1.
Bilder bewegen unsere Seele
Die emotionale Wucht von Bildern
Bilder haben mehr Wucht und eine größere Kraft als Worte. Sie können Seelen tief berühren und Emotionen bewegen wie wenig sonst. Die Fotos leidender Kindergesichter aus den Kriegs- und Krisengebieten, sei es Vietnam, Biafra oder Irak können wir nicht vergessen. Und als 2001 die Bilder der von Flugzeugen zerstörten Twin Towers in New York um die Welt gingen und in endlosen Schleifen im Fernsehen wiederholt wurden, haben sie die Menschen auf dem ganzen Globus aufgewühlt. Ähnlich die Bilder vom Erdbeben und Tsunami, die zehn Jahre später weite Landstriche Japans verwüsteten: Verstörende Bilder von Gewalt, Zerstörung und Ohnmacht, die sich tief eingeprägt haben. Aber auch positive Bilder gibt es, die sich im kollektiven Gedächtnis festgesetzt haben: die erste Mondlandung eines Astronauten etwa. Auch das war mit starken Emotionen verbunden, weil uns der Blick vom Nachbartrabanten die einzigartige Kostbarkeit des blauen Heimatplaneten Erde im Kosmos vor Augen geführt hat.
Auch Worte können emotional etwas bewegen, wenn sie nicht nur rational argumentieren, sondern Bilder hervorrufen. Martin Luther King hat mit seiner berühmten Rede vor dem Lincoln Memorial in Washington gegen die Rassentrennung – »Ich habe einen Traum« – in den USA mehr Eindruck gemacht als manche mit viel Sachverstand ausgearbeiteten Regierungsprogramme. Sein Bild vom Traum einer brüderlichen Gesellschaft hat die Massen bewegt, die Seelen verändert und einen Umkehrprozess bei Weißen und Schwarzen ausgelöst.
Bilder sprechen archetypische Muster in der menschlichen Seele an und entfalten auch ihre Wirkung. Bilder bewegen, sie sind voller Emotionen und rufen Emotionen hervor. Emotion kommt von emovere, was ›herausbewegen‹ bedeutet. Die Emotionen bringen Bewegungen in der Gesellschaft in Gang. Aber auch beim einzelnen Menschen wirken sie. Und sie bestimmen unser Leben oft mehr als uns bewusst ist.
Eine allgegenwärtige Bilderflut
Noch niemals sind auch im Alltag so viele Bilder auf uns eingeströmt wie heute. Das Fernsehen überflutet uns auf allen Kanälen mit optischen Reizen. In öffentlichen Räumen, in den Städten, auf Bahnhöfen, in Sportstadien, in Wartesälen, überall springen uns die Bilder der Werbung an, die Markenbilder mit Konsumartikeln verbinden, bestimmte Moden oder Schönheitsideale propagieren, oder ein bestimmtes Image mit Waren suggerieren. Alle konkurrieren sie um die Aufmerksamkeit der Konsumenten. Immer raffinierter und ausgefeilter werden die Versuche, dieses kostbare Gut Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen, um den Kaufimpuls zu ermöglichen. Das nimmt mit dem Internet noch einmal eine neue Dimension an. All diese Bilder wirken auf uns ein. Wir können uns ihnen kaum entziehen. Manchmal zieht uns ein Bild auch richtiggehend in seinen Bann. Wir können die Augen kaum abwenden. Immer wieder müssen wir hinschauen. Da sind Bilder, die uns auf Werbeanzeigen am Bahnhof ansprechen und unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir wissen oft nicht, warum wir von dem Bild nicht loskommen. Offensichtlich spricht es etwas in uns an, was uns fasziniert. Psychologen haben sich Gedanken gemacht über die Wirkung dieser »geheimen Verführer«, die tiefere Schichten unserer Seele ansprechen, die oft zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten liegen. Die so angestoßenen Emotionen bewegen uns. Wir reagieren auf die Bilder, entweder seelisch oder indem wir etwas tun, das heißt: uns vom Bild in die Handlung drängen lassen. Der Verstand wird dabei manchmal ausgeschaltet. Bilder nehmen uns also in Beschlag. Bilder beherrschen uns oft. Wir können uns mit dem Verstand gar nicht dagegen wehren.
Es gibt Bilder, die alle ansprechen. Sie treffen die Sehnsucht vieler Menschen. Oder aber sie berühren die Ängste, die viele einschnüren. Die Bilder bringen diese Angst zum Ausdruck und geben so möglicherweise den Menschen die Möglichkeit, ihrer Angst die Macht zu nehmen. Indem die Angst zum Ausdruck kommt, kann sie sich wandeln. Andere Bilder bewegen uns, weil sie uns ein Leid vor Augen halten, das uns nicht kalt lässt. Schreiende Menschen, die den Tod eines lieben Menschen betrauern, das entstellte Gesicht einer Frau, die von ihrem Mann verstümmelt worden ist, abgemagerte Kinder, solche Bilder rühren uns an und bringen uns in Berührung mit unserer Fähigkeit, mitzuleiden. Sie lassen uns teilhaben am Schicksal anderer Menschen. Sie reißen uns aus unserer Isolierung heraus und bringen uns in inneren Kontakt mit anderen Menschen. Sie bewegen unsere Emotionen. Dabei sind sie keine Informationen über bestimmte Fakten. Sie zeigen uns das Leid, machen die Angst, die Sehnsucht, die Freude, den Jubel konkret und anschaulich in einem menschlichen Gesicht. Durch diese Bilder spüren wir die Emotionen, die in uns sind, die wir aber oft unterdrücken. Und die Bilder sprechen die inneren Bilder an, die wir in uns tragen. Jeder von uns trägt in sich das Bild eines hilfsbedürftigen Kindes, das Bild eines guten Vaters, das Bild einer liebenden Mutter. Indem wir solche Bilder anschauen, regt sich das innere Bild in uns. Und mit dem inneren Bild kommen wir in Berührung mit den Möglichkeiten, die in unserer Seele bereit liegen.
Äußere Bilder – innere Bilder
Doch wenn es zu viele Bilder sind, die auf uns einströmen, überlagern sie die inneren Bilder, die wir in uns tragen. Sie verwirren uns, sie zerreißen uns, sie zerstreuen uns. Die Medien zielen mit ihrer Bilderflut auf das Herz des Menschen. Sie wollen sein Denken und Fühlen bestimmen. Sie wollen ihn in eine ganz bestimmte Richtung weisen. Boulevard-Medien wissen etwa um die Kraft der Bilder und setzen sie nicht nur ein, um Menschen zu beeinflussen, sondern auch, um wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Wenn der Mensch zu viele Bilder auf sich einströmen lässt, hat das allerdings Konsequenzen: Er verliert oft die Beziehung zu seinen eigenen inneren Bildern. Mit der überwältigenden Vielzahl der Eindrücke kann er sich gar nicht auseinander setzen. Er vermag auch nicht, diese Bilder in sich einzubilden. Sie ziehen an ihm vorüber. Einerseits halten sie ihn innerlich besetzt. Aber zugleich hindern sie ihn daran, mit seiner eigenen Tiefe in Berührung zu kommen, in der seine inneren Bilder liegen. Die Werbepsychologen rechnen damit, dass schon ein nur kurz gezeigtes Bild das Unbewusste des Menschen prägt und ihn zum Kauf anregt. Die vielen Bilder manipulieren daher den Menschen. Sie sind keine Hilfe mehr, sich seiner eigenen inneren Bilder bewusst zu werden. Seine Seele wird vielmehr durcheinander gewühlt, ohne dass er diese durchwühlte Welt seiner Seele anschauen und bearbeiten kann. Je mehr Bilder in ihn einströmen, desto mehr halten sie ihn davon ab, in den ruhigen Grund seiner Seele zu gelangen. Er bleibt in den stürmischen Wellen des Meeres stehen und wird von ihnen hin- und hergerissen.
Die äußeren Bilder bringen uns in Berührung mit den inneren Bildern. C. G. Jung ist davon überzeugt, dass jeder in sich solche inneren Bilder trägt. Es sind Bilder, die sich nicht nur durch die Erlebnisse unserer Lebensgeschichte in uns eingeprägt haben. In ihnen haben sich auch die Erfahrungen von Jahrhunderten menschlicher Geschichte verdichtet. Ein wichtiger Weg der Therapie besteht für den analytischen Therapeuten Jung darin, mit diesen inneren Bildern in Berührung zu kommen. Allerdings sind das nicht immer nur heilende Bilder, sondern auch Bilder des Unheils, nicht nur Bilder des Gelingens, sondern auch Bilder des Misslingens. Von diesen inneren Bildern hängt es gleichwohl ab, wie wir unser Leben erfahren und ob es uns gelingen oder misslingen wird.
Das Doppelgesicht der Bilder
In Gesprächen mit anderen Menschen erlebe ich immer wieder, wie es letztlich Bilder sind, die ihre Stimmung und ihr Lebensgefühl prägen. Dem einen geht es schlecht, weil er negative Bilder in sich trägt, die er nicht erkennt oder nicht loswird. Der andere jammert, obwohl seine Situation objektiv gesehen gar nicht so beklagenswert ist. Die Ursache seines Jammerns: Die überhöhten Bilder, die er sich von sich und von seinem Leben gemacht hat, sind nicht verwirklicht worden. Sein Leben ist anders als die Bilder, die er in sich trägt oder die er sich von andern aufdrücken ließ. Es entspricht nicht den Idealbildern, die die Medien von einem gelingenden Leben zeichnen und ihm vorhalten. In der Begleitung vieler Menschen ist mir klar geworden: Von den Bildern, die ich in mir trage, hängt es ab, wie es mir geht, ob ich Lust habe, zu leben, etwas anzupacken, mich zu engagieren oder aber ob ich nur herumhänge, lustlos, antriebslos und kraftlos.
Die christliche Tradition hat die Menschen stets mit heilenden Bildern, aber auch mit krankmachenden Bildern umgeben, etwa mit dem Bild des kontrollierenden Gottes. Doch wenn wir in den alten Kirchen auf die Bilder und Statuen schauen, sehen wir heilende Bilder. Wenn wir sie anschauen, wirken sie beruhigend, befreiend und heilend auf uns. Und die Bibel ist voll von heilenden Bildern. Die griechische Mystik war immer eine Mystik des Schauens. Die Christen in der frühen Kirche schauten auf die Bilder, die ihnen die Bibel anbot, und auf die Bilder, die sie in der Natur erblickten, und auf die Bilder, die christliche Kunst ihnen darbot. Es ist eine wichtige Aufgabe und mir ein Anliegen, diesen Weg wieder aufzuzeigen und die heilenden Bilder der christlichen Tradition wieder neu in den Blick zu nehmen. Wir haben hier einen Schatz, an...