1.4 Stand der Wissenschaft
Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Gesundheit
Für diejenigen, die an wissenschaftlichen Daten interessiert sind, geben wir einen kurzen Überblick über die veröffentlichten Studien über die Wirkungen von (Selbst-)Mitgefühl und liebevoller Freundlichkeit. Zweifellos werden diese Forschungen in den kommenden Jahren noch intensiviert werden. Eine Darstellung der inzwischen umfangreichen Forschung über die Wirkung von Achtsamkeitstraining (MBSR/MBCT) würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wir verweisen stattdessen auf die Meta-Analysen von Baer (2003), Grossman u.a. (2004), Hofmann u.a. (2010), Chiesa und Serretti (2011) und Piet Hougaard (2011). Eindeutig belegt ist inzwischen, dass Achtsamkeit positive Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit hat. Über das Wie und Warum weiß man noch wenig, und hier sind noch viele weitere Forschungen notwendig. Shapiro und Carlson (2009) sind der Meinung, dass jetzt die Zeit reif dafür ist, um den Schwerpunkt der Achtsamkeitsforschung von der Reduzierung der Beschwerden und Symptome auf die Kultivierung heilsamer geistiger Qualitäten wie Weisheit, Mitgefühl und Tugend und Ethik zu verlagern. Das Konzept der Achtsamkeit hat sich schrittweise erweitert und es lässt sich nicht scharf von (Selbst-)Mitgefühl trennen. Bei den ersten Fragebögen zur Einschätzung von Achtsamkeit ging es vor allem um das Maß der reinen Aufmerksamkeit. Die später verwendeten Fragebögen sprachen auch andere Aspekte an, z.B. die akzeptierende und nicht-wertende Haltung, mit der die Aufmerksamkeit auf etwas gerichtet wird. Hier sieht man leicht die Überschneidungen zu einer mitfühlenden Haltung, wenn Schmerz und Leid im Feld des Gewahrseins auftauchen. Viele sind der Ansicht, dass die Qualität von (Selbst-)Mitgefühl durch die Achtsamkeitspraxis »wie von selbst« mitentwickelt wird. Dass Achtsamkeitstraining Selbstmitgefühl fördern kann, wurde z.B. bei professionellen Therapeuten und solchen in Ausbildung festgestellt, die an einem MBSR-Kurs teilgenommen hatten (Shapiro u.a. 2005, 2007). Auch in einer Gruppe von Patienten mit wiederkehrenden Depressionen, die in MBCT unterrichtet wurden, ließ sich das nachweisen (Kuyken u.a. 2010). Interessanterweise schien dabei Selbstmitgefühl als Beschleuniger zu wirken, was die Stressminderung und die Rückfallprävention anging. Man könnte daher argumentieren, dass es sich bei Selbstmitgefühl möglicherweise um den zentralen Mechanismus in der Effektivität von Achtsamkeit handelt (Baer 2010).
Das Instrument, das normalerweise dazu benutzt wird, um Selbstmitgefühl zu messen, ist die von Kristin Neff (2003b) entwickelte Skala. Neff hat den Weg für die Erforschung von Selbstmitgefühl in psychisch relativ gesunden Bevölkerungsgruppen gebahnt. Auch hier lässt sich nicht trennen, welchen Beitrag dabei Achtsamkeit bzw. Selbstmitgefühl leistet, denn Achtsamkeit selbst, als die Fähigkeit, unseren Schmerz und unser Leid achtsam anzuerkennen, ist Teil der Selbstmitgefühlsskala. Die beiden anderen Elemente auf der Skala sind Common humanity, die Fähigkeit, unser Leiden als Teil unserer gemeinsamen menschlichen Verfassung zu sehen, und Selfkindness, die Freundlichkeit uns selbst gegenüber, wenn wir Schmerz und Leiden erfahren. Alle drei Elemente sind wichtig für das Selbstmitgefühl und voneinander abhängig. Wahrscheinlich verstärken das Üben von Achtsamkeit und (Selbst-)Mitgefühl sich gegenseitig, aber es sind weitere empirische Forschungen notwendig, um genau zu bestimmen, wie sie zueinander in Beziehung stehen. Es ist anzunehmen, dass beide auf ihre eigene Art gesundheitsförderlich sind.
Die Menge der Hinweise darauf wächst, dass die Entwicklung von Selbstmitgefühl explizitere Aufmerksamkeit verdient (für Literaturübersichten siehe Barnard & Curry 2011; Hofmann u.a. 2011; Neff 2012). Eine vor kurzem durchgeführte Untersuchung (Van Dam u.a. 2011) unter mehr als 500 Teilnehmern aus der allgemeinen Bevölkerung, die sich zu einer Selbsthilfemethode gegen Angstzustände anmeldeten, zeigte, dass Selbstmitgefühl, bewertet nach der Skala von Neff, insgesamt deutlich mehr Vorhersagekraft für psychisches Wohlbefinden (das Maß an Angst und Depressionssymptomen und Lebensqualität) besaß als eine reine Achtsamkeitsskala. Bei Untersuchungen mit Probanden aus der generellen Bevölkerung war Selbstmitgefühl positiv korreliert mit psychologischen Stärken wie Freude, Optimismus, Weisheit, Neugier, persönlicher Initiative, emotionaler Intelligenz und sozialer Verbundenheit und negativ korreliert mit Selbstkritik, Depression, Besorgtheit, Grübeln, Unterdrückung von Gedanken und Perfektionismus (Neff u.a. 2007; Heffernan u.a. 2010; Hollis-Walker & Colosimo 2011).
Es schält sich immer deutlicher heraus, dass sich die Art des »Selbst«, mit dem man sich identifiziert, auf das eigene Wohlbefinden und die sozialen Kontakte auswirkt: Eine mitfühlende Identität ging mit besseren Ergebnissen einher als eine egozentrische Identität (Crocker & Canevello 2008). Lange wurde der Entwicklung des Selbstwertgefühls große Bedeutung beigemessen. Neuere Erkenntnisse lassen am Nutzen dieser Praxis zweifeln. Es ist sinnvoll, Selbstmitgefühl von Selbstwertgefühl (Self-esteem) zu unterscheiden (Neff 2008b), da Selbstmitgefühl einige Aspekte des Wohlbefindens besser vorhersagte (Neff & Vonk 2009). Anders als bei Selbstmitgefühl ging ein starkes Selbstwertgefühl mit Narzissmus einher. Selbstmitgefühl scheint auch bei Problemen besser zu schützen als Selbstwertgefühl und ist mit einer fürsorglicheren Haltung verbunden. Selbstmitgefühl ging mit einem gesünderen Umgang mit stressigen Lebensumständen einher, etwa bei akademischem Versagen (Neff u.a. 2005; Neely u.a. 2009), traumatischen Erfahrungen (Thompson & Waltz 2008), den Folgen von Missbrauch in der Kindheit (Vetesse u.a. 2011), Scheidung (Sbarra u.a. 2012) und chronischem Schmerz (Costa & Pinto-Gouveia 2011). Personen, die sich selbst gegenüber mitfühlender waren, schienen in Beziehungen besser zurechtzukommen (Neff & Beretvas 2012), und berichteten von mehr Empathie, Altruismus, Perspektivübernahme und Bereitschaft zu verzeihen (Neff & Pommier 2012). An sich selbst geschriebene mitfühlende Briefe halfen bei der Bewältigung negativer Ereignisse und linderten depressive Symptome (Leary u.a. 2007). Allgemein scheint Selbstmitgefühl mit einer heilsamen Auseinandersetzung (Exposure) mit schmerzhaften Gefühlen und Gedanken verbunden zu sein; es sorgt dafür, dass man gegen die oft unvermeidlichen Formen von Schmerz und Leiden im eigenen Leben besser gerüstet ist. Selbstmitgefühl scheint ein natürliches Heilmittel gegen die Tendenz zu sein, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden (Experiential avoidance), ein zentraler Mechanismus, der die Wurzel vieler Formen psychischen Leidens ist.
Kontrollierte Studien mit nicht-klinischen Probanden
Bei nicht-klinischen Probanden wurde eine Reihe kontrollierter Studien über die Wirkung der Praxis liebevoller Güte durchgeführt (traditionell Metta genannt, vergleichbar mit den in diesem Buch »Freundlichkeitsmeditation« genannten Übungen). Im Vergleich mit einer neutralen Übung steigerte eine kurze Übung liebevoller Freundlichkeit die Gefühle der sozialen Verbundenheit und Anteilnahme Fremden gegenüber (Hutcherson u.a. 2008). In einer anderen Studie wurde die Praxis liebevoller Freundlichkeit bei Mitarbeitern einer Softwarefirma untersucht (sieben wöchentliche Sitzungen von einer Stunde und Übungspraxis zu Hause mit CDs mit Übungen, die sich auf sich selbst und andere richteten). Verglichen mit der Kontrollgruppe zeigte sich ein positiver Einfluss in Bezug auf Messgrößen für positive Emotionen, Achtsamkeit, Sinneswahrnehmung, soziale Unterstützung, während zugleich ein Rückgang depressiver Symptome festgestellt wurde (Fredrickson u.a. 2008).
In einer anderen kontrollierten Studie wurde nach einem Training in Mitgefühlsmeditation von sechs Wochen (zwei Sitzungen zu 50 Minuten pro Woche und Übungspraxis zu Hause mit CD) eine positive Wirkung auf Immunsystem, neuroendokrine Reaktion und Verhaltensreaktionen bei psychosozialem Stress gegenüber einer Kontrollgruppe festgestellt, die ein interaktives Gesundheitsprogramm mit gleichem Zeitaufwand absolvierte (Pace u.a. 2009). Innerhalb der Meditationsgruppe erreichten diejenigen, die überdurchschnittlich geübt hatten, bessere Ergebnisse als diejenigen, die unterdurchschnittlich geübt hatten. Bereits früher hatte sich gezeigt, dass Mitgefühlstraining eine positive Auswirkung auf einen Indikator der Immunfunktion (S-IgA) hat, während eine Intervention zur Regulierung von Wut hierauf einen negativen Einfluss hatte (Rein u.a. 1995). Weiterhin zeigte sich in einer kontrollierten Studie, dass eine Selbstmitgefühlsintervention bei Frauen, die sich selbst einer strengen Diät unterwarfen, diesen half, ungesunde Nahrung zu meiden (Adams & Leary 2007). Auch Versuchspersonen, die mit dem Rauchen aufhören wollten, gelang es, weniger zu rauchen (Kelly u.a. 2010).
Das von Neff und Germer (2012) entwickelte Programm Mindful Self-Compassion (MSC) weist Überschneidungen mit dem MBCL-Kurs auf. Ein wichtiger Unterschied liegt darin, dass für MSC keine vorherige Erfahrung in Achtsamkeitspraxis notwendig ist. Bei MBCL hingegen handelt es sich um einen fortgeschrittenen Kurs für Menschen, die bereits mit der Achtsamkeitspraxis vertraut sind und wünschenswerterweise bereits einen Kurs in MBSR oder MBCT besucht haben. MSC kombiniert Übungen für Selbstmitgefühl und Achtsamkeit in acht wöchentlichen Sitzungen von zwei Stunden, dazu kommt eine vierstündige Einheit in Stille und eine tägliche...