Autor
Prof. Dr. Guido Knopp, Jahrgang 1948, arbeitete nach dem Studium als Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und als Auslandschef der „Welt am Sonntag“. Von 1984 bis 2013 war er Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Seitdem moderiert er die Sendung History Live auf Phoenix. Als Autor publizierte er zahlreiche Sachbuch-Bestseller. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Jakob-Kaiser-Preis, der Europäische Fernsehpreis, der Telestar, der Goldene Löwe, der Bayerische und der Deutsche Fernsehpreis, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und der Internationale Emmy.
Vorwort
Solange noch Zeit ist
Die Familie meines Vaters stammt aus Oberschlesien. Meine Großeltern und beide Tanten, damals junge Frauen, sind zunächst geflüchtet, dann für ein paar wirre Wochen nach dem Krieg zurückgekehrt, sodann nach schrecklichen Erlebnissen im Sommer 1945 enteignet und vertrieben worden. Wir lebten in Aschaffenburg, weil meine Tante nach der Flucht dort eine Anstellung als Lehrerin gefunden hatte. Mein Vater war noch in Gefangenschaft. Die Familie fand sich, wie in hunderttausenden von anderen Fällen, dort zusammen, wo der Erste einen Job erhielt.
Ich bin ein Nachkriegskind. Freitagabends bin ich mit den Eltern immer zu den Großeltern gegangen, zwei Jahrzehnte lang: Schlesienabend. Es gab schlesische Gerichte mit viel Mohn und Thymian und Erinnerungen an die alte Heimat, die ich nie gesehen hatte. Ich erinnere mich vor allem an die Wehmut dieser Abende. Als Kind hat mich das manchmal irritiert. Erst später habe ich verstanden, was die Großeltern bewegte. Der Verlust der Heimat ist gerade für die Älteren ein Schmerz, der bleibt. Die Wunden der Erinnerung können heilen, doch die Narben tun immer noch weh. Aus der Heimat zu flüchten, aus dem angestammten Lebensumfeld vertrieben zu werden – für fünfzehn Millionen Deutsche war dies das traumatische Ereignis ihres Lebens. Am Ende eines Krieges, der gezeigt hat, wozu Menschen fähig sind; eines Krieges, der von deutschem Boden ausgegangen ist, den Deutsche aggressiv geführt haben – am Ende dieses Krieges sind deutsche Frauen, Kinder, alte Menschen selbst millionenfach zu Opfern geworden.
Wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Opfer des 20. Jahrhunderts gedenken, dann sollten wir uns aller Opfer erinnern – der von Krieg und Holocaust, aber auch von Flucht und Vertreibung. Und gewiss nicht nur der deutschen Opfer. Denn Vertreibung war im 20. Jahrhundert ein Verbrechen, das viele traf: Allein in Europa haben zwischen 1939 und 1948 fast fünfzig Millionen Menschen ihre Heimat unter Zwang verlassen müssen. Zwar gibt es da und dort noch Stimmen, die uns die Trauer um die eigenen Opfer untersagen wollen: weil Hitler den Krieg begonnen hat, weil Deutsche zu Tätern im Holocaust geworden sind. Doch ich halte eine solche Einstellung für anmaßend. Es hat nichts mit Relativierung oder gar Aufrechnung zu tun, wenn wir der Toten gedenken, die auf den eisigen Straßen Ostpreußens im Winter 1945 sterben mussten; wenn wir der Toten gedenken, die auf der Flucht über die Ostsee mit ihren Schiffen untergegangen sind; wenn wir der Menschen gedenken, die als Zwangsarbeiter nach Sibirien verschleppt worden sind; wenn wir der Toten gedenken, die während der Vertreibung umgekommen sind. Die Fähigkeit zu trauern geht Hand in Hand mit dem Mut, uns zu erinnern.
Es ist ein wunderbares Zeichen für ein neues Miteinander in Europa, dass es nach Jahrzehnten eifriger Polemik diesen Mut inzwischen auch in jenen Ländern gibt, die damals Schauplätze der schrecklichen Geschehnisse gewesen sind. In Polen wird der Kommandant des Flüchtlingslagers Lamsdorf vor Gericht gestellt. In Tschechien wird das Unrecht der Vertreibung von Millionen Menschen offen diskutiert; in Kroatien wird der Donauschwaben, Mitbürger von einst, gedacht. Ein Europa, das zusammenwächst, kann und darf es sich nicht leisten, die dunklen Schatten der Vergangenheit ohne Aufarbeitung zu verdrängen und zu vergessen. Schuld darf nicht aufgerechnet, aber sehr wohl ausgesprochen werden. Denn Versöhnung braucht vor allem Offenheit.
Wir schulden diese Offenheit nicht nur den nachfolgenden Generationen, nicht nur den Toten, derer wir gedenken, sondern auch den Überlebenden. Es muss den Augenzeugen von damals heute möglich sein, offen über ihr Erleben zu reden. In ein paar Jahren werden diese authentischen Stimmen verstummt sein. So gilt es jetzt, sie umfassend zu sichern. Es ist höchste Zeit.
Über tausend Interviews sind mit Zeitzeugen von Flucht, Vertreibung und Verschleppung für dieses Buch geführt worden. Die Erinnerungen sind oft schmerzlich. Schmerzlich für die Überlebenden – und schmerzlich auch für jene, die diese Geschichten zum ersten Mal lesen und hören. Ich bin dankbar, dass es nicht nur Interviews mit Deutschen waren, sondern ebenso auch Interviews mit Russen, Polen, Tschechen und Ukrainern. Wenn es heute möglich ist, zu den blutigen traumatischen Kapiteln unserer Geschichte eine gemeinsame Sprache zu finden, lassen sich die letzten Gräben überwinden – für die Zukunft aller in Europa. Wir haben erst seit ein paar Jahren die Möglichkeit, östlich von Oder und Neiße in bislang unveröffentlichte Akten einzusehen und bislang unbekanntes Filmmaterial auszuwerten. Zwar fanden wir kaum Bilder von dem Leid der Menschen, die gequält, gepeinigt und getötet wurden. Es gibt keine Filme über jene Deutschen, die ins Innere der Sowjetunion verschleppt wurden. Keine Filme von den Todeszügen, in denen Leichen waggonweise gestapelt wurden. Keine Bilder, die sich in das kollektive Bewusstsein eingebrannt haben. Doch was es gibt, ist die Erinnerung der Menschen, die all das erlebt haben.
Flucht und Vertreibung hatten nicht erst begonnen, als am 20. August 1944 ein Spähtrupp der Roten Armee östlich von Schillfelde über den Grenzfluss Scheschuppe setzte und der Zweite Weltkrieg Ostpreußen erreichte. Fünf Jahre vorher waren bereits die ersten Polen aus Posen und Westpreußen von Hitlers Helfern vertrieben worden. Drei Jahre vorher hatten bereits Himmlers Schergen von Finnland bis zum Schwarzen Meer eine Blutspur von millionenfachem Mord gezogen, um den Wahn vom Lebensraum im Osten zu verwirklichen. All das schlug nun zurück auf Schlesier und Sudetendeutsche, Ostpreußen und Pommern – kostete dreizehn Millionen Menschen die Heimat und darüber hinaus wohl bis zu zwei Millionen Menschen das Leben.
Es war die »Stunde der Vergeltung für die Qualen und Leiden, für die verbrannten Dörfer und zerstörten Städte, die Kirchen und Schulen, für die Verhaftungen, Lager und Erschießungen, für Auschwitz, Majdanek, Treblinka, für die Ausrottung des Ghettos« – so das Manifest des »Nationalen Polnischen Befreiungskomitees« vom Juli 1944. In jenem Juli 1944 hätte das Geschehen wohl zum letzten Mal noch abgewendet werden können. Wenn im Rastenburger Stadtwald das Attentat auf Hitler gelungen wäre – alles hätte anders kommen können. Dann wäre, ob durch eine provisorische Regierung Goerdeler oder durch ein Militärregime, der Krieg beendet worden – so oder so. Die Abtrennung Ostdeutschlands und die Vertreibung seiner Menschen hätten nicht verhindert werden können. Beides stand als alliiertes Kriegsziel ja längst fest. Doch dann wäre es vielleicht doch eine »Umsiedlung« geworden, halbwegs geordnet, eher im Sommer, nicht im Winter und nicht in überstürzter Flucht vor der Rache der Roten Armee. Die Rache war furchtbar. Angestachelt von den mörderischen Parolen eines Ilja Ehrenburg übten die Sowjets nun blutige Vergeltung an der deutschen Zivilbevölkerung. Von Stalingrad bis an die deutschen Grenzen waren sie den grausamen Spuren von Hitlers Vernichtungsfeldzug gefolgt. Nun zogen sie plündernd und mordend durch die deutschen Städte und Dörfer. Die Bilder jener Tage waren unbeschreiblich. Von Panzern überrollte Trecks auf vielen Straßen, ermordete Männer, vergewaltigte Frauen, getötete Kinder, erfrorene Babys – Augenzeugen, die das Grauen überlebten, werden diese Bilder nie vergessen können. Es waren keine Täter, an denen sich die Wut der Sieger austobte – es waren Wehrlose. Vor allem Frauen, Kinder, alte Menschen.
Vieles wäre der Zivilbevölkerung erspart geblieben, hätte man sie rechtzeitig evakuiert. Doch die Menschen durften ihre Dörfer und Städte nicht verlassen. Schließlich war es zu spät für eine sichere Rettung. Als die Rote Armee binnen weniger Tage die dünnen deutschen Verteidigungslinien an der Grenze zu Ostpreußen durchbrach und bei Elbing an die Ostseeküste vorstieß, saßen zweieinhalb Millionen Menschen in der Falle. So sammelten sich überall in aller Eile Trecks, die zu den Häfen strebten. Zu Fuß, mit Schlitten oder Pferdewagen versuchten die angstvollen Menschen, ein rettendes Schiff zu erreichen. Doch vor den scheinbar sicheren Häfen lag das Haff, eine bis zu zwanzig Kilometer breite, siebzig Kilometer lange Ostseebucht, die durch eine fünfzig Kilometer lange Landzunge, die Nehrung, von der offenen See getrennt ist. Schon die Überquerung des zugefrorenen Haffs war für viele ein Wettlauf mit dem Tod. In der dunklen Eiswüste kamen sie vom festen Weg ab, verirrten sich und brachen ein.
Durch den ganzen deutschen Osten zog sich eine Spur des Grauens: Kinderwagen mit erfrorenen Säuglingen standen am Straßenrand. Kadaver verhungerten Viehs säumten die Alleen – und immer wieder wurden Trecks von Tieffliegern zerschossen, von Panzern überrollt. Der britische Premier Winston Churchill schrieb am 1. Februar 1945 an seine Ehefrau: »Dir darf ich bekennen, dass die Berichte über die Massen deutscher Frauen und Kinder, die auf den Straßen in vierzig Meilen langen Kolonnen vor den vordringenden Armeen nach Westen fliehen, mein Herz mit Trauer erfüllen.«
Was die...