I. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit
Die übergroße Freiheit schlägt offenbar in nichts anderes um als in übergroße Knechtschaft, sowohl für den Einzelnen als auch für die Stadt. Es ist also wahrscheinlich, dass die Tyrannis aus keiner anderen Verfassung hervorgeht als aus der Demokratie, aus der höchsten Freiheit die größte und härteste Knechtschaft.
Platon 1
Die Deregulierung der Sexualität
Wir befinden uns in einem erstaunlichen Prozess: Fundamentale Normen menschlichen Verhaltens, welche noch vor wenigen Jahrzehnten allgemeine Gültigkeit hatten, wurden außer Kraft gesetzt. Was damals als gut galt, gilt heute als schlecht. Diese Normen betreffen die Fortpflanzung des Menschen und die universale Institution, in der sie sich vollzieht: die Familie. 1948 formulierten die vom Zweiten Weltkrieg erschütterten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Darin heißt es: »Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.« (Art. 16) Familie entsteht durch die Ehe von Mann und Frau, welche sich verpflichten, ihr Leben miteinander zu teilen, und bereit sind, Kinder zu zeugen und diese aufzuziehen. Familie bedarf der Monogamie, nämlich der sexuellen Treue zwischen den Ehepartnern. Wird Monogamie als sittliche Orientierung aufgegeben, geht die Familie kaputt. Leitende Wertvorstellungen, Gebräuche und Gesetze verankerten diese hohe moralische Norm in der Lebenspraxis der Bevölkerung.
Diese Wertvorstellungen, Gebräuche und Gesetze wurden in den letzten vierzig Jahren demontiert. In den westlichen Wohlstandskulturen geschah dies zunächst durch rebellierende Studenten. Heute ist es die kulturrevolutionäre Agenda der Machteliten dieser Erde. Eine mächtige Lobby kämpft mit Hilfe der Vereinten Nationen (UN), der Europäischen Union (EU) und der Medien seit Anfang der siebziger Jahre um eine Änderung der Wertordnung. Ziel ist die absolute, von jeder natürlichen und moralischen Grenze losgelöste Freiheit, die den Menschen als bloßes »nacktes« Individuum versteht. Für eine solche absolute Freiheit, die sich auch von der »Diktatur der Natur« befreien will, ist jede natürliche Vorgabe ein Hindernis, das beseitigt werden muss. Folglich gibt es für eine so verstandene Freiheit kein »gut« und kein »böse«, keine Normativität. Konkrete Mittel dieses Kampfes sind die Dekonstruktion der bipolaren Geschlechtlichkeit, die Veränderung von sozialen Normen und Einstellungen der Bevölkerung, insbesondere der Jugend, die vollständige juristische Gleichsetzung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe bis hin zu sozialer Ächtung und gesetzlicher Kriminalisierung von Widerstand.
Erstaunlich ist der Prozess deswegen, weil dieser »neue Mensch« und die damit einhergehende Auflösung jeder Normativität einen prioritären Rang im Handeln der UN, der EU und zahlreicher Einzelstaaten hat, obwohl diese kulturrevolutionäre Strategie keinerlei Beitrag zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit leistet. Im Gegenteil! Die demografische Epochenwende wird das soziale Gefüge nicht nur Europas aus den Angeln heben. Die Geburtenraten sanken in den meisten europäischen Ländern in den letzten vier Jahrzehnten weit unter das Erhaltungsniveau. In dem Maß, in dem sie das Defizit durch Migration auszugleichen versuchen, geben sie die eigene Kultur preis. Eine am Gemeinwohl orientierte Politik, müsste der Stärkung der Familie Priorität in der Gesellschaftspolitik einräumen. Stattdessen wird im Dienst von kleinen Minderheiten die Deregulierung der Sexualnormen betrieben und so die Familie ihres Wertefundaments beraubt.
Erstaunlich ist dieser Prozess auch deswegen, weil er die Voraussetzungen zerstört, welche die europäische Hochkultur hervorgebracht haben – ein Erfolgsmodell für die ganze Welt. Diese Kultur hatte bis vor wenigen Jahrzehnten ein christliches Fundament. Das Christentum schuf die moralischen Grundlagen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Die Substanz dieser Kultur sind die Entscheidungen unserer Vorfahren für das Gute und das Wahre, Entscheidungen, die dem Einzelnen zu allen Zeiten Verzicht und Opfer abverlangt haben. Machtgierige, gewalttätige Herrscher, Kriege, korrupte Kirchenführer, nicht einmal die entsetzlichen atheistischen Terrorsysteme des zwanzigsten Jahrhunderts konnten die christliche Kultur ausmerzen. Es waren die Familien, welche in der Not nicht nur das Überleben möglich machten [Anm. A], sondern diese Kultur unter den widrigsten Umständen weitergaben. Nach jeder Katastrophe schlug das christliche Grün wieder aus, zuletzt durch die Einigung Europas auf dem Fundament der hohen Werte ihrer christlichen Gründer.
Was jetzt geschieht, geht tiefer. Es geht nicht um die Diktatur des Proletariats oder die Diktatur einer Herrenrasse. Die Terrorregime waren als Unterdrücker erkennbar und konnten nach siebzig bzw. zwölf Jahren besiegt werden. Heute richtet sich der Angriff auf die innerste moralische Struktur des Menschen, die ihn zur Freiheit befähigt. Die Axt wird an die Wurzel gelegt.
Die Grundannahme, von der dieses Buch ausgeht, ist, dass die wunderbare Gabe der Sexualität der Kultivierung bedarf, um dem Menschen gelungene Beziehungen und ein gelungenes Leben zu ermöglichen. Das Gegenteil, das triebhafte Ausleben aller Begierden, zerstört die Person und die Kultur. Ein von Kindheit an sexualisierter Mensch lernt: »Es ist gut, wenn du alle deine Triebe unreflektiert auslebst. Es ist schlecht, wenn du ihnen Grenzen setzt.« Er benutzt den eigenen Körper und den Körper anderer Menschen zur Befriedigung seines Sexualtriebes, anstatt zum Ausdruck personaler Liebe. Dieser Trieb ist mächtig, denn er hat die Aufgabe, den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Wer nicht lernt, ihn zu kultivieren, auf dass er Ausdruck der Liebe werde, offen für neues Leben, wird von ihm beherrscht. Ein so Getriebener verliert seine Freiheit. Er hört die Stimme des Gewissens nicht mehr. Er verliert die Fähigkeit zu lieben, er verliert die Fähigkeit sich zu binden. Er verliert den Wunsch, Kindern das Leben zu schenken. Er wird unfähig zu kulturellen Leistungen. Er wird psychisch und körperlich krank. Er verliert den Wunsch und die Fähigkeit, die eigene Kultur zu erhalten, und schafft so die Voraussetzungen, dass sie von einer vitaleren Kultur übernommen wird.
Die christliche Auffassung, dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist, begründete die unantastbare Würde jeder Person und führte zur freiheitlichen Verfassung von Staat und Gesellschaft. Die einzigartige wissenschaftliche und technologische Entwicklung verdankt die christlich geprägte Hochkultur der Verpflichtung auf Vernunft und Wahrheit, welche die vorurteilsfreie Erforschung der Wirklichkeit zuließ.
Aber die Anerkennung des Schöpfergottes, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Geltung universaler moralischer Werte und die ideologiefreie Wahrheitssuche sind in Bedrängnis geraten.
Die Folgen sind dramatisch: Viele Menschen wollen das Leben, das sie empfangen haben, nicht mehr weitergeben; die Familien zerfallen; das Leistungsniveau der nächsten Generation sinkt, zwanzig Prozent der 15-Jährigen können nicht sinnverstehend lesen;2 immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Störungen;3 das Lebensrecht von Kindern im Mutterschoß, Behinderten und Alten ist nicht mehr geschützt; die Freiheit der Religion, der Meinungsäußerung, der Erziehung, der Wissenschaft wird ausgehöhlt.
Dies alles geschieht im Namen einer Ideologie, welche leugnet, dass der Mensch als Mann oder als Frau existiert, dass diese Polarität seine Identität prägt und Bedingung der Fortpflanzung des Menschengeschlechts ist. (Psychische und physische Anomalien ändern an dieser Tatsache nichts.) Nie zuvor hat es eine Ideologie gegeben, welche die Geschlechtsidentität von Mann und Frau und jede ethische Normierung des sexuellen Verhaltens zerstören wollte. Die Ideologie heißt Gender-Mainstreaming.
Es gibt viele andere Faktoren dramatischer Veränderung in unserer Zeit, ökologische, wirtschaftliche, technisch-wissenschaftliche, aber keiner dieser Faktoren zielt strategisch auf die Wurzel des Menschen, seine Identität als Mann und Frau und die Auslieferung des Einzelnen an die von allen sittlichen Normen befreiten Forderungen des Sexualtriebs.
Bisher war es Männern vorbehalten, ideologische Systeme zu entwickeln, welche ungeheure Zerstörung nach sich zogen und Abermillionen Menschen das Leben kosteten. Die Gender-Ideologie wurde von radikalfeministischen Frauen erdacht und ihre Durchsetzung erkämpft – mit unabsehbaren Folgen. Viele Kulturen sind an moralischer Degeneration zugrunde gegangen. Dass aber die moralische Degeneration politisch und kulturell erzwungen wird, das ist neu.
Hochkultur durch Hochmoral
Jede Kultur bestraft die Überschreitung ihrer sexuellen Normen. Hielt man früher Tabus, welche durch soziale Ächtung bis hin zur Todesstrafe geschützt waren, für ein Zeichen primitiver Gesellschaften, so stellen wir fest, dass heute neue Tabus gelten, welchen durch soziale Ausgrenzung und schrittweise Kriminalisierung Geltung verschafft wird, und zwar genau in dem Bereich, den alle Kulturen durch strenge Normen schützen: den Bereich der Sexualität. Allerdings hat eine Verkehrung stattgefunden: Heute wird die Auflösung der moralischen Normen erzwungen und Widerstand mit Ausgrenzung und juristischen Sanktionen geahndet.
Der englische Anthropologe J. D. Unwin hat in einer großen wissenschaftlichen...