Wie ich mich auf den Weg mache
Luise Reddemann
Als ich sehr jung war, galt mir ein Satz des jungen Goethe: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« als Richtschnur, und ich dachte nicht darüber nach, was das wohl für ein Mensch ist, der (nur) gut, edel und hilfreich ist. Ich fand den Satz einfach richtig, danach wollte ich streben! Dialektisches Denken war mir damals unbekannt.
Später, als ich begann, mich für Psychoanalyse zu interessieren, lernte ich, dass dieser Satz mit etwas zu tun hat, das Freud das »Über-Ich« nennt. Mit diesem Über-Ich kommt man nicht auf die Welt, man lernt durch die Umgebung, vor allem die Eltern, Gebote und Verbote, man lernt, was die Eltern wollen und was sie nicht wollen. In unserer Kultur lernen die meisten Kinder, dass die Eltern sie lieben, wenn sie »gut« oder brav sind, und dass es mit der Liebe hapert, wenn das Kind »böse« ist. Selbstverständlich hat das Über-Ich auch wichtige unterstützende und Halt gebende Funktionen, so wie gute Eltern diese auch ausüben.
Seit einiger Zeit gibt es einen berührenden Dokumentarfilm, der schlicht »Babys« heißt. Hier sieht man vier Babys aus vier Ländern von der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, wo die Babys laufen können. Wenige Filme haben mich in letzter Zeit so stark berührt und bewegt.
Die Filmemacher haben die Babys einfach begleitet und gefilmt, im Film wird nichts kommentiert. Man sieht ein Baby aus San Francisco, eines aus Tokio, eines aus der Mongolei und eines aus Namibia. Alle Kinder haben zweifellos wohlmeinende und liebende Eltern und doch sind die Unterschiede für mich erschütternd. Vor allem das Kind aus Namibia ist in ständiger Nähe der Mutter, anderer Frauen und von Kindern, man sieht es so gut wie nie allein, aber dennoch entdeckt es seine kleine Welt selbständig, ohne dass sich viel eingemischt wird. Es ist geborgen und geschützt und erkundet aus diesem Halt heraus neugierig seine Umgebung. Dass Babys kleine Entdecker und Welteroberer sind und dass sie dafür nicht viel mehr als einen bergenden Rückhalt brauchen, vermittelt sich mir bei dem namibischen Baby am meisten. Furchtlos begibt es sich in Situationen, die jede deutsche Mutter aufschreien ließen. Die namibische Mutter ist immer verfügbar, sie ist zärtlich und sie lässt das Kind seine Entdeckungen machen, ohne sich einzumischen. So wird das Baby von einem Riesenhund liebevoll geleckt, und es scheint von der Zunge des Hundes so fasziniert zu sein, dass es beginnt, dessen Zunge zu lecken. Eine für unsereins unglaubliche Szene. Eine nahezu paradiesische Welt also. Ähnlich geht es dem mongolischen Baby, das allerdings manchmal etwas raue Erfahrungen mit einem vermutlich eifersüchtigen älteren Geschwister macht. Hier sieht man, wie das Baby eins ist mit der Natur. Es bewegt sich völlig selbstverständlich zwischen Kühen und anderen Tieren, die viel größer sind als es selbst.
Diese beiden Babys scheinen sich mit sehr wenig Einmischungen der Eltern zu entwickeln. Ganz anders das japanische und das amerikanische Baby. Hier scheinen die Eltern ständig aktiv dabei zu sein, die Babys anzuregen, damit sie sich »richtig« entwickeln – das ist meine Interpretation. Jedenfalls scheinen die Babys erheblich mehr elterlichen Beeinflussungen ausgesetzt und ich frage mich, ob sie überhaupt noch spüren dürfen, was sie selber wollen.
Was geschieht, wenn das Kind nicht will? Rasch wird das Kind als böse bezeichnet. Das japanische Baby zeigt auch, was durch die frühe Leistungsorientierung mit ihm geschieht: Wenn ihm etwas nicht gelingt, wird es verzweifelt wütend, es schreit und schlägt um sich. Das heißt, die ständige Einmischung macht das Kind unsicher, es vertraut sich nicht mehr selbst. Auch wenn im Film – natürlich – alle Babys laufen lernen und stolz und glücklich darüber erscheinen, blieb bei mir doch Trauer nach diesem Film darüber, dass in unserer leistungsorientierten Kultur – die in Japan wohl noch gesteigert ist – Kinder nur sehr schwer ihr Eigenes entdecken können.
Mit fortschreitender Erziehung weiß das Kind, was es soll und was es nicht darf, aber es weiß vielleicht nicht mehr, was es eigentlich will. Wenn wir als Kinder wissen, was wir sollen und was wir nicht dürfen, aber nicht mehr spüren können, was wir eigentlich wollen, entsteht eine Art »Loch im Selbst«, eine depressive Leere. Diese Leere kann man mit allerlei füllen, vielleicht mit Süßigkeiten, aber vielleicht auch mit klugen Sprüchen, mit denen man versucht, es denen, die man ja liebt und auf die man angewiesen ist, Recht zu machen. In diesem Sinn passte dann der Goethespruch zu mir als eine Art beruhigende Herausforderung. (Übrigens hat diese Art von depressiver Leere nichts mit der Leere zu tun, von der im Buddhismus die Rede ist.)
Heute sehe ich in dem Goethewort allenfalls so etwas wie eine Orientierung. Ja, es kann sinnvoll sein, danach zu streben, ein guter Mensch zu werden, und ein hilfreicher allemal. Und was heißt »edel«? Das ist inzwischen ein uns eher fremder Begriff, er scheint mit dem Schönen, Wahren und Guten zu tun zu haben.
Und doch: Wir sind nicht immer gut, wir sind nicht immer hilfsbereit und wir sind nicht immer nur am Schönen, Wahren und Guten interessiert. Vor allem sind wir viel mehr als edel, gut und hilfreich. Wir sind auch wütend, wir fühlen uns ohnmächtig, wir lernen zu hassen, wir schämen uns, wir haben Angst. Goethe, der diesen Satz im Sinn der Aufklärung formuliert haben dürfte, hat natürlich formuliert, wie wir sein sollten, nicht wie wir sind.
Müssen wir uns dafür ablehnen, vielleicht sogar hassen, dass wir das, was wir sein sollten – oder auch sein möchten – nicht erreichen?
Ein Kind, das in Wut gerät, weil es etwas nicht kann, was von ihm gefordert wird, zieht eigentlich eine Grenze, denn Wut bedeutet Grenzziehung. Leider hilft ihm diese Grenzziehung nicht, weil es sich genau genommen ohnmächtig fühlt. Wenn ich mich ohnmächtig fühle, hilft es mir nicht, mich dagegen abgrenzen zu wollen, sondern ich sollte dieses sehr unangenehme Gefühl aushalten können. Ich sollte in der Lage sein, mich als nicht immer machtvoll annehmen zu können. Ein Kind kann das, wenn es sich geliebt fühlt. Wir als Erwachsene können das, wenn wir uns von uns selbst geliebt fühlen können.
Strenge Maximen von der Art des Goethespruchs können uns daran hindern, uns anzunehmen, statt dass sie uns dabei helfen, uns zu mögen. Wir können solche Maximen allerdings auch im Sinn einer Orientierungshilfe begreifen, wissend, dass wir das Ziel niemals ganz erreichen, eben weil wir nicht vollkommen sind.
Einen anderen Ausweg sehe ich darin, dass wir aufhören, »heilig« sein zu wollen und anstreben, ganze Menschen zu werden, die auch gerne edel, hilfreich und gut wären und denen das manchmal gelingt und manchmal nicht. Ein ganzer Mensch, was ist das? Oder, anders ausgedrückt, wie stellen Sie sich vor, ein ganzer Mensch zu sein?
Innehalten:
Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und fragen Sie sich, was Ihre Vorstellung eines »ganzen Menschen« ist. Was gehört Ihrer Meinung nach unabdingbar zu einem Menschen?
Kennen Sie Menschen, von denen Sie spontan sagen würden, ja, das ist ein ganzer Mensch?
Die Dichterin Rose Ausländer hat einmal gesagt: »Mit euch allen feiern/ das unverlässliche Leben.« Es geht mir auch ums Feiern dessen, ums Dankbarsein für das, was uns geschenkt ist und als Erwachsene sollten wir daneben akzeptieren lernen, dass das Leben nicht immer so verlässlich ist, wie wir es uns wünschen.
Die »Unverlässlichkeit« des Lebens lässt sich leichter ertragen, wenn man als Kind bedingungslose Verlässlichkeit der wichtigsten Bezugspersonen erfahren hat.
Jedoch, wie auch immer unsere Erfahrungen in der Kindheit waren, als Erwachsene haben wir die Chance, mit uns so zärtlich und liebevoll umzugehen, dass wir uns zumindest immer wieder für Momente mit uns selbst »zu Hause« fühlen. Ist man es nicht, hält man es »bei sich zu Hause« schlecht aus. Das führt bei nicht wenigen zu Ängsten und Depressionen. Es geht um die bedingungslose Akzeptanz von uns selbst, um das, was wir uns so oft von anderen wünschen. Für mich ist es immer wieder ein kleines Wunder, dass Menschen fähig sind, – selbst wenn sie Schlimmstes durchgemacht haben – sich mit sich selbst so zu befreunden, dass sie auch das unverlässliche Leben feiern können. Dabei kann einem psychologisches Wissen helfen, weil es dazu befähigt, sich – und andere – zu verstehen. Wenn ich mich verstehe, fällt es mir leichter, mich mit mir selbst zu befreunden. Und dann kann ich Wege finden, ein »ganzer Mensch« zu sein und Verantwortung für mich selbst übernehmen.
Heute frage ich lieber, ob Mensch sein vielleicht auch bedeutet, einen »heiligen Raum« zu betreten. Ist es nicht ein Geschenk, ein Mensch sein zu dürfen?
Vor Jahren gab es den Film »Stadt der Engel«, den ich sehr gerne mit meinen Patientinnen und Patienten angeschaut habe. Was hat uns da beeindruckt? Ein Engel will Mensch werden, weil er nicht fühlen und spüren kann, was es bedeutet, eine Birne zu essen, nicht die Freude erleben kann, die man empfindet, wenn einen das warme Wasser beim Duschen einhüllt, nicht die Freuden eines Kusses erfahren kann. Auf all dies ist der Engel neugierig. Als ich den Film zum ersten Mal sah, war ich besonders davon beeindruckt, dass es genau genommen um Alltägliches geht, das die meisten von uns im Allgemeinen gar nicht besonders wertschätzen. Wir finden es »normal«, dass wir fühlen, dass wir schmecken, dass uns etwas Freude macht. Was soll daran schon Besonderes sein?...