Einleitung
Zwei Bäume –
das Schicksal der Menschheit
»Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.
Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse…« (Genesis 2/7)
Das Paradies – der Ort auf Erden, an dem es keine Not, keine Entbehrung, keine Mühsal, keinen Tod gegeben hat, die ursprüngliche Heimat des Menschen – war ein wunderschöner Baumgarten. In seiner Mitte stand nicht nur ein ganz besonderer Baum, der mit dem strikten Verbot belegt war: »Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen. Sobald du davon ißt, wirst du sterben.« (Genesis 2/16)
Neben diesem Baum gab es noch einen zweiten herausragenden Baum: den Baum des Lebens. Für seine Früchte existierte kein Verbot. Doch die ersten Menschen haben sich offensichtlich nicht für das interessiert, was ihnen Unsterblichkeit vermitteln und das ungetrübte Glück hätte erhalten können – sondern für die Erkenntnis, für das Bewußtsein, wie wir heute wohl sagen würden.
Die beiden Bäume in der Mitte des Paradieses sind die Schicksalsbäume der Menschheit geworden.
Verführt von der Schlange – aber wohl mehr noch von der lockenden Köstlichkeit der Früchte, von der Ahnung, daß es noch mehr geben muß, als Unbekümmertheit – übertraten die Stammeltern das Verbot – vielleicht müßte man auch hier eher formulieren: die Warnung. Eva »nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz…« (Genesis 3/6)
Das heißt doch: Die ›Unschuld‹ des rein animalischen Daseins war mit dem Genuß der verbotenen Früchte dahin. Im Menschen ist das Bewußtsein aufgeblitzt – und damit wurde er belastet mit all dem, was ihn seither unglücklich, leidend, krank macht: mit der Angst vor der Zukunft; mit dem Wissen um die eigene Unzulänglichkeit, der Allgegenwart und ständigen Verfügbarkeit der Sexualität (»Sie erkannten, daß sie nackt waren…«); mit der Freiheit, fortan nicht mehr nur natürlichen Regungen und Instinkten zu folgen, sondern ›widernatürlich‹ und sogar gegen die eigene Einsicht und Überzeugung handeln zu können – was Scham und das Gefühl der Schande, Bedauern und verzehrende Reue nach sich ziehen mußte; mit dem Erleben mächtiger Gefühlsregungen wie Haß und Neid, Lüge und Mißtrauen…
Damit aber war alles verloren, was das Paradies ausgemacht hatte: der innere Friede, die Geborgenheit in der natürlichen Schöpfung, das Freisein von Leid und Krankheit – und auch der Zugang zum Baum des Lebens, der nur im Paradies zu finden ist und nur dem in Glück und Harmonie lebenden Geschöpf seinen Segen, nämlich Gesundheit und ewiges Lebens, schenkt.
Der Baum der Erkenntnis hat das Gottesgeschöpf zum Menschen gemacht – mit der Fähigkeit, über sich und die Welt nachzudenken, zum Techniker, zum Wissenschaftler, zum gottähnlichen Wesen zu werden, wie es die Schlange versprochen hatte. Der riesige Verlust brachte einen noch größeren Gewinn: die Chance nämlich, ein wesentlich größeres Glück zu finden, ein Glück, das bewußt erlebt werden kann. Doch der Weg dahin führt durch die Zerrissenheit, durch Not und Leid.
Die Bibel schildert das so: Weil Adam und Eva gegen das Verbot im Paradies verstießen, wird die Natur vom Schöpfer verflucht. Zur Frau sagt er: »Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach dem Mann, er aber wird über dich herrschen.« Zum Manne sagt er: »So ist verflucht deinetwegen der Ackerboden. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln läßt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes mußt du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden, von dem du genommen bist. Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück.«
Der Zugang zum Baum des Lebens wird damit vorerst blockiert: Dann sprach Gott der Herr: »Seht, der Mensch ist geworden wie wir. Er erkennt Gut und Böse. Daß er jetzt nur nicht auch noch die Hand ausstreckt und auch vom Baum des Lebens nimmt, davon ißt und ewig lebt!« Damit dies nicht geschehen kann, vertreibt der Schöpfer die Menschen aus dem Paradies und läßt den Zugang zum Baum des Lebens mit Schwert und Feuer bewachen.
Ist der Weg zurück damit für immer verbaut?
Nein. In den letzten Zeilen der Heiligen Schrift, in der Apokalypse des Johannes, taucht der Baum des Lebens wieder auf. Er steht in der heiligen Stadt Jerusalem, wo nach dem Jüngsten Tag die Seligen leben, zu beiden Seiten des kristallklaren Stroms mit dem Wasser des Lebens, der vom Thron Gottes und vom Thron des Lammes ausgeht: »Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens.
Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal. Und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker. Denn: der alte Fluch, bei der Vertreibung aus dem Paradies ausgesprochen, ist aufgehoben: »Es wird nichts mehr geben, was der Fluch Gottes trifft… Selig, wer sein Gewand wäscht. Er hat Anteil am Baum des Lebens« (Apokalypse 22/3; 22/14)
Das heißt: Wir Menschen sind unterwegs zum Baum des Lebens. Er ist uns nicht verloren. Wir werden ihn finden, wenn wir unsere mit dem Genuß der Früchte vom Baum der Erkenntnis erworbene Zerrissenheit überwunden haben.
Überaus eindrucksvoll skizziert die Heilige Schrift knapp aber unübertrefflich das Schicksal der Menschheit: Adam und Eva haben sich nicht für das ungetrübte Wohlergehen entschieden, sondern für das Wissen und Denken, für die Gottähnlichkeit, für das Menschsein. Sie sind nicht schuldig geworden im herkömmlichen Sinn, sondern haben die Tür aufgestoßen, einen ganz wichtigen Schritt der Evolution vollzogen – einen Schritt, der gefährlich war, viel Not, Entbehrung, Gefahren, Fehler ermöglichte, ohne den Menschsein aber nicht möglich gewesen wäre. Wir müssen mit Zerrissenheit und Anfälligkeiten leben, mit der Chance, alles zu erreichen, und dem Risiko, alles zu zerstören. Bis zu jenem Tag, an dem wir die Zerrissenheit durch einen neuen gewaltigen Schritt überwunden haben, weil wir hineingewachsen sind in eine größere Menschlichkeit, die in ihren Naturanlagen nichts ›Tierisches‹, nichts Verwerfliches, nichts Sündhaftes mehr sieht, das es zu überwinden gälte. Erst dann, wenn wir die beiden Zentralbäume des Paradieses gekostet haben, wird die Unrast unseres Herzens gestillt sein.
Anders gesagt: Krankheit, Leid, Not und Tod sind nicht das Ergebnis einer verwerflichen Schuld, die wir abzubüßen hätten, sondern die Folge des Heraustretens aus der reinen Animalität, des Wachsens in eine höhere Daseinsform, des Ringens um unsere Selbstverständlichkeit. Wir werden gesund, glücklich, ja auch unsterblich geworden sein, wenn wir die vollkommene Harmonie mit dem Mitmenschen und der gesamten Schöpfung zurückgewonnen haben.
Im Augenblick, so scheint es, stehen wir an einer bedeutsamen Schwelle dieses Weges. Und wieder spielen die Bäume eine ganz entscheidende Rolle: In ihrem Dahinsiechen und Sterben zeigen sie uns unsere eigene Not, machen sie uns deutlich, daß wir vom rechten Weg abgekommen und im Begriff sind, die Natur insgesamt zu vernichten und damit unser Ziel zu verfehlen. Bäume sind nicht irgend eine unter vielen Arten der Pflanzenwelt. Sie haben die Existenzgrundlagen für uns Menschen geschaffen. Sie waren in ersten Formen vermutlich schon vor rund 400 Millionen Jahren da – lange vor den Sauriern. Was sind schon, gemessen an diesen unvorstellbar langen Zeiträumen, die letzten vier oder fünf Millionen Jahre, in denen es Geschöpfe gibt, die man zunächst als menschenähnliche Wesen, dann als Menschen bezeichnen kann? Wie winzig, wie vergänglich ist die Menschheit, verglichen mit dem Baum?
Viele Baumarten sind untergegangen. Wir plündern ihre Fossilien: Kohle, Erdöl – und haben es in nur wenigen Jahrzehnten schon beinahe geschafft, diesen kostbaren Reichtum unserer Erde auszuplündern, obwohl wir sehr genau wissen, daß er nicht wieder neu zusammengetragen werden kann. Nie wieder. Wir verbrennen das Wertvollste, was unsere Erde besitzt, als wäre es Gerümpel, etwas, das sonst zu nichts nütze ist. Wer wird unseren Enkeln erklären, was Kohle und Erdöl gewesen sind? Wer könnte ihnen einsichtig machen, daß wir ihnen nichts davon übrig gelassen haben?
Wir Menschen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend können Bäumen begegnen, lebendigen Bäumen, die zur Zeit Christi schon zweitausend Jahre alt waren. Sie blühten schon und trugen Früchte, als die Pyramiden in Ägypten gebaut wurden. Sie sahen mehr als einhundertfünfzig Menschengenerationen kommen und gehen. Sie haben alles verkraftet: Stürme, Katastrophen, Kriege, Seuchen, Winterfrost und glühende Hitze.
Doch jetzt scheint ihr Ende gekommen – nicht weil sie zu alt wären, um noch weiterzuleben, sondern weil sie die Giftstoffe, die wir in die Luft blasen und in das Wasser schütten, nicht mehr aushalten. Die viertausendsechshundert Jahre alten Borstenkiefern (Pinus aristata), die in der kalifornischen...