EINLEITUNG
Das Volk der Goten, das um Christi Geburt auf der historischen Bildfläche erschien, nach weiten Wanderungen, Trennungen und Vermischungen, Eroberungen und Landverlusten schließlich im Jahr 410 die Stadt Rom eroberte (als erste Kriegsmacht nach 800 Jahren) und schließlich in der Spätantike in anderen Völkern aufging, schuf die ältesten germanischen Sprachdenkmäler und prägte wesentlich die germanische Sagenwelt. Jordanes’ »Ursprung und Taten der Goten« ist einerseits eine der wenigen und gleichzeitig eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte dieses Volkes, enthält andererseits aber zahlreiche Irrtümer und wohl auch einige bewusste Verfälschungen. Um Jordanes’ Erzählung mit Erkenntnisgewinn lesen zu können, ist es nützlich, die Grundzüge der Geschichte der hauptsächlich darin behandelten Völker zuvor kennenzulernen. Während die römische Geschichte, namentlich die der Kaiserzeit, eher als bekannt vorausgesetzt werden kann, ist das Wissen über die Goten dagegen gering, da sie noch seltener im Unterricht behandelt werden, während Geten den meisten Mitteleuropäern noch nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Und während nach den mit den Geten verwandten Dakern eine in Deutschland zunehmend verbreitete und originell beworbene Automarke benannt ist, hat dies zur Bekanntheit des namengebenden Volkes und seiner Geschichte noch kaum beigetragen.
Geten und Daker
Obwohl die Geten und die mit ihnen verwandten Daker thrakische Völker waren, werden sie in Verfälschung der tatsächlichen Gegebenheiten in Jordanes’ Geschichtswerk mit den germanischen Goten gleichgesetzt. Den willkommenen Anlass dazu bot dem Verfasser die Namensähnlichkeit der Geten und Goten sowie ihre nahe beieinanderliegenden Siedlungsgebiete. Die Intention des Autors, die mit dieser Gleichsetzung verfolgt wird, soll im Kapitel »Getica oder Origo Gothica« erläutert werden. In der Übersetzung wurde der Begriff »Geten« gewählt, wo Jordanes aus deren Tradition schöpfte, das Wort »Goten« wurde verwendet, wo er sich auf tatsächliche oder vermeintliche gotische Tradition stützt.
Die Geten waren der nördlichste thrakische Volksstamm und siedelten im Ostbalkan und an der Ostküste des Schwarzen Meeres, das in der Antike Pontos genannt wurde. Ihre Nordwestliche Gruppe ist seit dem 2. Jh. v. Chr. als Daker belegt, das Volk, von dem sich die Rumänen der Gegenwart herleiten. In das umschriebene Siedlungsgebiet waren die Geten wohl im 5. Jh. v. Chr. eingewandert, und sie ernährten sich wahrscheinlich als Nomaden und Viehzüchter. Sie wohnten in kleinen Einheiten zusammen, Dörfer und kleine Städte gründeten sie erst nach den ersten Kontakten mit den Griechen. Nach Auskunft antiker Geschichtsschreiber und Geographen (Herodot 4,94–96; Strabon 7,3,3–5; Pomponius Mela 2,18) verehrten sie als ihren höchsten Lehrer Zalmoxis und waren Anhänger des Unsterblichkeitskultes, der ihnen im Kampf absolute Todesverachtung verlieh und sie damit besonders mutig machte. Das Reitervolk, das mit Pfeil und Bogen kämpfte, war deswegen in der Antike sehr gefürchtet. Dennoch unterwarf Perserkönig Dareios sie während seines Skythenfeldzugs (Herodot, Geschichte 4,93) im Jahr 510 v. Chr., jedoch wohl nur für kurze Zeit. Denn noch im selben Jahrhundert zogen sie mit Odrysenkönig Sitalkes, dem Herrscher eines Nachbarvolkes, gegen Perdikkas von Makedonien mit einem großen Reiterkontingent (Thukydides, Der Peloponnesische Krieg 2,97). Um 360 v. Chr. wurde ihr Gebiet von den Skythen erobert und von diesen zum Teil für ihr eigenes Volk beansprucht. Als die Geten dagegen Widerstand leisteten, rief Skythenkönig Atheas seinen Verbündeten Philipp von Makedonien zu Hilfe, entzweite sich aber später mit diesem und wurde von Philipp geschlagen. Darauf wurden die Geten ein Teil des von Alexander d. Gr. eroberten Reiches, und nach dessen Tod fielen sie an den Diadochen Lysimachos (Iustinus 13,4), der seine Macht nach einigen Aufständen zu Beginn festigen konnte. Damals wanderten viele Geten als Sklaven in griechischen Poleis, einem Umstand, dem die Gegenwart viele zuverlässige Auskünfte griechischer und römischer Historiker (Herodot, Thukydides, Strabon, Cassius Dio, später Pomponius Mela und Plinius d. Ä.) über dieses Volk verdankt. Das nächste Volk, das über die Geten und ihre Nachbarn hereinbrach, waren die nach Osten ziehenden Kelten (Iustinus 25,1).
Im Bündnis mit König Eupator von Pontus gerieten sie in Konflikt mit den Römern und wurden 72 v. Chr. von L. Licinius Lucullus besiegt. Etwa zur Regierungszeit C. Iulius Caesars in Rom einigte Dakerkönig Burebista alle thrakischen Stämme auf dem Balkan und am Schwarzen Meer und wagte sogar einen Aufstand gegen Caesar. Dieser allerdings wurde ermordet, bevor er gegen Dakien ziehen konnte. Doch auch Burebista konnte seine Macht nicht langfristig stabilisieren, sondern sein Reich zerbrach nach einer Generation.
Die bedeutendste Stadt der Geten, Tomis am Schwarzen Meer, das heutige Constanţa in Rumänien, wurde bekannt als Exilort des Dichters Ovid (8–14 n. Chr.), der nach eigenem Zeugnis nicht nur gemeinsam mit seinen Gastgebern einen Skytheneinfall in das zu dieser Zeit römische abwehrte, sondern auch die Sprache der Geten erlernte und sogar in ihr dichtete.
Zu den wichtigen Herrschern der Geten in dieser Zeit gehörten Dapyx und Zyraxes. Ab 46 n. Chr. setzte die allmähliche Romanisierung der Bevölkerung ein. Am Ende des Jahrhunderts einigte König Dekebalos noch einmal die Geten und Daker, doch in mehreren Kriegen von 101 bis 106 wurden sie von Kaiser Traian unterworfen, unter dem das Imperium Romanum seine höchste geographische Ausdehnung erreichte. Er richtete die Provinz Dakien ein, und bis zur Ankunft der Goten waren die Daker vollständig romanisiert, was sich bis heute an der Sprache ihrer Nachfahren ablesen lässt.
Die Goten vom 1. bis zum 6. Jh. n. Chr.
Ein gemeinsamer Ursprung der Stämme, die in der antiken Geschichtsschreibung als Gauten und Gutonen bezeichnet werden, ist wohl anzunehmen. Sie stammen aber weder, wie Jordanes erzählt, aus Skandinavien, noch sind sie von skandinavischer Zuwanderung beeinflusst worden. Diese Vorstellung ist eher eine Selbstdeutung des Volkes in der Zeit Theoderichs des Großen aufgrund von Namensähnlichkeiten wie derjenigen zu der skandinavischen Insel Gotland, die aber auf anderen Ursachen beruht. Im 1. Jh. n. Chr. werden die Gutonen als Bewohner des östlichen Germaniens erstmals in der antiken Literatur erwähnt (Plinius, Naturalis Historia 4,99; Tacitus, Germania 44,1, Annales 2,62,2). Um 150 spricht Klaudios Ptolemaios (3,5,8) als letzter antiker Autor von den Gutonen, und zwar mit der präzisesten Nennung ihres Siedlungsgebietes, des Weichselknies. Dort sind sie archäologisch identifizierbar mit der Wielbark- bzw. Willenberg-Kultur. Es erfolgten im Laufe ihrer Geschichte wohl Teilungen des Stammes, wobei jeweils ein Teil aus dem bisherigen Siedlungsgebiet abwanderte, während ein anderer zurückblieb. Die Auswanderer siedelten in neuen Gebieten, wo sie sich mit den bisherigen Bewohnern nicht nur bekriegten, sondern allmählich auch verbanden. Etwa fünf Jahrzehnte später wanderte ein großer Teil der Gutonen aus Ostpommern ab und drang allmählich bis zur Donaumündung vor. Dort ist er in der Tscherniachov-Kultur nachweisbar. Die Goten erschienen erstmals 208 am Schwarzen Meer und gewannen mit der Zeit die Vorherrschaft über die schon zuvor hierher gewanderten Bastarnen, ebenfalls ein germanischer Stamm, sowie über die Karpen und Sarmaten.
Als die Goten unter König Kniva 238 das Südufer der Donau überfielen, kamen sie erstmals mit den Römern in Kontakt. Es folgten abwechselnd Abwehrkämpfe der Römer gegen die Goten, Friedensschlüsse, gotische Kontingente bei römischen Feldzügen – so mit Kaiser Gordianus gegen die Perser 242 – und wieder Einfälle in römisches Hoheitsgebiet. 249 setzte König Kniva mit den Goten über die Donau, dann zog sein Heer in einem dreifachen Vorstoß (die beiden anderen Abteilungen unter den Heerführern Argaith und Guntherich) nach Dakien, Moesien und Thrakien und drangen bis nach Philippopel (Plovdiv) vor. Einen Rückeroberungsversuch der Römer unter Kaiser Decius wehrten sie in der Schlacht bei Abrittus-Hisarlak in der Nähe von Razgrad (Bulgarien) im Jahr 251 erfolgreich ab, in der Decius selbst und sein Sohn fielen. Decius’ Nachfolger Trebonianus Gallus schloss Frieden zu den Bedingungen der Goten. Doch schon 254 überfielen diese die Stadt Thessaloniki, weitere drei Jahre später zu Schiff überfielen sie vom Kimmerischen Bosporus ausgehend, vereint mit einem Landheer, die Südwestküste des Schwarzen Meeres und drangen zum Bosporus und nach Bithynien vor. Dabei wurde vermutlich aus dem Dorf Sadogolthina bei Parnassos in Kappadokien die Familie verschleppt, aus der später Bischof Wulfila hervorgehen würde. 268 fielen sie gemeinsam mit dem germanischen Stamm der Heruler von See her ins Römische Reich ein, wurden aber erfolgreich...