Húh!
Im Sommer 2016 gehe ich viel spazieren, viel mehr als sonst. Die Berliner Straßen sind leer, die Stadt gehört mir. Ich nehme seltener die U-Bahn und laufe stattdessen vorbei an jubelnden Fans, die in Cafés und Kneipen oder auf öffentlichen Plätzen sitzen. Es ist Europameisterschaft und Deutschland immer noch benebelt vom Erfolg in Brasilien. Weltmeister und Europameister. Alles scheint möglich.
Ein schöner Sommer ist das, dankbar. Schlafen mit geöffneten Fenstern, das Licht im Zimmer der Wohnung und der Duft von blühenden Pflanzen. Wirklich gut. Und ich habe so viel Freizeit, keine Verabredungen, kein Freibad, keinen Geschäftsquatsch. Wenn Fußball ist, dann fühlt sich dieses Land so wie die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr an. Erfrischend lahm. Nichts passiert. Außer Fußball.
Ich allerdings mag dieses Spiel nicht, konnte es noch nie leiden. Was die Menschen dabei finden, anderen Menschen dabei zuzusehen, wie sie einem Ball hinterherrennen, habe ich nie verstanden. Klar, Teamgeist, Gemeinschaft und Wettbewerb. Hat mich nur nie interessiert.
Aus sozialer Verpflichtung heraus habe ich allerdings oft versucht, mich einzufinden. Ich habe die Regeln gelernt, habe mir die richtigen Fragen zurechtgelegt. Bin mit ins Stadion, habe dumme Lieder gegrölt, habe ein Trikot angezogen und wollte Fan sein. Am Ende saß ich mit dem Handy auf dem Schoß da und habe »Angry Birds« gespielt. Entweder kann ich mich einfach nicht lang genug konzentrieren, um meinen Blick neunzig Minuten auf ein grünes Rechteck zu richten, oder dieser Sport gefällt mir einfach nicht. Bis zu diesem Sommer 2016.
Die Europameisterschaft lockt die Menschen fort, und ich höre das Feuerwerk, wenn ein Tor gefallen ist, sehe die fröhlichen Gesichter der Menschen, wenn Spiele gewonnen sind. Sehe die traurigen Schnuten derer, die auf die falsche Mannschaft gesetzt haben. Und dann passiert etwas Seltsames.
»Thilo, kommst du mit EM gucken?«, fragt mich mein Fußballfreund Adri.
»Was soll ich denn da? Wir haben das doch schon oft genug probiert«, entgegne ich genervt.
»Island spielt«, meint Adri. Er weiß, dass ich dieses Land schon oft bereist habe und sehr liebe. Er ködert mich.
»Island? Mein Island spielt Fußball?« Bis zu diesem Zeitpunkt ging ich davon aus, dass da gar nicht genug Menschen leben, um eine Nationalmannschaft zu stellen. Ich hatte das Gefühl, es gibt nicht einmal genug gerade Flächen in Island, Bälle würden immer herunterrollen, bis sie von der Kante dieses Landes ins Meer fallen. Island und Fußball gehörten für mich einfach nicht zusammen.
»Mein Lieblingsland spielt Fußball?«, frage ich.
»Sei nicht so arrogant und komm vorbei«, antwortet Adri. Das habe ich auch gemacht.
Ich liebe Island – nicht abstrakt, im Sinne des Wortes. Eine Frau, die hier in Berlin lebt, möchte gerne jene Mauer heiraten, die einst die Stadt geteilt hat. Es gibt den Typen, der in einen Zug verliebt ist, und ich glaube auch noch eine Frau, die feste Partnerschaften mit Flugzeugen führt. Und wäre Island eine Frau, wir wären zusammen. Wir wären sogar ein Superpaar, das ständig Händchen haltend in Multifunktionsjacken und mit feuchten Nasen frierend vor Clubs stünde. Doch dazu später mehr.
Zehn Jahre vor der Europameisterschaft, während der die Welt lernt, Island zu lieben, war ich zum ersten Mal in diesem Land. Als Fan von Jules Verne – wie oft reiste ich durch seine Bücher in achtzig Tagen um die Welt und zum Mittelpunkt der Erde – hatte ich mich schon lange mit dieser Insel beschäftigt. Warum es dann aber dauerte, bis ich fünfundzwanzig wurde, hatte einen einfachen Grund. Denselben Grund, warum Island ungefähr ein Jahrhundert lang vom globalen Tourismus verschont blieb. Island war, meiner persönlichen Statistik nach, das Land, in das alle fahren wollten, aber eigentlich niemand fuhr.
Ich war auch einer von denen, die immer gesagt haben: »Mensch, nach Island, da muss ich unbedingt mal hin.« Gefahren bin ich dann aber nie. Zu kalt, zu teuer, zu einsam. Dann lieber Sonne und Meer. Nach den großen Sommerferien ging zwar das Überlegen los: Wo geht es als Nächstes hin? Und dann fiel immer genau dieser Satz, im Ton der Feststellung ganz ähnlich, dass es ja mal wieder an der Zeit wäre, ins Fitnessstudio zu gehen.
Das ist heute anders. Heute haben alle Mitgliedskarten von Fitnessstudios und fahren wirklich nach Island. Aber was begeistert uns am Ende der Welt? Was fasziniert uns am ewigen Herbst dieses Landes und an der Abwesenheit von Leben? Warum wollen wir alle in dieses Land?
Weil Island ein Gefühl auslöst, weil es ein Gefühl ist. Sogar für die Menschen, die noch nie dort waren. Machen Sie den Test. Jetzt. Stellen Sie sich doch einfach mal Island vor. Was sehen Sie, wenn Sie die Augen schließen?
Sie sehen kleine Pferde, mit etwas doofen Gesichtern und stummeligen Beinen. Vielleicht sehen Sie auch Berge, schneebedeckt und schön. Davor kleine Städte mit roten Häusern und Menschen in Pullovern, die aussehen, als würden sie fürchterlich kratzen. Also die Pullover. Vielleicht sehen Sie blonde Haare, Frauen mit kräftigen Beinen und einem Krimi unter dem Arm. Männer, die Frisuren tragen, als wäre immer Winter. Platt und mit praktischen Zöpfen versehen. Sie stellen sich Island als ein schönes Land vor. Als eines, das Sie schon immer mal besuchen wollten.
Wieder 2016. Ich sitze in diesem Café und beiße auf meiner Unterlippe herum, als Island gegen Österreich spielt. Das erste Spiel der Europameisterschaft, das ich sehe. Und ich bin gespannt und tripple mit den Füßen, wenn der Stürmer Kolbeinn Sigþórsson aufs Tor stürmt und Tore macht. 2:1 gewinnen sie, und niemand hat damit gerechnet. Ich erkenne Verwunderung in den Gesichtern der Menschen um mich herum und freue mich sehr – für Island. Für dieses Land, dessen Bevölkerung nur 335 000 Einwohner zählt, dieses Land, das gerade mal so groß ist wie die ehemalige DDR. Für dieses wunderbare Land, in dem im Sommer die Sonne nicht unter- und im Winter nicht aufgehen will.
Island spielt gegen England. Ich kann mich kaum auf dem Stuhl halten. Ich springe auf, als Sigþórsson wieder punktet. »Gegen England! Gewonnen!«, rufe ich meinen Freunden zu. Und sie blicken mich erstaunt an. Sie fragen sich: Was ist das für ein Land, das einen Fußballhasser zu einem Fan macht? Ein richtiger Fan.
Ich überlege dann sogar, mir Blau-Rot-Weiß auf die Wange zu malen. Das geht mir dann doch zu weit, aber selbst ich weiß, dass ein Sieg gegen England sensationell ist.
Und nicht nur mich betrifft diese Begeisterung. Der Sportkommentator Guðmundur Benediktsson gerät so in Ekstase, dass sein Video von der Fußballsensation zum viralen Hit wird. Die Hauptnachrichten in Island werden im Trikot moderiert, das Land steht still für sein Team. Und Europa blickt auf die kleine Insel im Norden. Beobachtet ein Land, das sich zu den Spielen vor Leinwänden versammelt, in Reykjavík. Menschen, die mit Jacke und Schal, mitten im Sommer, zusehen, wie IHRE Mannschaft den europäischen Fußball aufmischt.
Der Underdog gegen einen Meisterspieler. Eine Mannschaft, deren Torwart ein Burnout hatte, der eigentlich Regisseur ist. Männer, die wie Olympioniken auch noch »echte« Jobs ausüben und gegen eine Mannschaft voller Millionäre spielen. Sie gewinnen, und Island ist in aller Munde.
Alle lieben Island, alle wollen nach Island. Alle sind für Island. Und diesmal meinen die Menschen es ernst. Auf Facebook trudeln Nachrichten in meinem Postfach ein. Viele wissen von meiner Liebe zu diesem Land. Sie fragen mich nach dem Wetter, wann sie fahren sollen, wo man schlafen kann.
Die Webseiten der großen Airlines WOW und Iceland Air brechen zusammen. Die Menschen buchen Tickets, wollen das Land sehen, das geschlossen hinter seinem Team steht. Auch als Island gegen Frankreich verliert. Die Begeisterung für dieses winzige Land bleibt, wächst sogar noch.
Das liegt aber nicht nur am Fußball, sondern auch an den Fans. Ein Zehntel der isländischen Bevölkerung ist nach Frankreich gereist und macht Lärm in den Stadien. Das HÚH! geht um die Welt und erklingt in jedem Stadion. Als wir im Fernsehen die Aufnahmen aus Reykjavík sehen, ist der gesamte Polarkreis beim Public Viewing. Wir sind begeistert. Auch ich. Da sind Menschen stolz auf ihr Land, ohne dass es peinlich ist. Eine Meisterleistung.
In den letzten zehn Jahren habe ich Island bestimmt zwanzigmal besucht, nie länger als vierzehn Tage, aber nie weniger als sieben. Manchmal fahre ich einmal im Jahr, manchmal fahre ich dreimal. Es ist magisch, es zieht mich an wie kein anderes Land in der Welt. Und meine Wünsche, die Gründe, warum ich fahre, sind bescheiden. Es sind nicht die mittelmäßigen Hotels, es sind nicht die unangenehmen Wetterumschwünge, die ewig kalten Füße. Es sind nicht die schlechtgelaunten Menschen. Und auch nicht die seltsamen Tiere oder die kaputte Landschaft. Ich selbst bin der Auslöser...