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E-Book

Die große Heuchelei

Wie der Westen seine Werte verrät

AutorJürgen Todenhöfer
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783843720267
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die Außenpolitik des Westens beruht auf einer zentralen Lüge: Seine weltweiten blutigen Militärinterventionen dienen nicht den Menschenrechten, sondern kurzsichtigen ökonomischen und geostrategischen Interessen. Jürgen Todenhöfer belegt dies mit erschütternden Beispiele und fordert: Der Westen muss die Menschenrechte endlich vorleben, anstatt sie nur vorzuheucheln. Unter dem Vorwand edler Ziele verfolgt der Westen mit seinen Militärinterventionen seit Jahrhunderten eine gewaltsame Interessenpolitik - längst nicht nur in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen oder im Jemen. Diese Politik der großen Heuchelei, die heute von mächtigen Medien mitgetragen wird, zerstört nicht nur andere Völker und Zivilisationen, sondern auch die Legitimität und Glaubwürdigkeit des Westens. Und sie gefährdet ihn selbst, denn ein Weitermachen wie bisher bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass nicht nur die Menschen weltweit, sondern auch in Europa wieder und wieder die Katastrophen ihrer Geschichte durchleben müssen. Jürgen Todenhöfer belegt seine Thesen mit packenden Beispielen, zusammen mit seinem Sohn recherchiert in den gefährlichsten Krisengebieten der Welt. Er fordert: Der Westen muss endlich die Interessen anderer Völker mitberücksichtigen, anstatt sie mit Füßen zu treten. Nur wenn er die humanistischen Werte, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, vorlebt und weltweit fair agiert, hat er eine Zukunft.

Jürgen Todenhöfer, geboren 1940 in Offenburg, war von 1972 bis 1990 CDU-Bundestagsabgeordneter. Von 1987 bis 2008 war er stellvertretender Vorsitzender eines großen Medienkonzerns, von 2017 bis 2018 Herausgeber der Wochenzeitung Der Freitag. Seit 2001 ist er Publizist und zählt zu den kenntnisreichsten Kritikern der westlichen Interventionen etwa in Afghanistan und im Irak. Er bereiste diese Kriegsgebiete viele Male, ebenso wie jene des Arabischen Frühlings und des 'IS'. Er ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern und weltweit übersetzt wurden.

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Leseprobe

1. KAPITEL
RÜCKKEHR NACH MOSSUL

Mossul, März 2017. Ein kühler, sonniger Tag. Zwei Jahre nach unserer Reise in den »Islamischen Staat« sind wir erneut in Mossul. Hier toben schwere Kämpfe. In einem Humvee der »Golden Division«, der Elite-Antiterror-Einheit der irakischen Armee, fahren wir Richtung Front. Wir, das sind zwei stämmige irakische Soldaten, eine ortskundige kurdische »Fixerin«, mein 33-jähriger Sohn Frederic und ich. Ohne »Fixer« mit guten Kontakten zu Militär und Bevölkerung kommt man in Mossul nirgendwohin.

Auf dem Dach des Humvees ein Maschinengewehr. Breitbeinig steht der MG-Schütze in unserem engen Kampffahrzeug. Mit seinen lehmverschmierten Stiefeln verdreckt er alle. Frederic stößt immer wieder mit dem Kopf gegen die harten Kanten des offenen Daches.

DER TOTE IS-KÄMPFER

Die Zerstörungen West-Mossuls sind apokalyptisch. Sie erinnern mich an die Verwüstungen von Ost-Aleppo, an deutsche Städte nach dem Krieg, an Hiroshima. Die Straße, auf der wir fahren, ist zu einem Lehmweg zusammengebombt. Links und rechts ausgebrannte, zusammengeschmolzene Autos, bizarre Häusergerippe. Um uns herum Maschinengewehrfeuer. Vor uns die Front. Ich schaue Frederic an. Er ist ganz ruhig.

Auf der rechten Straßenseite sehen wir einen toten IS-Kämpfer im schwarzen Kampfanzug. Aufgequollen liegt er auf dem Rücken. Wahrscheinlich ist er seit Tagen tot. Niemand hatte Zeit, Mut, Anstand, ihn zu bestatten. Freddy ist bleich. Ich wahrscheinlich auch.

Ich lasse anhalten. Nicht weit entfernt hören wir bellende Schüsse. Ich frage unseren Fahrer, wer da schieße: der IS oder seine Leute? Vorsichtig streckt er den Kopf aus dem Fahrzeug und lauscht. »Unsere Leute«, meint er.

Wir steigen aus. Frederic geht vor zu dem toten IS-Kämpfer, um zu filmen. Ich will mir das nicht antun. Und gehe langsam in die andere Richtung. Vor mir ein mehrstöckiges Haus, das die Straße abschließt. Ich ahne nicht, dass ich auf eine Stellung des IS zulaufe. Dass ich im Visier des IS bin.

Ich will nachdenken. Über den toten Kämpfer, der hinter mir im Staub liegt. Über den Aufstieg und Fall des angeblich unbesiegbaren IS. Über die in Grund und Boden gebombten Stadtviertel, in denen Tausende Zivilisten ihr Leben verloren haben. Darüber, dass all das im Westen niemanden interessiert.

Die Schießerei hat aufgehört. Ich will umkehren. Zu unserem Humvee zurück. Plötzlich schlägt zischend, pfeifend, peitschend neben mir eine Kugel ein. Steinsplitter spritzen auf. Geduckt stürze ich zum Humvee. Frederic reißt mich ins Fahrzeug, zerrt die gepanzerte Tür zu.

»Verdammt knapp!«, flucht unser irakischer Fahrer. Die kurdische Fixerin bekommt kein Wort heraus. Nach einer Weile sagt sie, etwas so Enges habe sie noch nie erlebt. Ich sei dem Tod direkt entgegengelaufen. Freddy ist kreidebleich. Er hat im Rücken einen Steinsplitter abbekommen. Er blutet nur leicht. Obwohl die Wunde recht tief ist. Stumm legt er seine Hand auf meine Schulter.

DIE TRAGÖDIE MOSSULS

Seit meiner Rückkehr aus dem »Islamischen Staat« vor zwei Jahren wusste ich: Ich musste nach Mossul zurück. Die jahrtausendealte multikulturelle, multireligiöse Weltstadt im Norden des Irak hatte mich immer angezogen.

Schon Anfang 2003, kurz vor der US-Invasion, hatte ich sie besucht und bewundert. Stundenlang war ich durch ihre Gassen geschlendert. Sunniten, Schiiten, Jesiden und Christen lebten hier harmonisch zusammen. Genauso wie Araber und Kurden. Die Menschen waren mir gegenüber sehr freundlich, obwohl sie unter den Sanktionen des Westens bitter zu leiden hatten. Diese Sanktionen, die der Vatikan »pervers« nannte, hatten in Mossul Tausende Menschen getötet. Im Gesamt-Irak hatten sie einer halben Million Kindern das Leben gekostet.

Nach der US-Invasion und dem Sturz Saddams hatte für die sunnitische Mehrheit Mossuls eine erneute Leidenszeit begonnen. Die neuen schiitischen Herrscher gingen hart gegen die einst so mächtigen Sunniten vor. Sie ließen sie spüren, dass ihre Zeit vorbei war. Durch Schikanen, durch Verhaftungen, durch Todesschwadronen.

Doch im Juni 2014 eroberten überraschend ein paar Hundert IS-Kämpfer Mossul. Zusammen mit gemäßigteren Widerstandsgruppen, die der IS schnell wieder ausschaltete. Die Sunniten von Mossul wehrten sich nicht gegen die »sunnitischen« Eroberer. Zu sehr waren sie von den Schiiten schikaniert worden. Außerdem hätten sie gegen den fanatischen IS keine Chance gehabt.

Sehr schnell bekamen auch die Sunniten Mossuls die Brutalität des IS zu spüren. Und gleichzeitig die der US Air Force. Die nahm bei ihren Luftangriffen gegen den IS keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Die Stadt geriet vom Regen in die Traufe.

Der IS durfte sich über den Bombenkrieg der USA nicht beschweren. Er hatte die militärische Auseinandersetzung mit den Amerikanern gesucht. Und bekommen. Zwar hätte der IS lieber gegen US-Bodentruppen gekämpft. Doch dass nun eine von den USA geführte Koalition von über sechzig Nationen gegen sie bombte und vielleicht irgendwann auch marschierte, machte die meisten IS-Kämpfer eher stolz als bange. Angeblich war ihnen all das in alter Zeit vorausgesagt worden: ihre Siege, ihre Niederlagen und schließlich der Endsieg. Der IS liebte die David-Rolle. Gegen den Goliath USA, gegen die ganze Welt. Sein Größenwahn kannte keine Grenzen. Auch dass die USA die vom IS besetzten Städte Tikrit, Baidschi, Ramadi, Falludscha in Grund und Boden bombten und zurückeroberten, brachte seine Überzeugungen nicht ins Wanken. Der IS war und ist bis heute überzeugt, eines Tages den Endsieg zu erringen.

DIE FRONT

Es ist früher Mittag. Der IS, der nur wenige Hundert Meter von uns kämpft, weiß, dass ganz Mossul fallen wird. Ost-Mossul ist von den US-Koalitionstruppen bereits zurückerobert worden, West-Mossul zu großen Teilen zerstört. Und doch geben die verbliebenen 2000 IS-Kämpfer nicht auf. Dass ihnen eine Übermacht von 100 000 Mann gegenübersteht, stört sie nicht. Auch dass zusammen mit ihnen noch immer 400 000 Zivilisten in der Stadt eingeschlossen sind, interessiert sie nicht. Von so etwas lassen sich apokalyptische Kämpfer nicht aufhalten. Fanatiker geben nie auf. Jeden Tag sprengten sich in Ost- und West-Mossul Selbstmordattentäter des IS in die Luft. Auch während unseres Aufenthaltes.

Wir gehen zu zwei Scharfschützen der irakischen Streitkräfte im obersten Stock einer Hausruine. Der eine sitzt, der andere liegt hinter seinem Maschinengewehr. Durch Schießscharten blicken sie auf die vom IS kontrollierte Altstadt. Auf das schiefe Minarett der Al-Nuri-Moschee. Dort hatte der »Kalif« des »Islamischen Staats« Abu Bakr Al-Baghdadi im Juni 2014 seinen einzigen öffentlichen Auftritt gehabt. Auch Frederic und ich waren im Dezember 2014 dort gewesen.

Die Front ist nur noch 300 Meter entfernt. Auch dort sitzen und liegen Scharfschützen des IS. Auch sie warten stunden- und tagelang, bis jemand vor ihr Präzisionsgewehr läuft. Natürlich sind auch die Scharfschützen, die wir gerade besuchen, in ihrem Visier.

DIE KOMMANDOZENTRALE DER »GOLDEN DIVISION«

Wir fahren zurück zum Hauptquartier der Golden Division. Ein Dutzend US-Humvees und Kommunikationsfahrzeuge mit großen Antennen stehen hier. Wir sehen amerikanische Soldaten. Obwohl es in Mossul offiziell gar keine US-Soldaten gibt. Frederic filmt. Er ist nicht nur mein wichtigster Freund und Berater. Er ist auch »Chef-Dokumentator«. Er fotografiert, filmt und protokolliert.

Überall sehen wir Kämpfer ohne militärische Erkennungszeichen. Vielleicht gehören sie Spezialkräften des irakischen Geheimdienstes an. Oder schiitischen Milizen, deren Brutalität die sunnitische Bevölkerung besonders fürchtet. Hatte die US-Koalition nicht versprochen, keine schiitischen Milizen im sunnitischen Mossul einzusetzen?

Manches erinnert an unsere Erlebnisse auf der Krim. Die Russen dort hatten auch keine militärischen Erkennungszeichen getragen. Ihre Regierung wurde dafür weltweit kritisiert. Ein westlich aussehender, perfekt US-Englisch sprechender Offizier ohne Hoheitsabzeichen erklärt mir lächelnd, im Krieg gebe es nun mal Dinge, die es nicht gebe. Nur weniges sei weiß, vieles grau, das meiste aber sei schwarz. Tiefschwarz.

Ich unterhalte mich lange mit dem Oberkommandierenden der Golden Division, Lt. General Abdul Ghani Al-Asadi. Ein knorriger, jovialer Mann. Für ihn hat der IS nichts mit Islam zu tun. Er zerstöre gezielt die zentralen Botschaften des Koran. Jeder kenne die Länder, die ihn bezahlten.

WO JUNGE SOLDATEN ZIELFOTOS KOORDINIEREN

Der General erlaubt uns, aufs Dach des Hauptquartiers zu gehen. Dort wollen wir uns einen Überblick über die militärische Lage in Mossul verschaffen. Wir sehen Erstaunliches. Wir wussten immer, dass die Luftschläge der 68-Mächte-Koalition irgendwo koordiniert werden mussten. Wir dachten an einen hoch technisierten Computerraum in den USA oder sonst wo auf der Welt. Aber dass ein US-Koordinationsteam ganz einfach auf einer sonnigen Dachterrasse in Mossul saß, nur wenige Kilometer von der Front entfernt, hatten wir nicht erwartet.

Fünf junge amerikanische...

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