Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?
Kant konnte die fundamentale Frage seiner Philosophie: Wie ist Natur möglich? — nur stellen und nur beantworten, weil für ihn Natur nichts andres war als die Vorstellung von der Natur.
Dies bedeutet nicht etwa nur, dass »die Welt meine Vorstellung ist«, dass wir also auch von Natur nur soweit sprechen können, wie sie ein Inhalt unseres Bewusstseins ist; sondern, was wir Natur nennen, ist eine besondre Art, auf die unser Intellekt die Sinnesempfindungen zusammensetzt, anordnet, formt.
Diese »gegebenen« Empfindungen, des Farbigen und Schmeckbaren, der Töne und der Temperaturen, der Widerstände und der Gerüche, die in der zufälligen Folge subjektiven Erlebens unser Bewusstsein durchziehen, sind für sich noch nicht »Natur«, sondern sie werden es durch die Aktivität des Geistes, der sie zu Gegenständen und Reihen derselben zu Substanzen und Eigenschaften, zu ursächlichen Verknüpftheiten zusammen stellt.
Wie uns die Elemente der Welt unmittelbar gegeben sind, besteht nach Kant unter ihnen nicht diejenige Verbindung, die allein aus ihnen die verständliche, gesetzmäßige Einheit der Natur macht, oder richtiger: die eben das Natursein jener an sich inkohärenten und regellos auftauchenden Weltfragmente bedeutet.
So wächst das Kantische Weltbild in dem eigentümlichsten Widerspiel: unsre Sinneseindrücke sind ihm rein subjektiv, da sie von der physisch-psychischen Organisation, die bei andern Wesen eine andre sein könnte, und von der Zufälligkeit ihrer Erregungen abhängen, aber sie werden zu »Objekten«, indem sie von den Formen unsres Intellekts aufgenommen, durch diese zu festen Regelmässigkeiten und zu einem zusammenhängenden Bild der »Natur« gestaltet werden; andrerseits aber sind jene Empfindungen doch das real Gegebene, der unabänderlich hinzunehmende Inhalt der Welt und die Gewähr für ein von uns unabhängiges Sein, so dass nun grade jene intellektuellen Formungen ihrer zu Objekten, Zusammenhängen, Gesetzlichkeiten als subjektiv erscheinen, als das von uns Mitgebrachte gegenüber dem, was wir vom Dasein empfangen, als die Funktionen des Intellektes selbst, die, selbst unveränderlich, aus einem andern Sinnesmaterial eine inhaltlich andre Natur gebildet hätten.
Natur ist für Kant eine bestimmte Art des Erkennens, ein durch unsre Erkenntniskategorien und in ihnen erwachsendes Bild.
Die Frage also: wie ist Natur möglich? — d. h. welches sind die Bedingungen, die vorliegen müssen, damit es eine Natur gebe — löst sich ihm durch die Aufsuchung der Formen, die das Wesen unsres Intellekts ausmachen und damit die Natur als solche zustande bringen.
Es würde nahe liegen, die Frage nach den apriorischen Bedingungen, auf Grund deren Gesellschaft möglich ist, in analoger Weise zu behandeln.
Denn auch hier sind individuelle Elemente gegeben, die in gewissem Sinne auch immer in ihrem Auseinander bestehen bleiben, wie die Sinnesempfindungen es tun, und ihre Synthese zu der Einheit einer Gesellschaft nur durch einen Bewusstseinsprozess erfahren, der das individuelle Sein des einzelnen Elementes mit dem des andern in bestimmten Formen nach bestimmten Regeln in Beziehung setzt.
Die entscheidende Differenz der Einheit einer Gesellschaft gegen die Natureinheit aber ist diese: dass die letztere — für den hier vorausgesetzten Kantischen Standpunkt — ausschließlich in dem betrachtenden Subjekt zustande kommt, ausschließlich von ihm an und aus den an sich unverbundenen Sinneselementen erzeugt wird, wogegen die gesellschaftliche Einheit von ihren Elementen, da sie bewusst und synthetisch aktiv sind, ohne weiteres realisiert wird und keines Betrachters bedarf.
Jener Satz Kants: Verbindung könne niemals in den Dingen liegen, da sie nur vom Subjekte zustande gebracht wird, gilt für die gesellschaftliche Verbindung nicht, die sich vielmehr tatsächlich in den "Dingen" — welche hier die individuellen Seelen sind — unmittelbar vollzieht.
Auch sie bleibt natürlich als Synthese, etwas rein seelisches und ohne Parallele mit Raumgebilden und deren Wechselwirkungen.
Aber die Vereinheitlichung bedarf hier keines Faktors außerhalb ihrer Elemente, da jedes von diesen die Funktion übt, die dem Äußeren gegenüber die seelische Energie des Beschauers ausführt: das Bewusstsein, mit den andern eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit.
Dies bedeutet natürlich einerseits nicht das abstrakte Bewusstsein des Einheitsbegriffes, sondern die unzähligen singulären Beziehungen, das Gefühl und Wissen um dies Bestimmen und Bestimmtwerden dem andern gegenüber und schliesst anderseits ebenso wenig aus, dass etwa ein beobachtender Dritter außerdem auch noch zwischen den Personen eine nur in ihm begründete Synthese, wie zwischen räumlichen Elementen, vollzieht.
Welcher Bezirk des äußerlich-anschaulichen Seins zu einer Einheit zusammenzufassen ist, das ergibt sich nicht aus seinem unmittelbaren und schlechthin objektiven Inhalt, sondern wird durch die Kategorien des Subjekts und von seinen Erkenntnisbedürfnissen her bestimmt.
Die Gesellschaft aber ist die objektive, des in ihr nicht mitbegriffenen Beschauers unbedürftige Einheit.
Die Dinge in der Natur sind einerseits weiter auseinander als die Seelen; die Einheit des einen Menschen mit dem andern, die im Verstehen, in der Liebe, im gemeinsamen Werk liegt — zu ihr gibt es in der räumlichen Welt, in der jedes Wesen seinen mit keinem andern teilbaren Raum einnimmt, überhaupt keine Analogie.
Andrerseits' aber gehen die Stücke des räumlichen Seins in dem Bewusstsein des Beschauers zu einer Einheit zusammen, die nun wieder von dem Zusammen der Individuen nicht erreicht wird.
Denn dadurch, dass die Gegenstände der Synthese hier selbständige Wesen, seelische Zentren, personale Einheiten sind, wehren sie sich gegen jenes absolute Zusammengehen in der Seele eines andern Subjektes, dem die »Selbstlosigkeit« der unbeseelten Dinge sich fügen muss.
So ist eine Anzahl von Menschen realiter in viel höherem, idealiter aber in viel geringerem Maße eine Einheit, als Tisch, Stühle, Sofa, Teppich und Spiegel »eine Zimmereinrichtung« bilden oder Fluss, Wiese, Bäume, Haus »eine Landschaft« oder auf einem Gemälde »ein Bild« sind. — In ganz andrem Sinne als die äussre Welt ist die Gesellschaft »meine Vorstellung«, d. h. auf die Aktivität des Bewusstseins gestellt.
Denn die andre Seele hat für mich eben dieselbe Realität wie ich selbst, eine Realität, die sich von der eines materiellen Dinges sehr unterscheidet.
Wenn Kant noch so sehr versichert, dass die räumlichen Objekte genau die gleiche Sicherheit hätten wie meine eigne Existenz, so können mit der letzteren nur die einzelnen Inhalte; meines subjektiven Lebens gemeint sein; denn die Grundlage des Vorstellens überhaupt, das Gefühl des seienden Ich hat eine Unbedingtheit und Unerschütterlichkeit, die von keiner einzelnen Vorstellung eines materiellen Äußerlichen erreicht wird.
Aber eben diese Sicherheit hat für uns, begründbar oder nicht, auch die Tatsache des Du und als Ursache oder als Wirkung dieser Sicherheit fühlen wir das Du als etwas von unsrer Vorstellung seiner Unabhängiges, etwas, das genau so für sich ist, wie unsre eigne Existenz.
Dass dieses Für sich des Andern uns nun dennoch nicht verhindert, ihn zu unsrer Vorstellung zu machen, dass etwas, das durchaus nicht in unser Vorstellen aufzulösen ist, dennoch zum Inhalt, also zum Produkt dieses Vorstellens wird — das ist das tiefste, psychologisch-erkenntnistheoretische Schema und Problem der Vergesellschaftung.
Innerhalb des eignen Bewusstseins unterscheiden wir sehr genau zwischen der Fundamentalität des Ich, der Voraussetzung alles Vorstellens, die an der nie ganz zu beseitigenden Problematik seiner Inhalte nicht Teil hat—und diesen Inhalten, die sämtlich mit ihrem Kommen und Gehen, ihrer Bezweifelbarkeit und Korrigierbarkeit, sich als bloße Produkte jener absoluten und letzten Kraft und Existenz unsres seelischen Seins überhaupt darstellen.
Auf die andre Seele aber, obgleich wir sie schließlich doch auch vorstellen, müssen wir eben diese Bedingungen oder vielmehr: Unbedingtheiten des eignen Ich übertragen, sie hat für uns jenes äußerste Realitätsmaß, das unser Selbst seinen Inhalten gegenüber besitzt und von dem wir sicher sind, dass es auch jener andern Seele ihren Inhalten gegenüber zukommt.
Unter diesen Umständen hat die Frage: wie ist Gesellschaft möglich? — einen völlig andern methodischen Sinn als die: wie ist Natur möglich?
Denn auf die letztere antworten die Erkenntnisformen, durch die das Subjekt die Synthese gegebener Elemente zur »Natur« vollzieht, auf die erstere aber die in den Elementen selbst a priori gelegenen Bedingungen, durch die sie sich real zu der Synthese "Gesellschaft" verbinden.
In gewissem Sinne ist der gesamte Inhalt dieses Buches, wie er sich auf Grund des vorangestellten Prinzips entwickelt, der Ansatz zur Beantwortung dieser Frage.
Denn es sucht die, schließlich in Individuen sich vollziehenden, Vorgänge auf die das Gesellschafts-Sein dieser bedingen — nicht als zeitlich vorangehende Ursachen für dieses Resultat, sondern als Teilvorgänge der Synthese, die wir zusammenfassend die Gesellschaft nennen.
Allein die Frage ist noch in einem fundamentaleren Sinne zu verstehen.
Ich sagte, dass die Funktion, die synthetische Einheit zu vollziehen, die der Natur gegenüber in dem anschauenden Subjekt ruht, der Gesellschaft gegenüber auf die Elemente eben dieser selbst...