nation. Das war der Traum.

Der Germane hatte seinen Platz gefunden im Bewusstsein der Bildungselite, schnell war die Gleichung germanisch = deutsch da, weil die taciteischen Darstellungen die Vordenker geradezu aufriefen, mit deren Hilfe »die Wesenszüge ihres Volkes zu bestimmen«, formuliert die Historikerin Stefanie Dick. Also war es auch an der Zeit, den Namen des Urhelden Arminius einzudeutschen; jetzt hieß er Hermann. Es könnte sein, dass Martin Luther dafür sorgte. »Wenn ich ein poet wer«, schrieb er jedenfalls über Arminius, »so wolt ich den celebriren. Ich hab in von hertzen lib. Hat Hertzog Herman geheißen.«

Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts schätzten ihn, aber sie begeisterten sich letztlich nicht so richtig für Hermann und die Germanen – auch nicht die späteren Größen Friedrich Schiller oder Gotthold Ephraim Lessing oder Johann...

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