I. Einleitung: Die historische Einzigartigkeit der Gladiatur
Gladiatoren haben einen festen Platz in unserem historischen Gedächtnis, ihre Präsenz in den modernen Massenmedien ist enorm: Hollywood hat das Leben und Sterben von Gladiatoren häufig zum Thema gemacht und dabei oscarprämierte Erfolgsstreifen wie «Spartacus» mit Kirk Douglas (1960) und «Gladiator» mit Russell Crowe (2000) produziert; seit 2010 sind Gladiatoren in der Fernsehserie «Spartacus: Blood and Sand» zu sehen. Kampfvorführungen in Gladiatorenrüstung bilden Höhepunkte aller Römerfeste, und am 7. Juli 2012, an einem Samstagabend zur besten Sendezeit, lieferten sich der Bodybuilder Ralph Moeller und der Boxer Henry Maske einen Showkampf als «Gladiatoren». Wie gering das Wissen um die antike Geschichte im Allgemeinen auch sein mag: Dass es im alten Rom Gladiatorenkämpfe gab, ist (fast) allgemein bekannt. Kein anderes Produkt der römischen Kultur besitzt heute eine vergleichbare Popularität.
Allerdings werden in der modernen Rezeption immer wieder dieselben Klischees produziert, und dies beginnt bereits im 19. Jahrhundert, sowohl in der Historienmalerei als auch in der Literatur: Beispiele dafür sind ein Gemälde Jean-Leon Gérômes (Abb. 1) und Henryk Sienkiewicz’ Roman «Quo Vadis?» (1896). Das Geschehen im Amphitheater erscheint in beiden Werken als Entfesselung aller schlechten Triebe des Menschen, als Ausfluss von Voyeurismus und Gewalttätigkeit. Die fanatisierte Menge fordert den Tod der Gladiatoren – auch die Priesterinnen der Vesta, die in Gérômes Gemälde am rechten Bildrand zu sehen sind; dass es Frauen sind, die hier die öffentliche Tötung von Menschen verlangen, macht die Grausamkeit für die Betrachter des 19. Jahrhunderts noch abstoßender. Leichen bedecken den Boden der Arena, der Tod scheint das unausweichliche Schicksal jedes Gladiators zu sein. Im Amphitheater verdichtet sich symbolisch die Dekadenz der Römer; es bedarf ‹reiner›, von der Sündhaftigkeit der Metropole nicht infizierter Menschen von außen, um diese Dekadenz zu erkennen und zu bekämpfen: Bei Sienkiewicz sind dies die Lygier aus dem Nordosten – sie stehen symbolisch für seine polnischen Landsleute –, in «Gladiator» der Spanier Maximus. Ein weiteres Klischee ist die Entpolitisierung des Volkes durch «Brot und Spiele»: Die römischen Kaiser hätten die Menschen durch genauso prachtvolle wie grausame Schauspiele von den wirklich wichtigen Dingen abgelenkt und somit ungestört ihre Herrschaft ausüben können.
An der historischen Realität gehen diese Klischees vollkommen vorbei. Zwar waren die Gladiatorenkämpfe ohne jeden Zweifel ein äußerst grausames Schauspiel, bei dem im Verlauf von sieben Jahrhunderten viele Tausend Menschen ihr Leben verloren. Aber es handelte sich nicht um ein zügelloses Massengemetzel, bei dem es nur darum ging, in kürzester Zeit möglichst viele Menschen umkommen zu lassen, sondern um Einzelkämpfe, die genauen Regeln unterworfen waren und von Schiedsrichtern kontrolliert wurden. Und das Publikum wollte, das überliefern übereinstimmend die antiken Gewährsleute, nicht einfach möglichst viel Blut sehen, sondern einen Kampf auf hohem technischem Niveau. Die größte Bewunderung erregten diejenigen Gladiatoren, die ihre Gegner besiegten, ohne sie zu töten, und in den meisten Fällen forderte das Publikum die Begnadigung des Unterlegenen. Gänzlich falsch ist auch die Vorstellung, die Gladiatorenkämpfe hätten das römische Volk entpolitisiert, das Gegenteil ist richtig: Im Amphitheater zeigte sich die Macht des Volkes, hier trat es in Interaktion mit den Herrschern, hier nahm es direkten Einfluss auf deren Entscheidungen und erlebte die eigene Macht, indem es über Leben und Tod der unterlegenen Gladiatoren entschied. Nicht schrankenlose Gewalt wurde im Amphitheater geboten, sondern «sinnhaft gebändigte Gewalt» (Uwe Walter). Dies alles soll nicht die Brutalität der Gladiatorenkämpfe in Abrede stellen, aber davor warnen, sie einfach als Auswuchs menschlicher Grausamkeit zu erklären. Will man sie erklären und verstehen, muss man vielmehr die gesamte römische Kultur in den Blick nehmen, sich mit römischen Wert- und Moralvorstellungen, mit dem Selbstbild der Römer und ihrer gesellschaftlichen Struktur befassen. Nur dann kann man verstehen, warum ausgerechnet im Römischen Reich und nirgendwo sonst in der Weltgeschichte Gladiatorenkämpfe entstanden.
Abb. 1: Jean-Leon Gérôme: «Pollice Verso» (1872)
Denn die römischen Gladiatorenkämpfe sind ein einmaliges Phänomen, sie finden keine Parallelen in anderen Kulturen und anderen Epochen. Tödliche Zweikämpfe waren in der Geschichte weit verbreitet, man denke nur an die Duelle im neuzeitlichen Europa, und Todesfälle bei sportlichen Wettkämpfen sind aus der griechischen Antike wie aus der Moderne bekannt. Das Besondere der Gladiatorenkämpfe aber bestand darin, dass nach dem Kampf darüber entschieden wurde, ob der Unterlegene zu begnadigen oder zu töten sei. Es stand also zur Debatte, welche Eigenschaften ein Mann an den Tag legen müsse, um auch nach einer Niederlage noch weiterleben zu dürfen, und daraus resultiert die enorme symbolische Bedeutung der Gladiatorenkämpfe in der römischen Gesellschaft. Aus diesem Grund handelt es sich auch nicht um ein Randthema der althistorischen Forschung, das nur populistischen Wert im Hinblick auf das öffentliche Interesse besitzt, sondern um ein Kernthema der römischen Geschichte: Wer die mentalen Dispositionen der Römer, ihre Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung, ihre Selbstwahrnehmung und Fremdbilder verstehen möchte, kommt an den Gladiatorenkämpfen nicht vorbei.
Die antiken Zeugnisse zu den Gladiatorenkämpfen sind so reichhaltig wie vielfältig. Ihre Fülle zeigt, welch hohen Stellenwert diese Spektakel sowohl für die Oberschicht wie für die breite Masse, für die Stadtrömer wie für die Bevölkerung von außerhalb besaßen; ihre Vielfalt setzt heutige Forscher in die Lage, Gladiatorenkämpfe aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen. So wird der «soziale Sinn» vor allem aus den überlieferten literarischen Zeugnissen ersichtlich; denn Gladiatoren bildeten ein wichtiges Thema aller Literaturgattungen, und die berühmtesten Autoren berichten über sie: Politiker und Philosophen wie Cicero (106–43 v. Chr.) und Seneca (ca. 1 v. Chr.–65 n. Chr.), Geschichtsschreiber wie Livius (ca. 59 v. Chr.–17 n. Chr.) und Tacitus (ca. 55–120 n. Chr.), Dichter wie Martial (ca. 40 bis 103 n. Chr.) und Horaz (65–8 v. Chr.) oder Kirchenväter wie Tertullian (ca. 160–220 n. Chr.) und Augustinus (354–430 n. Chr.), um nur einige zu nennen. Bei der Lektüre dieser Texte muss man sich allerdings immer vor Augen halten, dass sie die Sichtweise des Publikums vermitteln, genauer gesagt der Zuschauer aus der gebildeten Oberschicht, die in ihre Beschreibung der Kämpfe ihre Ansichten über die römische Gesellschaft einfließen lassen.
Die literarischen Zeugnisse beziehen sich überwiegend auf die Gladiatorenkämpfe in Rom selbst, für das übrige Italien und die Provinzen sind Inschriften von höchster Bedeutung. Ehrenbeschlüsse liefern wichtige Informationen über die Ausrichter der Gladiatorenkämpfe, für die Gladiatoren selbst sind deren Grabinschriften von größter Bedeutung. Denn aus diesem Material kann man nicht nur ‹technische› Daten wie Namen, Lebenserwartung, Anzahl von absolvierten Kämpfen, Familienstand und Karriereverläufe ablesen, sondern auch Erkenntnisse über die Selbstwahrnehmung der Gladiatoren, über Feindschaft und Kameradschaft und die Orientierung an mythologischen Kämpfern gewinnen. Gladiatoren waren auch ein überaus beliebtes Motiv in der römischen Bildkunst, ob auf Terra Sigillata, auf Öllämpchen, steinernen Reliefs und Mosaiken, und aus diesen Darstellungen lässt sich ermitteln, wie die Gladiatoren bewaffnet waren und welche Paarungen von Waffengattungen üblich waren. Ergänzend kann man hier die Gladiatorenwaffen hinzuziehen, die sich vor allem in Pompei in großer Zahl erhalten haben. Die Struktur des Zuschauerraums lässt sich an den zahlreichen erhaltenen Amphitheatern ablesen, von denen viele mit Inschriften versehen sind, die uns über die Sitzordnung Auskunft geben.
In neuerer Zeit hat die experimentelle Archäologie an Bedeutung gewonnen. Einige Gruppen von «Hobbygladiatoren» haben Waffen und Rüstungen rekonstruiert und in Kämpfen gegeneinander erprobt. Wissenschaftlich fundiert sind vor allem die unter Leitung von Marcus Junkelmann durchgeführten Experimente, denen ein gründliches Studium der Schrift- und Bildquellen vorausging. Der kulturellen Bedeutung von Gladiatorenkämpfen im antiken Rom lässt sich durch das sogenannte «Reenactment» nicht auf die Spur kommen, aber die Experimente haben unsere Kenntnis vom konkreten Ablauf der Kämpfe auf eine neue Ebene gehoben und manche früher übliche Vorstellung als unhaltbar erwiesen.
Und...