Einleitung
Literatur zwischen Markt,
Macht und Medien
Ein Gespenst geht um im deutschen Literaturbetrieb – das Gespenst der Gruppe 47. Obwohl sie seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr existiert, geistert sie noch immer durch die Debatten: mal als Popanz, mal als Vorbild, mal als abschreckendes Beispiel. Was es mit ihr auf sich hatte, wissen die meisten allenfalls noch durch Gerüchte und meinungsstarke Thesen. Großen Einfluss auf die Art und Weise, wie über diese Autorenvereinigung gesprochen wird, hat zudem die Tatsache, dass einige ihrer Protagonisten im Grunde bis heute den literarischen Diskurs bestimmen. Wenn Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki oder Martin Walser auftreten oder anderweitig ihre Ansichten kundtun, findet das immer noch den stärksten Widerhall in den Medien. Sie sind Debattenkönige, Auslöser für Streitgespräche und Artikelserien. Sie mögen polarisieren, aber ihnen gehört immer noch die Aufmerksamkeit. Man wendet sich von ihnen ab, längst hat man Haltungen der Ablehnung oder der Verachtung kultiviert, aber ihre Namen sind nach wie vor Markenzeichen. Noch als 80- bis 90-Jährige schaffen sie es eher, im Mittelpunkt zu stehen, als die meisten Protagonisten der Autorengenerationen danach. Der Verdacht liegt nahe, dass sie die Mechanismen ihrer öffentlichen Wirkung bei der Gruppe 47 gelernt haben. Denn dort wurde die Literatur zum Betrieb, die Gruppentagungen waren eine Art Praktikum für rhetorische Mittel, für moderne Kommunikationstechniken, für die Praxis der Vernetzung, noch ehe überhaupt die Begriffe dafür gefunden wurden.
Die Ausgangsbedingungen hätten nicht idealer sein können: Man traf sich einmal, nur in den Anfängen auch zweimal im Jahr, drei Tage lang, und diese drei Tage waren der Katalysator des literarischen Lebens. Es gab keinerlei Konkurrenzveranstaltungen, keine Festivals oder sonstige Events – alles konzentrierte sich auf die jeweilige Tagung der Gruppe 47. Deshalb liegt es nahe, genauer hinzusehen, wie sich hier der Literaturbetrieb verdichtete, wie hier all das entwickelt wurde, was heute als selbstverständlich gilt – vor allem auch alle Aspekte der Medialisierung und Kommerzialisierung von Literatur. Es ist nicht überraschend, dass es eine Vielzahl von Studien und Analysen über die Gruppe 47 gibt. Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach ihrem Ende 1967 war sie ein viel diskutierter Gegenstand. Sie erzeugte eine unübersehbare Flut von wissenschaftlichen und von populären Arbeiten. Dabei wurde die immense Bedeutung der Gruppe für das gesellschaftliche und literarische Leben der Bundesrepublik als gegeben vorausgesetzt, man sezierte fieberhaft die diversesten Einzelaspekte. Merkwürdigerweise gibt es aber bis heute keine umfassende Gesamtdarstellung dieser Gruppe und ihrer Geschichte. Es mehren sich zwar polemische Zuspitzungen, aber neben der notwendigerweise gerafften Rowohlt-Monografie von Heinz Ludwig Arnold und seinem eher wissenschaftlich-systematisch ausgerichteten Göttinger »Text + Kritik«-Projekt existiert bisher kaum ein größer angelegter Versuch, die Gruppe 47 als Gesamtes zu betrachten. Dabei wäre es an der Zeit, die historische Distanz zu nutzen und die Gruppe 47 als hochinteressantes Phänomen nachzuzeichnen, als ein wichtiges Kapitel der Literaturgeschichte, ohne sofort in Parteigängertum oder hämische Ablehnung zu verfallen. Die Mitschnitte der Gruppendiskussionen, die in den Rundfunkarchiven liegen, wie auch die verdienstvolle Edition des Briefwechsels des Gruppenchefs Hans Werner Richter, die Sabine Cofalla 1997 vorgelegt hat, bieten schon seit geraumer Zeit eine solide Grundlage dafür.
Am entrücktesten ist mittlerweile wohl die gesellschaftliche Funktion, die die Gruppe gehabt hat und die heute vor allem mit der Person von Günter Grass identifiziert wird – mit jener Art moralischer Instanz, die er für sich in Anspruch nimmt. Man assoziiert mit der Gruppe 47 automatisch etwas sozialdemokratisch Leitartikelhaftes. Es blieb bei den Tagungen der Gruppe allerdings bis zum Schluss so, dass in den Diskussionen nur konkret über die gelesenen literarischen Texte verhandelt wurde. Es war ein Tabu, allgemein zu werden oder gar das engere Feld des Literarischen zu verlassen. Ein ironisches Statement Helmut Heißenbüttels, das oft zitiert wird, schien sich vor allem gegen eine dominierende sozialdemokratische Moral zu richten: »Versuchte man, den Durchschnitt aller Stile der Autoren der ›Gruppe 47‹ zu bilden, käme der von Siegfried Lenz heraus.«1
Dabei war das vor allem ein listiger Versuch Heißenbüttels, von der Funktion abzulenken, die die Gruppe für ihn selbst gehabt hat. Denn er war seit 1955 bei den Tagungen dabei und galt früh als eine Art Maskottchen der Gruppe – als experimenteller Autor, der zum Teil komische und groteske Wirkungen erreichte. Heißenbüttel galt bald als der Vorzeigeautor der modernen, mit der Sprache als Material operierenden Poesie und nutzte dies auch, wie seine Aussage zeigt, offensiv als exklusives Markenzeichen – die Gruppe 47 aber war das einzig mögliche Forum für ihn. Es gab kein anderes für jemanden mit seinem Profil. Es ist durchaus von einem gewissen Aussagewert, wenn Joachim Kaiser in seinem Bericht über die Tagung im schwedischen Sigtuna 1964, die allgemein als der Höhepunkt der Außenwirkung der Gruppe 47 angesehen wurde, den Satz schrieb: »Heißenbüttel schloß die Sigtuna-Tagung triumphal ab.«2
Günter Grass war zwar durch seinen überragenden Erfolg mit der Blechtrommel der berühmteste Autor der Gruppe, aber durch ihn und durch den vor allem einem reportagehaften Realismus verpflichteten Gruppeninitiator Hans Werner Richter wurde überdeckt, dass sich bald ganz andere Tonlagen entwickelt hatten. Grass, Richter und die wenigen verbliebenen alten Getreuen um den Chef befanden sich schon zu Beginn der sechziger Jahre ästhetisch in der Defensive. Das geschah nicht nur durch das »Maskottchen« Heißenbüttel, sondern vor allem durch Autoren wie Peter Weiss, Reinhard Lettau, Jürgen Becker oder auch Alexander Kluge. Kluge, Mitautor des »Oberhausener Manifests« des jungen deutschen Films 1962, wurde von Richter noch im gleichen Jahr zur Gruppentagung in Berlin eingeladen und war von diesem Zeitpunkt an einer der profiliertesten Autoren auf den Tagungen; er stand, neben seinen ungewohnten und die Normen sprengenden Collage-Texten, auch für die frühe Verbindung zum Film. Dass mit Hubert Fichte, Peter O. Chotjewitz oder Peter Handke auch die ersten deutschen Pop-Autoren vertreten waren und heftig diskutiert wurden, sei hier nur am Rande vermerkt.
Die Gruppe 47 war immer widersprüchlich und heterogen. Sie war weit mehr als ihr Gründer Hans Werner Richter und kann in den in ihr vertretenen literarischen Positionen keineswegs mit ihm gleichgesetzt werden. Richter selbst hielt sich seit Mitte der fünfziger Jahre weitgehend mit ästhetischen Urteilen zurück und fungierte nur noch als Organisator, Herbergsvater und Diskussionsleiter. Dabei bekannte er manchmal auch, dass er mit den Texten, die die literarische Bedeutung der Gruppe 47 erst ausmachen sollten, nicht so viel anfangen konnte – Texte, die mit der unmittelbaren Aufarbeitung der Generations- und Kriegserfahrung seiner Altersgruppe nichts mehr zu tun hatten. Doch Richter und auch Grass stehen, je mehr die konkreten Kenntnisse über die wahren Abläufe verschwinden, umso stärker im Mittelpunkt der Urteile. Ein typisches Beispiel ist das Bonmot vom »sozialdemokratischen Realismus«, das Martin Mosebach in einer Rede vom September 2011 bei der Schwedischen Akademie in Stockholm verwendete.3 Das ist zwar hübsch pointiert, geht aber an den Texten, die in der Gruppe 47 in den fünfziger und sechziger Jahren als die zentralen diskutiert wurden, völlig vorbei. Dass sich in der Entwicklung der Gruppe 47 die Entstehung eines spezifischen bundesdeutschen Literaturbetriebs abzeichnete, lag nicht zuletzt daran, dass hier zum ersten Mal wichtige neue literarische Stimmen zu vernehmen waren. Die ästhetischen Auseinandersetzungen, die auf den Tagungen geführt wurden, die Positionen, die dabei aufeinanderprallten, sind ein wichtiges kulturgeschichtliches Zeugnis für die intellektuelle Entwicklung der Bundesrepublik. Selbst beim Umgang mit Schriftstellern wie Heimito von Doderer, Albert Vigoleis Thelen oder Paul Celan, die mittlerweile oft pauschal als Kronzeugen für die Beengtheit und Kurzsichtigkeit der Gruppe 47 genannt werden, muss das Urteil weitaus differenzierter ausfallen, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird.
Zu einem eigenen Mythologem hat sich mittlerweile der Auftritt von Paul Celan bei der Frühjahrstagung 1952 an der Ostsee entwickelt. Oft kolportiert worden ist eine unsägliche Attacke Hans Werner Richters, die sich in der Rezeption schnell verselbständigt hat. Dieses Thema ist sehr komplex. Hier sei aber schon darauf hingewiesen, dass das Hauptproblem für Celan keineswegs die Gruppe 47 war. Außer Blick geraten ist in späteren Darstellungen, dass Celan genau registrierte, woher die aggressivsten Angriffe gegen seine Lyrik und seine Person kamen: von jenen einflussreichen Kritikern nämlich, die so etwas wie das Establishment darstellten und gleichzeitig als die heftigsten Gegner der Gruppe 47 in Erscheinung traten. Zwei Namen sind hier vor allem zu nennen: zum einen Günter Blöcker, dessen antisemitischer Verriss des Gedichtbands Sprachgitter 1959 zum wichtigsten Katalysator in Celans Verhältnis zum deutschen Literaturbetrieb wurde.4 Zum anderen Hans Egon Holthusen: Er veröffentlichte in den sechziger Jahren einen zweiten folgenschweren Verriss Celans voller Ressentiments und mit einem engstirnigen...