Der erste Glaubensartikel und Martin Luthers Erläuterung
Ich glaube an Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
den Schöpfer des Himmels und der Erde.
(Apostolisches Glaubensbekenntnis,
2.–4. Jahrhundert nach Christus, Erster Artikel)
Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen,
mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder,
Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält;
dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken,
Haus und Hof, Weib und Kind,
Acker, Vieh und alle Güter;
mit allem, was not tut für Leib und Leben,
mich reichlich und täglich versorgt,
in allen Gefahren beschirmt
und vor allem Übel behütet und bewahrt;
und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit,
ohn all mein Verdienst und Würdigkeit:
für all das ich ihm zu danken und zu loben
und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.
Das ist gewisslich wahr.
(Martin Luther, Kleiner Katechismus, Erklärung zum Ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses, 1529)
Staunen
Wer sich zu Gott bekennt, hat dabei vor allem im Sinn, dass Gott die Welt geschaffen hat. Die Hebräische Bibel, das Alte Testament der Christen, beginnt deshalb mit Erzählungen über die Schöpfung. Und das Glaubensbekenntnis, in dem die frühe Christenheit ihre wichtigsten Überzeugungen zusammengefasst hat, beginnt mit Gott dem Schöpfer. Das Bekenntnis zu Jesus Christus als Gottes Sohn und zum Heiligen Geist schließt sich in den beiden folgenden Artikeln des Glaubensbekenntnisses an. Zuallererst aber ist von Gott dem Schöpfer die Rede.
Die beiden Kapitel über die Schöpfung stehen nicht deshalb am Anfang der Bibel, weil es sich dabei um deren früheste Texte handelt. Das ist keineswegs der Fall. Sie stehen am Anfang, weil sie von grundlegender Bedeutung für das Verstehen der Welt und des Lebens sind. Ähnlich grundlegende Fragen kommen im Anschluss daran zur Sprache: wie das Böse in die Welt kam, warum Menschen mit Gewalt aufeinander losgehen, warum die Menschenwelt trotz ihrer Bosheit gerettet wird und warum es so viel Verwirrung unter den Menschen gibt. Doch all diesen Fragen, die es mit menschlichen Irrwegen zu tun haben, wird vorangestellt, was gut ist: Gottes Schöpfung.
Das lässt sich nachvollziehen. Die Dankbarkeit für das Leben überkommt jeden Menschen, der ein neu geborenes Kind in den Armen hält. In den Augen dieses Kindes liegt eine offene Zukunft; Unschuld leuchtet uns aus diesen Augen entgegen. Das Staunen über das Wunder des Lebens verdient einen absoluten Vorrang vor allem Grübeln über drohende Gefahren, misslingende Pläne oder fehlgeleitete Schritte.
Was wir beim Anblick eines neu geborenen Kindes erleben, wiederholt sich, wenn wir die Schöpfung in ihrer Vielfalt wahrnehmen. Kinder lieben es, einen Zoo zu besuchen. Sie begegnen der Vielfalt der Tiere. Sie entdecken im Garten oder in Wald und Feld die Unterschiedlichkeit der Blumen. Sie bauen am Strand Burgen und Kanäle; sie bewundern das Wasser, das durch ihre selbst gebauten Gräben fließt, und freuen sich an den Muscheln, die sie finden. Wenn sie wandern können und die Strapazen eines Aufstiegs hinter sich gebracht haben, staunen sie über die Weite der Bergwelt.
So, wie sich während der Wanderung immer wieder ein neues Panorama erschließt, so geraten wir ein Leben lang von einem Staunen ins nächste. Die Überraschung wächst, wenn wir über das hinauskommen, was wir mit bloßem Auge sehen können. Das Mikroskop zeigt uns das Wunder des Lebens in kleinsten Molekülen. Das Teleskop öffnet uns den Blick ins Weltall. Unsere Ehrfurcht wird noch größer, wenn wir erkennen, dass die Erde, auf der wir leben, gemessen an der Größe des Weltalls eher einem Staubkorn gleicht. Davon, dass wir im Zentrum der Welt zu Hause wären, kann keine Rede sein. Dass die Erde sich um die Sonne dreht, bedeutet noch lange nicht, dass diese den Mittelpunkt der Welt bildet; denn es gibt viele Sonnen.
Das Staunen ist das Erste. Die Dankbarkeit für die Wunder der Schöpfung wird nicht dadurch eingeschränkt, dass die moderne Wissenschaft uns Naturgeheimnisse erschließt, die früher als unbegreiflich galten. Dass wir mit unserem eigenen Leben Teil der Schöpfung sind, lässt uns noch mehr staunen. Irgendwann stellen alle die Frage, warum sie denn überhaupt in der Welt sind. Wie leicht hätte es geschehen können, dass ich gar nicht geboren wäre. Da ich selbst der jüngste von fünf Brüdern bin, habe ich manchmal vermutet, dass der Wunsch nach einer Tochter mir zum Leben verholfen hat. Und wenn dieser Wunsch nach der Geburt von vier Söhnen erloschen wäre?
Das dankbare Staunen über die Wunder der Schöpfung wie über unser eigenes Leben ist der Anfang des Gottvertrauens. Angesichts der Majestät der Schöpfung bekennen wir uns zur Majestät Gottes. Weil wir ihm das All verdanken, in dem wir leben und uns bewegen, nennen wir ihn allmächtig. Damit ist nicht eine willkürliche Allmacht gemeint, die man jeweils für die eigenen Ziele einsetzen kann. Gemeint ist, dass das Ganze der Welt, in der wir leben, von der Wirklichkeit Gottes umfangen und durchdrungen wird.
Ein mittelalterlicher Theologe, Anselm von Canterbury, hat daraus einen bedenkenswerten Begriff Gottes abgeleitet: Gott ist das, dem gegenüber man nichts Größeres denken kann. Anselm dachte, diese kluge Formulierung sei ein Gottesbeweis. Mit den Mitteln des Denkens lässt sich die Existenz Gottes jedoch nicht beweisen. In dieser Hinsicht folgt das Denken dem Glauben nach. Wir versuchen zu verstehen, was wir im Glauben ergriffen haben; aber wir können den Glauben nicht mit dem Denken überholen. Oder anders gesagt: Das Staunen geht dem Verstehen voraus.
Dennoch hatte Anselm recht: Wenn wir Gott denken, verstehen wir ihn als die alles andere übersteigende Wirklichkeit. Gott ist das, dem gegenüber man nichts Größeres denken kann.
Beziehungen
Das Staunen über die Schöpfung und unser Leben in ihrer Mitte gibt unserem Gottvertrauen eine innere Gewissheit. Der Schöpfungsglaube verhilft der Dankbarkeit zur Sprache. Er dankt für das Leben, das mir geschenkt ist, und für die Welt, in der ich leben darf. In dieser Dankbarkeit nimmt das Vertrauen, dass Gott es mit mir selbst und mit der Welt gut meint, konkrete Gestalt an. Das eigene Leben und die Welt aus der Perspektive der Güte zu betrachten, die Gott in sie legt und die er bewahren will, ist der Sinn des Schöpfungsglaubens.
Von der Schöpfung wird deshalb zuallererst im Ton des Lobpreises gesprochen. »Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen« (Psalm 8,1 und 10) – dieser Ausruf rahmt einen der wichtigsten Schöpfungspsalmen der Bibel. Der Reformator Martin Luther nimmt zu Beginn des 16. Jahrhunderts diesen Ton in seiner Erläuterung zum Ersten Glaubensartikel eindringlich auf. Dass mir das Leben und alles, was ich zum Leben brauche, gegeben ist – dies bildet den Grund für den Schöpfungsdank. Luther bezieht nicht nur das kreatürliche Leben in diesen Dank ein. Dankbar bin ich nicht nur für das nackte Leben. Dazu zählt auch alles, was ich zum Leben brauche und habe: »Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter«.
Diese Aufzählung ist am bäuerlichen Leben orientiert. Es fällt aber nicht schwer, sie auf heutige Verhältnisse zu übertragen: »Kleidung und Nahrung, Wohnung und Gesundheit, Bildung und Arbeit, Familie und Freunde, Geld für das tägliche Leben und den Urlaub, Freiheit von Angst und Not«. So könnte eine Liste dieser Schöpfungsgüter heute heißen. Mancher würde andere Gegenstände hinzufügen, die ihm besonders wichtig sind: Handy, Computer, Fernseher und Auto würden bei vielen auf einem der vordersten Plätze stehen.
Jedenfalls wissen wir heute wie zu Luthers Zeiten, dass menschliches Leben nur in einem Geflecht natürlicher und kultureller Bedingungen gelingen kann. Wir leben in Beziehungen; im Tod sind wir beziehungslos.
Der Zusammenhalt in der Familie, zwischen Freunden und in einer verlässlichen Nachbarschaft erweist sich immer wieder als unentbehrlich. Denn wir Menschen sind Beziehungswesen. Unter der Vorherrschaft einer egoistischen Lebensorientierung trat das in den Hintergrund. Doch das bloße Kreisen um sich selbst ist schöpfungswidrig. Schon die biblischen Schöpfungserzählungen bringen das klar auf den Begriff. Von uns Menschen sagen sie, wir seien zum Ebenbild Gottes geschaffen. In der Umwelt der Bibel erkannte man nur die Könige als Ebenbilder Gottes an; wer jedoch Gott als den Schöpfer ehrt, sieht in allen Menschen Gott entsprechende Lebewesen.
Wir alle können auf die Anrede Gottes antworten – wir können verantwortlich leben. Von uns Menschen sagt die Bibel ferner, wir seien als Männer und Frauen geschaffen. Der Beziehung zu Gott tritt die Beziehung zu unseren Mitmenschen zur Seite; grundlegend ist dafür die Beziehung zwischen Mann und Frau. Schließlich erinnert die Bibel an den Auftrag, die Welt zu verstehen und zu gestalten.
In der Beziehung zu Gott, zu unseren Mitmenschen und zu der Welt, in der wir leben, bauen wir zugleich eine Beziehung zu uns selbst auf. Wir bestimmen unseren Ort in der Welt, die uns umgibt. Dafür benutzen wir die Sprache, die den Menschen auch von seinen nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet. Wir schaffen eine Kultur, mit deren Hilfe wir in...